gestemmt. Die Frauen und älteren Jungen kehrten zurück vom Keglerheim. Die Krüge waren angefüllt mit gelbem Bier, das eine Schaumhaube hatte und kalten sauren Geruch. In den Radios hinter den offenen Fenstern sang die chilenische Nachtigall Rosita Serrano, mit harten Konsonanten, Roter Mohn, warum welkst du denn schon. Sein Vater ging die Straße hinunter. Die Frauen in den Fenstern sahen zu ihm hin, und wie der Junge glaubte, taten sie es voll Bewunderung. Der Junge hatte seine Kuchenrindeln gegessen. Er zerknüllte das leere Papier, warf es in den Rinnstein und stand auf.
Auch Kuchenrindeln konnten schon bald höchstens ausnahmsweise gekauft werden, als nämlich Backwaren bloß gegen Lebensmittelkarten abgegeben wurden und Kuchenrindeln zu den wenigen weiterhin markenfreien Waren gehörten. Herr Goerner wurde eingezogen. Zu seinem Abschied zeigte er sich noch einmal stolz, ein kleiner Mensch mit blankem Schädel und großem hässlichem dunkelbraunem Muttermal hinter dem rechten Ohr, angetan mit einer Panzergrenadier-Uniform. In seinem Laden wurden allmählich die Waren weniger. Der Betrieb musste jetzt von Frau Goerner geführt werden, die es auch schon vorher gegeben hatte, aber bloß manchmal und wenn besonders viel Kundschaft gewesen war. Frau Goerner, im Wuchs größer als ihr Mann, hatte unförmig dicke Fußknöchel, die bandagiert wurden, und knickte beim Gehen in der Hüfte deutlich ein.
Der Junge besuchte jetzt in der André-Schule die Klasse 2 b. Jeder Schüler musste ein Kriegstagebuch führen. Dazu war erforderlich, dass ein großformatiges Schulheft Seite für Seite mit den Abbildungen vom Kriegsgeschehen sowie mit handschriftlichen Vermerken der Ereignisse an den Fronten angefüllt würde. Die Abbildungen waren mit der Schere aus Zeitschriften oder Tageblättern herauszutrennen, Berliner Illustrirte Zeitung, Chemnitzer Neueste Nachrichten. Die Kriegstagebücher wurden von Klassenlehrer Klostermann in unregelmäßigen Abständen eingesammelt und zensiert.
An der Litfaßsäule beim Eingang der Andréstraße hingen Plakate mit der Zeichnung eines deutschen Soldaten, der vor einem Eisenbahnzug stand. Der Soldat lachte und wirkte heldisch. Der Zug war klein, wie nebensächlich, und die in grobe Fraktur gebrachte Aufschrift hieß Räder müssen rollen für den Sieg. Manchmal wurden zur Probe die Sirenen für den Fliegeralarm eingeschaltet.
Lehrer Klostermann trug schütteres rotblondes Haar, hatte ein ausgehungertes Gesicht, mit Sommersprossen, und artikulierte seine Sprechlaute weit hinten in der Gurgel. Er hasste es, wenn Schüler mitten in der Unterrichtsstunde sich meldeten, bloß um austreten zu dürfen. Er hielt dies für disziplinlos, unmännlich, er zog auch Vergleiche mit den Entbehrungen unserer tapferen deutschen Frontsoldaten, und um seinen Forderungen auf unbedingten Gehorsam sinnlichen Ausdruck zu verleihen, bewahrte er im Wandschrank des Klassenzimmers eine kleine Sammlung von Rohrstöcken, die er gelegentlich hervorholte, einen nach dem anderen, um sie vor den Augen der Klasse auf ihren Zustand zu überprüfen. Er befühlte sie, hob sie dann hoch und ließ sie durch die Luft fauchen.
Manche der Stöcke waren an den Spitzen ausgefranst. Andere zeigten sich noch völlig intakt. Ihre Farben waren blasses Gelb, bei vereinzelt apfelsinenfarbener Tönung. Schläge mit einem ausgefransten Stock galten als vergleichsweise wenig schmerzhaft. Einem der Prügel war eine kurze hellblaue Metallkuppe übergestülpt, deren Berührung besondere Pein verhieß. Lehrer Klostermann wies ihn stets zuletzt vor, mit dem Ausdruck triumphierenden Genusses im Gesicht. In der Klasse gab es zwei Sitzenbleiber, grobe Burschen, die übereinstimmend bekundeten, jeder Rohrstock breche sofort auseinander, ähnlich einem Strohhalm, wenn man ihn mehrfach mit der Innenseite einer aufgeschnittenen Zwiebel bestreiche. Sie lieferten für ihre Behauptung keinen tätigen Beweis. Sie redeten das vielleicht bloß so, um im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein. Jacob fühlte eine heimliche Bewunderung für ihr aufsässiges Benehmen.
Er teilte zugleich jenen Abscheu, der die lärmend von Lehrer Klostermann eingenommene Haltung gegen die beiden war und der seinen Ausdruck fand im häufigen Abstrafen mit einem der Rohrstöcke. Der Geschlagene schrie jedes Mal übertrieben laut. Hinterher, in den Pausen, rühmte er sich seiner Verstellungskunst. Es sei alles, sagte er, bloß eine List gewesen, die zu erleidende Tortur zu verkürzen. Manche aus der Klasse hielten das für feig.
Ganz bestimmt empfand so Dietzel-Wolfgang. Er war der kleinste Junge aus der Klasse. Er trug sein hellblondes Haar kurz geschoren, dass überall auf seinem Schädel rosige Haut sichtbar war. Mit schwärmerischer Inbrunst verehrte er die militärischen Leistungen deutscher U-Bootfahrer aus zwei Weltkriegen, worüber er Beschreibungen gleich in mehreren Büchern besaß. Die waren eingebunden in marineblaues Leinen, mit silbernen Buchstaben auf dem Deckel, und sie waren angefüllt auch mit Fotos in Schwarz und Weiß. Immer wieder zog Dietzel-Wolfgang eines der Bücher aus seinem Schulranzen, um es aufzuschlagen und anderen zu zeigen und stolz zu sein.
Einmal, mitten im Unterricht, trat Dietzel-Wolfgang plötzlich aus der Bank heraus und ging sonderbar steifen Schritts zum Katheder. Er redete leise mit Lehrer Klostermann. Dann verließ er das Zimmer. Es brauchte, um den Inhalt seiner Worte zu vermuten, kein Rätselraten, da er bei seinem Gang eine dünne Urinspur hinter sich ließ. Als er vor dem Katheder stand, rann es ihm hörbar aus dem linken Hosenbein, eine kleine Strecke den blanken Unterschenkel mit dem weißen Wollsöckchen herab, von der Mitte der Wade an direkt und schräg bis auf das Linoleum, wo es als eine dunkle Lache stand. Lehrer Klostermann war zufrieden. Jemand hatte sich so vollkommen unter sein Verbot geduckt, bis erkennbar der menschliche Organismus versagte und sich entlud. Vielleicht war Dietzel-Wolfgang sogar beschämt, da die Prügelstrafe, mit der er gewiss gerechnet hatte, nicht verabfolgt worden war.
5
Das Bankgebäude befand sich eingangs der Herrengasse. Nicht weit davon, auf dem Kohlmarkt, gab es das Geschäft des Hofkonditors Demel, in dessen Schaufenster Ronald Reagan und Michail Gorbatschow als beinahe lebensgroße Zuckerpuppen posierten und dessen Inhaber, wusste Kersting aus einer Zeitung, die er sich gekauft hatte, in Ostasien flüchtig war.
Er stand am Michaelerplatz, gegenüber jenem Hause, das 1909, als es Adolf Loos umzubauen begann, der Firma Goldman und Salatsch gehörte. Die Säulen mit ihren grauen Marmorverkleidungen existierten noch. Die oberen Stockwerke hatten ihren glatten weißen Verputz. Die Fenster ohne alle Umrahmung hatte der Kaiser Franz Josef augenbrauenlos genannt, eine hübsche Metapher, doch Franz Josef hatte sie als vernichtenden Tadel gemeint. Die Empörung, die damals ganz Wien erfasst hatte wegen des Loos-Entwurfs und die zu einer Unterbrechung des Baugeschehens im Jahre 1910 führen würde, war inzwischen unbegreiflich geworden. Die Tragödie des Adolf Loos bestand unter anderem darin, dass er sich ausdrücklich als Traditionalist begriff und den Wienern damals als im höchsten Maße modern und umstürzlerisch erschien. Er entwarf mehr, als er baute. Noch seine Entwürfe blieben häufig bloß Sprache, statt wenigstens Bauskizze oder Modell zu sein. Verständlich die ohnmächtige Feindschaft dieses Mannes zu dem beängstigend produktiven Josef Hoffmann, den Loos verächtlich überquellend nannte.
Kersting war gekommen, ein Ausländerkonto zu eröffnen, damit ihm die dafür zuständige österreichische Behörde sein Arbeitsstipendium überweisen konnte. Er stand in der Schalterhalle. Er sagte sein Anliegen. Er musste seinen Reisepass vorweisen. Die Frau hinter dem Schalter durchblätterte die hellblauen Seiten, als sehe sie so was zum ersten Mal. Vielleicht sah sie es zum ersten Mal. Ihr Gesicht zeigte den Ausdruck beflissener Feindseligkeit. Sie bat Kersting um etwas Geduld. Sie ging davon, in Händen Kerstings Reisepass mit dem Abbild des DDR-Staatswappens auf dem Deckel. Kersting hatte Gelegenheit, die anderen Kunden und das übrige Personal zu betrachten.
Die in der langen Schalterhalle aufgestellten Computer-Monitore wuschen, so schien es, mit ihren Strahlungen aus den Angestellten alle Natürlichkeit fort. Die junge Beamtin, die schräg gegenüber von Kersting stand, hatte die Aura einer Untoten. Sämtliche Unterhaltungen erfolgten halblaut. Niemand, der nicht gemeint war, konnte von dem Mitgeteilten etwas verstehen. Die geraunten Laute standen für Konten, Beträge, Anlagen, Zinsen, Kredite, und alle verhielten sich, als sei dies etwas Obszönes.
Die Gesichter der Kunden waren den Mündern der Bankangestellten gierig lauschend zugeneigt. Eine Welle der Lüsternheit lief über ihre Mienen wie ein Lichtstrahl. Kersting stand neben einer mageren alten Dame. Ihr Hals war schlaff. Ihre Hände waren knotig und zeigten Altersflecken. Den Kupon, gegen den an der Kasse die gewünschte Auszahlung erfolgen sollte, erfasste