Rolf Schneider

Marienbrücke


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In den Bergwerken waren schon seit dem zehnten Jahrhundert Eisenerze gefördert worden. Reichsunmittelbare Aristokraten namens Botho, Albrecht und Ferdinand Ernst hatten sie verhütten lassen, bis der Betrieb nicht mehr rentabel war.

      Schon im zweiten Jahr des durch Adolf Hitler begonnenen Weltkriegs wurde in ein paar dieser Schächte nahe Grotenweddingen auch der Förderbetrieb wieder aufgenommen. Ächzende Seilbahnen trugen das unverhüttete Erz über Biesenberg und Horstschanze bis zum Güterbahnhof, wo es krachend herabfiel in bereitgestellte Waggons. Die Seilbahn wurde durch eiserne Masten gestützt, in deren Gestängen zu klettern verboten war. Unter der Fahrstrecke drohte nach Auskünften der aufgestellten Warnschilder Steinschlag. Ungeachtet aller Warnungen und Verbote kletterten gerne Kinder in diese Masten hinein oder krochen, was gleichfalls untersagt war, in die verschütteten Einstiege von aufgelassenen Stollen.

      Auch Jacob ging gerne dorthin, für eine Weile. Einmal kletterte er in einen der Masten hinein. Mit blanken Knien hing er in den höchsten Verstrebungen und legte prüfend die rechte Hand auf die Metallrollen, über die das Stahlseil mit den Förderkörben lief. Er wartete, bis einer von den Körben heran war, sammelte Nasenschleim in seinem Rachen und spie aus gespitzten Lippen auf die rötlich-grauen Erzbrocken, die der deutschen Kriegswirtschaft entgegenschaukelten. Er hatte danach immer noch genügend Feuchtigkeit im Munde und spie abermals, jetzt bloß aufs Gezweig einer Lärche, wo das hängen blieb, ein glitzernder Klumpen, den sich die Eichelhäher pflücken würden. Anschließend kletterte er wieder herunter.

      Er stand vor einem Stolleneingang, der versperrt war mit zwei über Kreuz genagelten Brettern sowie einem Schild, das von drohendem Einsturz wusste. Jacob schob sich, wozu es wenig Mühe brauchte, unter den gekreuzten Brettern hindurch. Er fand sich wieder in einer Höhlung, die niedrig war und weiter ins Dunkel führte. Abgestützt war das seitlich mit Balken, auf denen als Abdeckung Bretter lagen, manche geborsten, womit sie Platz ließen für dürr und leichenblass herabhängende Wurzeln. Jacob kroch weiter. Er versuchte sich vorzustellen, wie früher Bergleute hier eingefahren waren, um Erz zu holen. Sie hatten sich ständig gebückt halten müssen oder waren kleinwüchsig gewesen, Zwerge, es gab Geschichten von Zwergen, die in der Gegend um Grotenweddingen spielten, wie auch Geschichten von Förstern, Riesen, Köhlern, Jägern, Hexen und Mönchen, alles gesammelt in dünnen hochformatigen Büchern mit Frakturbuchstaben.

      Jacob las gerne darin. Er las die Geschichten zwei- und dreimal. Die ihm liebste erzählte vom Bergmönch. Der war ein ungeschlachter Kerl, Angehöriger des Zisterzienserklosters Biesenstein, das es längst nicht mehr gab, nicht einmal als Ruine und nicht wenigstens als Flurname, bloß als historische Erinnerung und als Schauplatz von Heimatsagen in dünnen großformatigen Büchern.

      Der Mönch, stand zu lesen, hatte Schwierigkeiten mit dem Keuschheitsgelübde. Er war dem jungen Weib eines Handelskaufmanns aus Lüttgenweddingen hinterdrein. Die Frau wies ihn ab, voll flammender Empörung, die aber schwand mit der Zeit, bis sie ihn erhörte und ihm aufseufzend erlag. Heimlich traf sie sich mit ihm, in ihrem Haus, nächtens, wenn ihr Mann, der Händler, in Geschäften unterwegs war. Als Zeichen hatten die beiden vereinbart, dass er das Blöken eines Kalbes nachahmte, wenn er nahte, und sie, wenn sie ihn empfangen konnte, weil das Haus also leer war, ihm darauf antwortete mit dem imitierten Bellen eines Hundes. Eines Tages kehrte der Händler unvermutet früh zurück. Er fand sein Weib und den Mönch in unkeuscher Umarmung. Voller Zorn griff er sich eine Axt und erschlug den sündigen Gottesmann, sein Weib jagte er in den Wald. Den toten Kadaver trug er zu einem Bergwerksschacht und warf ihn in die Tiefe. Dort spukte seither der Mönch. Er irrte umher in Stollen und Sohlen, er schlug mit der Faust gegen Wände, dass Gestein und Erde abfiel und Glänzendes hervortrat, Katzensilber, Eisenerz und wirkliches Gold. Manchmal ließ er, nicht bloß in Nächten, sein Kalbsgeblök hören. Des Händlers Weib aber war zur Hexe geworden und suchte nach ihrem verschollenen Liebhaber, klägliches Hundegebell im Mund.

      Jacob war weitergekrochen. Seine Augen gewöhnten sich an die Dämmerung. Er lauschte, ob irgendwo Kalbsgeblök war. Er gelangte zu einem aufgeschütteten Steinhaufen, wo noch zwei Zigarettenstummel lagen, eine verbeulte Büchsenmilchdose und ein schwarzbraun vertrockneter Haufen Exkrement, vom Mensch oder vom Tier. Statt Kalbsblöken hörte er ein Knirschen. Vielleicht reckte der Bergmönch soeben aufseufzend seine Glieder, vielleicht gab das morsche Stollenholz nach und würde demnächst einstürzen, wie schon das Verbotsschild vorm Eingang warnend sagte. Jacob kroch aus dem Stollendunkel zurück ans Licht.

      Innerhalb bloß weniger Wochen schwoll die Schülerzahl am Fürst-Albrecht-Gymnasium in Grotenweddingen um mehr als ein Drittel, denn aus Großstädten wurden Kinder und Halbwüchsige verschickt, um sie vor feindlichen Luftangriffen zu bewahren. Schleunigst musste das Gymnasium für jeden Schülerjahrgang neue Klassen einrichten, und es ließ sich nicht umgehen, dass der Unterricht in Schichten ablief, mal früh zwischen sieben und zwölf, mal ab Mittag. Auch die Lehrer wechselten. Ältere Herren, alle schon pensioniert, wurden in den Schuldienst zurückgerufen, während Studienräte in den besten Jahren die steingraue Uniform überzogen und an den Fronten unschulischen Dienst taten.

      Von Suderweg und Fürst-Albrecht-Straße führte zum Schulgebäude je ein schmaler Durchgang. An jenem zur Fürst-Albrecht-Straße lagen, von außen und innen erreichbar, die Schülertoiletten, mit scharfem Geruch nach Teer und vergammeltem Urin. Der Durchgang endete auf dem Hof und an einer Linde, vor deren Stamm ein Findling stand, grau und moosbewachsen und nach vorn hin mit einer Metallplakette, die das fürstlich-grotenweddingische Wappen trug. Das war auch an der Fassade des Rathauses verschiedentlich angebracht und zeigte einen schwarzen Hirsch in gelbem Feld.

      Der Findling auf dem Schulhof des Fürst-Albrecht-Gymnasiums gab den Hintergrund her für die Zusammenkunft, bei der die Oberprimaner nach bestandener Abitur-Prüfung ihren zeremoniellen Abschied erhielten. Sie trugen dann am Revers ihrer Jacken einen Lorbeerzweig, von dem ein Stoffbändchen mit den fürstlichen Farben schwarz und gelb herabhing. Schüler der unteren Klassen standen in ehrfurchtsvollem Halbkreis. Der Direktor hielt seine Rede auf Latein, bei der er pathetisch die ohnehin fistelige Stimme anhob. Er war ein großgewachsener Mensch, mit dünnen weißen Haaren, er war Vollhumanist, aber Griechisch und Hebräisch wurden im Fürst-Albrecht-Gymnasium schon lange nicht mehr unterrichtet, zu seinem Kummer. Er trug meistens speckig glänzende Anzüge. Bei seinen Schülern hatte er den Spitznamen Jupiter tonans. Unter seinem Dirigat sangen zum Abschluss der Feier alle Versammelten gemeinsam das alte Studentenlied Gaudeamus igitur.

      Neben Linde und Wappenstein führten steinerne Stufen hinan zum höher gelegenen Platz vor der evangelischen Martinskirche. Auf der anderen Seite des Treppchens stand efeuumwachsen das Gebäude, das der Pedell bewohnte und das zudem ausgestattet war mit einem freilich seit Längerem nicht mehr benutzten Karzer. Der Pedell war ein kahlköpfiger Mann mit einem riesigen Buckel. Sein Spitzname lautete Marabu. Er ging langsam und gravitätisch, silberne Taschenuhr in der Hand, von seinem Hause aus quer über den Schulhof bis zum Hintereingang des Gymnasiums, um dort die Glocke zu läuten. Damit begann die neue Unterrichtsstunde. An der Mauer des Hauses, wo Marabu, der Pedell, wohnte, hing in rostigen Halterungen eine hölzerne Feuerleiter.

      Als Sextaner des Fürst-Albrecht-Gymnasiums saß Jacob in der Mittelreihe, zweite Bank, und war damit Banknachbar von Hans Dietrich Lehmann. Der wurde Ytsche gerufen, und Ytsche war für Kröte das ostfälische Wort. Ytsche Lehmann hatte braunes Haar, das sich kräuselte, und neigte zur Fettleibigkeit. Feistes weißes Fleisch wuchs aus Ytsche Lehmanns ledernen Hosenbeinen, und in die geöffneten Krägen von Ytsche Lehmanns rotkarierten Hemden hing schwammig Ytsche Lehmanns Doppelkinn.

      Seinen Eltern gehörte die Firma Witold & Söhne, in der Langen Gasse, die gleich hinter dem Rathaus anfing und durchs älteste Grotenweddingen lief. Hier waren sämtliche Straßen eng, gekrümmt und dämmerig. Witold & Söhne verkauften aus Holz gefertigte Gegenstände, nämlich Möbel für Wohn- und Schlafzimmer, und außerdem Särge. Witold & Söhne, Inh. Dietrich Lehmann, führten jede dieser zwei grundverschiedenen Warenarten in jeweils einem eigenen Laden. Beide Geschäfte lagen nebeneinander auf der Langen Gasse und waren vom Hausinneren her über einen gemeinsamen Korridor zu erreichen.

      Jacob ging manchmal zu den Lehmanns ins Haus. Er büffelte mit Ytsche Latein und Mathematik, worin Ytsche schwach war. Jacob sah sich das Haus und den Wirtschaftshof von Witold & Söhne