Rolf Schneider

Marienbrücke


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Laute heraus, die am ehesten als Marianne zu verstehen waren, Vorname von Frau Lehmann.

      Da war nun immer noch die Person mit schwarzem Haar, weißen Zähnen und goldnem Ohrring hinterm offenen Fenster des Frauentrakts. Ihre Zigarette hatte sie ausgeraucht. Mit höchstem Interesse schien sie zu beobachten, was unten im Wirtschaftshof geschah. Die Person gab ihr Missfallen an Marianne Lehmanns Handlungsweise, sie gab ihr Mitgefühl mit Männe Festerlings allgemeinem Schicksal in rohen Worten kund.

      Männe Festerling sprang plötzlich Marianne Lehmann an. Er tat dies in der Art, wie große Wachhunde tun, und hatte tatsächlich in seinem Munde ein hündisches Geräusch. Jacob legte den Zirkel beiseite. Auch Ytsche Lehmann beugte sich vor. Die Frauensperson hinterm geöffneten Fenster des Untersuchungsgefängnisses klatschte in die Hände und schrie Beifall.

      Marianne Lehmann hatte mit alledem nicht gerechnet. Sie ließ die leere Futterschüssel fallen und bewegte sich sonst nicht. Männe Festerling umschlang mit seinem rechten Arm Marianne Lehmanns Nacken und riss mit der linken Hand, die seine kräftige war, die Kunstseidenbluse herunter, dass der Stoff schrie. Unter der Bluse trug Marianne Lehmann weiße Unterwäsche.

      Noch immer stand sie bewegungslos. Vielleicht war sie tief beeindruckt von Männe Festerlings Aufsässigkeit. Vielleicht genoss sie sogar, wie er stark war, ihre Bluse zerriss und als nächstes ihre weiße Unterwäsche zerreißen würde. Was Männe Festerling wollte, war wohl offensichtlich, jedenfalls für Marianne Lehmann, und vielleicht hätte sie, verheiratet mit einem Mann, der bei Herzanfällen immer blaurot anlief, es sogar geduldet, wenn nicht heller Nachmittag gewesen wäre, wenn nicht Ytsche, ihr Sohn, und dessen Schulkamerad Jacob hinterm offenen Fenster gesessen hätten und zugesehen, wenn nicht die ordinäre Frauensperson aus dem Untersuchungsgefängnis die Geschehnisse verfolgt hätte, wobei sie auch immer noch Männe Festerling anfeuerte mit lauten Worten.

      Marianne Lehmann stemmte sich gegen Männe Festerlings rechten Arm. Sie lief dunkelrot an im Gesicht vor vieler Anstrengung. Sie benutzte den schließlich entstehenden Abstand, dass sie Männe Festerling mit dem hochhackigen Schuh in die Leiste trat. Männe Festerling grunzte schmerzlich, ließ die Arme sinken und torkelte zurück in die Werkstatt. Marianne Lehmann, Fetzen ihrer Bluse in der Hand, rannte ins Haus. Die leere Futterschüssel blieb auf dem Hofpflaster. Die Weibsperson im Frauengefängnis schickte Marianne Lehmann außer Gelächter noch Schmähungen hinterdrein.

      Als Nächstes verschloss Männe Festerling das Werkstatttor. Jacob konnte hören, wie Marianne Lehmann im Nebenzimmer das Telefon betätigte, um nach der Polizei zu rufen. Eher als ein Gendarm erschien Dietrich Lehmann mit Zylinder, schwarzem Lieferwagen und zwei Pollacken. Marianne Lehmann hatte sich eine andere Bluse übergezogen und ging wieder hinaus auf den Hof. Jacob konnte sehen, wie Marianne Lehmann offenbar Bericht gab, wozu sie weinerlich ihre Schultern zucken ließ. An eine Vollendung des rechtwinkeligen Dreiecks war nicht mehr zu denken. Auch Ytsche Lehmann zeigte sich an den Ereignissen auf dem Hof deutlich interessiert.

      Jacob sah, wie Dietrich Lehmann erst mal den Zylinder absetzte und sich mit dem Handrücken über die Stirnglatze strich. Dietrich Lehmann schüttelte ungläubig den Kopf. Er ging zwischen den pickenden Hühnern schräg über den Hof bis zum Werkstatttor. Er versuchte es zu öffnen, was ihm aber nicht gelang. Das Tor war von innen verriegelt. Anzunehmen, dass Männe Festerling es zusätzlich blockiert hatte, mit Holzböcken oder Fichtenbrettern.

      Männe, mach dich auf! rief Herr Lehmann, zweimal, und als nichts erfolgte, rief er: Nu mach dich man! Auch das bewirkte nichts. Herr Lehmann musste schließlich seine zwei Pollacken zu Hilfe rufen, und selbst die hatten um die zehn Minuten zu tun.

      Längst hatte es auch Jacob und Ytsche Lehmann nicht mehr gehalten an ihrem Tisch in Ytsche Lehmanns Zimmer. Bloß erst zur Hälfte vollendet blieb das rechtwinkelige Dreieck auf rosigem Millimeterpapier. Spätestens als die zwei Pollacken eine Brechstange heranschafften, unter Dietrich Lehmanns sachkundiger Anleitung, liefen Jacob und Ytsche Lehmann quer über den Wirtschaftshof, dass die Hühner auseinanderstoben. Weder Dietrich Lehmann noch Marianne Lehmann noch die beiden Pollacken achteten auf die zwei Jungen. Die Pollacken waren vollauf damit beschäftigt, ihre Brechstange anzusetzen, um sich dann sofort mit ihrem Körpergewicht dagegen zu werfen, unter Dietrich Lehmanns Kommando.

      Die Tür brach auf. Holz splitterte, Metall sprang auf Stein. Fichtenbretter, von innen gegen die Klinke geklemmt, fielen krachend heraus, auf das Pflaster und zwischen die Hühner. Dietrich Lehmann, Marianne Lehmann und die beiden Pollacken traten in die Werkstatt. Ytsche Lehmann und Jacob waren ihnen hinterdrein.

      Jacob konnte nur einen Blick tun, dann wurde ihm gleich übel. Er musste sich umdrehen und die Werkstatt verlassen. Ytsche Lehmann hielt bedeutend länger aus. Was er sehen konnte, kaum verdeckt durch die Beine seiner Eltern und die der beiden Pollacken, war aber dies:

      Männe Festerling lag im Unterteil eines Sargs aus ungebeizter Fichte. Neben seiner rechten Hüfte lag die leere Schnapsflasche. Mit einem Rasiermesser hatte er sich die Gurgel durchgeschnitten. Es musste als sonderbar gelten, dass Männe Festerling ein Rasiermesser bei sich führte, da er so selten seine Bartstoppeln abnahm.

      Die Hand mit dem Messer lag ihm mitten auf der Brust. Der Kopf mit der halb durchgeschnittenen Gurgel war etwas zur Seite gerollt. Das Blut stand als dicke Pfütze auf dem Sargboden. Sie würde sich später entfernen und der verbliebene Fleck mit dunkelbrauner Beize zudecken lassen.

      Nach einer Weile stellte sich eine weiße Leghornhenne auf den Rand des Sargunterteils und blickte aus schräggestelltem Hühnerkopf ungläubig herab auf Männe Festerlings Hand mit dem blutbeschmierten Rasiermesser. Da wurde es dann auch Ytsche Lehmann übel, so wie vorher Jacob, der inzwischen längst draußen in der Sonne stand und nach Atem japste.

      Die Tischlerwerkstatt von Witold & Söhne würde in der Folgezeit bloß noch mit den zwei Pollacken auskommen müssen, und das war bei diesem gesamten Vorfall vielleicht das Allerärgste.

      11

      Josef Hoffmann also. Anfangs wusste Kersting von ihm kaum mehr als das, was in Nachschlagewerken über die Kunst der Jahrhundertwende zu lesen war: Josef Hoffmann, Wiener Baumeister und Designkünstler, hatte den Jugendstil seines bedeutenden Lehrers Otto Wagner gleichermaßen fortgesetzt wie modernisiert, wobei er eine Vorliebe für das regelmäßige Viereck entwickelte, was ihm den Spitznamen Quadratl-Hoffmann eintrug.

      Bei näherer Beschäftigung erschien er immer eindrucksvoller. Seine Produktivität war überwältigend. Die von ihm ausgehenden Einflüsse erreichten noch den auffolgenden Konstruktivismus, Charles Édouard Jeanneret-Gris, bekannter als Le Corbusier, erklärte nachdrücklich, wie sehr er sich in der direkten Nachfolge Josef Hoffmans sah. Hoffmanns Arbeiten waren entschieden eigenwilliger als die van de Veldes. Kersting meinte, es sei vielleicht ein Glücksfall, dass er sich statt mit dem belgischen mit dem Wiener Stilkünstler zu beschäftigen habe. Die erste Anregung dazu war durch seinen Leipziger Verleger erfolgt.

      Josef Hoffmann wurde 1870 im südwestmährischen Pirnitz oder Brtnice geboren, einer Kleinstadt nahe Iglau oder Jihlava, achtzig Kilometer von Brünn entfernt und zweihundert Kilometer entfernt von Wien. Aus der gleichen Landschaft kamen noch andere Vertreter der damaligen Architekturmoderne, so Hoffmanns späterer Intimfeind Adolf Loos. Hoffmann besuchte eine Privatschule und danach, übrigens zusammen mit Loos, das Gymnasium. Er litt an auffälliger Gedächtnisschwäche. Die fünfte Gymnasialklasse musste er wiederholen und wurde selbst danach nicht versetzt, was er lebenslang als eine gesellschaftliche Schande empfand. Gemeinsam mit einem Freund, dem Sohn des Ortsbaumeisters, suchte er Baustellen auf und half dort aus. Auf diesem Wege fand er zu seinem Beruf. Er durchlief eine höhere Gewerbeschule und lernte ab 1882 bei Otto Wagner in Wien, wo auch Adolf Loos studierte.

      Die stille Zähigkeit, mit der Hoffmann seinen Aufstieg betrieb, aller sozialen und intellektuellen Behinderung zum Trotz, begann Kersting zu beeindrucken. Vielleicht war hier nicht bloß eine ästhetische Leistung zu beschreiben. Vielleicht gab es hier eine Übereinstimmung zwischen Geist und Charakter. Natürlich wusste Kersting, dass, wer ein gutes Kunstwerk erschaffe, nicht auch ein guter Mensch sein müsse. Creyenveldt, sein Lehrer und Vater seiner Frau Sonja, spottete darüber in seinen Vorlesungen, er nannte es einen ebenso populären wie fundamentalen