Ohnmacht erfasst, dessentwegen er nicht bloß Ytsche Lehmann hasste, sondern außerdem Jungzugführer Rohwedder und das gesamte Deutsche Jungvolk.
Er suchte nach Möglichkeiten, den sinnlosen Prügeleien von Jungzugführer Rohwedders Geländespielen zu entgehen. Man konnte nach dem Kommando Ausschwärmen den Ort des voraussichtlichen Kampfgeschehens verlassen. Man konnte sich hinhocken hinter dem schützenden Stamm einer ausgewachsenen Rotbuche und mit dem Taschenmesser aus daumendicken Weidenzweigen Pfeifchen schnitzen. Wenn der Lärm schließlich nachließ und das Kampfende damit vorgegeben war, wenn Jungzugführer Rohwedder zum Sammeln pfiff auf seiner schwarzen Trillerpfeife, deren Geräusch viel schriller und hässlicher klang als das der selbstgeschnitzten Weidenpfeifchen, konnte man wie zufällig wieder auftauchen zwischen den Lärchenstämmen. Man konnte ein Stück Stoff vorweisen, vorsorglich mitgebracht von daheim, in einer der zwei üblicherweise verwendeten Farben.
So was ging eine Weile ganz gut, bis ausgerechnet Ytsche Lehmann, der in Mathematik so schlecht war, dass er von Jacob darin Nachhilfe bekam, die Entdeckung machte und es auch laut vortrug, da seien mehr Armbinden im Umlauf, als das Geländespiel Teilnehmer habe. Zugführer Rohwedder ließ sofort zweimal nachzählen. Hinterher empörte er sich über das schmähliche Verhalten von mindestens einem, der es nicht wert sei, den Ehrentitel Pimpf zu tragen. Jacob hatte den Eindruck, Ytsche Lehmann blicke bei Zugführer Rohwedders Rede mit hämischem Grinsen hin zu ihm, Jacob.
Beim nächsten Geländespiel waren Ytsche Lehmann und Jacob in derselben Partei. Beim darauffolgenden Geländespiel wieder. Zwei weitere Spiele fielen aus, weil jedes Mal zum Zeitpunkt des Dienstbeginns rechtzeitig die Sirenen heulten und Fliegeralarm war. Das folgende Geländespiel fand an einem Mittwoch statt.
Kein Fliegeralarm war. Auch kein Regen fiel, der sie statt zum Galgenberg ins Lüttgenweddinger Schützenhaus geschickt hätte, damit sie dort Lieder übten und Geschichten hörten, von heldischen deutschen Panzerfahrern, Kampffliegern und U-Boot-Kapitänen. Beim Abmarsch vom Platz neben dem Schlachthof waren Ytsche Lehmann und Jacob diesmal jeder in einer anderen Partei. Nach dem Kommando Ausschwärmen rannte Jacob den Nordhang des Galgenbergs hinab, während der befohlene Kampf hauptsächlich auf der Bergkuppe ausgetragen wurde und auf dem Westhang.
Nach einer Weile hörte Jacob hinter sich Geräusch. Er blieb stehen. Er duckte sich ins Untergehölz, das ziemlich dicht war und aus verkrüppelten Lärchen, Eichenschösslingen und Farnwedeln bestand. Er entdeckte Ytsche Lehmann, der suchend herumlief zwischen den Stämmen und den Mund halb offen hielt vor Anstrengung oder Begierde. Ytsche Lehmann wollte unwürdiges Verhalten aufspüren. Ytsche Lehmann wollte nach Jacob suchen.
Jacob meinte Ytsche Lehmann keuchen zu hören. Er duckte sich tiefer und kroch bis zu einer Hainbuche. Er sah, dass der Stamm zur hangabweisenden Seite, zwischen zwei dicken Wurzelsträngen, eine Höhlung aufwies. Alle Wälder im Gebirge wurden die letzten Jahre mehr und mehr heimgesucht durch Schädlinge, vor allem den Raupen von Blastophagus piniperda und Ips typographus.
Die Höhlung war groß. Sie war groß genug, dass Jacob hineinkriechen und sich im Bauminneren aufrichten konnte. Hier herrschte Dämmerung. Es roch intensiv nach Nässe und fauligem Holz. Morsches rieselte herab, auf Jacobs Haare und hinein in den Kragen von Jacobs Hemd. Jacob hörte Ytsches Schritte kommen und sich wieder entfernen. Draußen war dann bloß noch schläfriges Grillengezirp.
Jacob fand, er habe ein feines Versteck gefunden, das sich vielleicht auch anderweitig nutzen ließ, unabhängig von Jungzugführer Rohwedders Geländespielen. Jacob hockte sich hin. Er saß auf weichen bröselnden Spänen, wo, ließ sich denken, Maden wimmelten und große rötliche Waldameisen ihre weißen Larven schleppten. Die Vorstellung von glatten oder haarigen Kerbtieren ekelte Jacob überhaupt nicht. Es mochte sein, dass die Insekten alkaloide Gifte verspritzten oder die Mikroben, die das Holz fraßen, Säfte abließen, die den Nerven von höherentwickelten Säugern Lähmung beibrachten. Jacob schien, als erstürben ihm allmählich die Glieder. Die Öffnung, durch die er gekrochen war, hatte sich geschlossen.
Dunkelheit herrschte jetzt, wie in irgendeinem der abgetäuften Stollen am Biesenberg. Jacob hatte kein Licht bei sich. Wo aber eines hernehmen? Da griff Angst nach seiner Gurgel, kalt und wie eine unsichtbare Hand, weil aus dieser Dunkelheit womöglich nie mehr ein Entkommen war. Zu seiner Erleichterung sah er in der Ferne ein Licht. Es kam rasch näher und war beim Näherkommen nichts anderes als eine Lampe, die jemand trug, nämlich ein riesiger Kerl, mit einer Bergmannskappe auf dem Schädel und am Leib eine stumpfschwarze härene Kutte. Er sah aus wie eine der Sagenfiguren, von denen Jacob gelesen hatte und die hier in der Gegend zu Hause waren, Hexen und Riesen und Teufel und Zwerge.
Der Kerl sah aus wie der Bergmönch und war es wohl auch. Der Kerl hob die linke Hand und redete: Lat dik man. Da fiel ihm offenbar ein, dass Jacob zwar gebürtig war aus dem niederdeutschen Lübeck, aber aufgewachsen in Chemnitz, wo die Leute mitteldeutsch, besser obersächsisch sprachen, weswegen sich Jacob immer noch schwertat mit ostfälischem Platt. Der Kerl sagte also: Lass dich man. Sagte: Des jeht sich schon in Ordnung. Ich will dich schon immer mal helfen. Musste dich nu nich Angst haben. Hierauf fiel er doch wieder in die angestammte Redeweise zurück, denn er schloss: Do buten is all öwer, min Kind. Daraufhin schlug er mit der linken Faust gegen die Wand, dass sie sich augenblicklich auftat und es blendend hell wurde, aber die Blendung geschah nicht durch Gold und Silber, sondern durch Tageslicht, da ja die Wand auch keine richtige Stollenwand war, sondern bloß die verbliebene Hülle einer durch Würmer und Mikroben gründlich zerfressenen Hainbuche. Jacob kroch also wieder hinaus. Er blinzelte, richtete sich auf zwischen den Wurzeln und schüttelte sich bräunliches Buchenholzmehl von den Schultern. Er hörte das Signal von Jungzugführer Rohwedders Trillerpfeife, mit der das Geländespiel beendet wurde.
Er begab sich zum ausgemachten Treffpunkt, auf der Kuppel des Galgenbergs. Dort trafen jetzt auch die anderen ein und taten ihre erbeuteten Armbinden auf den Boden. Die wollte jetzt aber niemand zählen, denn es war ein Unglück geschehen, Jungzugführer Rohwedder zeigte sich deswegen ziemlich nervös. Einer der Jungen hatte sich das Bein gebrochen. Im Augenblick lag er zwischen den abgelegten Armbinden, das rechte Bein oberhalb des Knies komisch abgespreizt und mit blauroter Verfärbung unter der Haut. Er wimmerte bei jedem Atemzug und wälzte wimmernd den Kopf hin und her.
Jungzugführer Rohwedder musste nach einem Krankenwagen schicken. Es brauchte fast eine halbe Stunde, ehe zwei weibliche Sanitäter kamen und eine Trage mitbrachten. Der Kranke wurde angehoben und verfiel vorübergehend vom Wimmern ins Schreien. Vier Pimpfe fassten die Trage, unter Jungzugführer Rohwedders schneidiger Anleitung. Der Transport verlief den Westhang des Galgenbergs hinab bis zu einem wartenden Krankenwagen. Die Trage wurde hineingeschoben. Die beiden weiblichen Sanitäter stiegen zu. Der Wagen fuhr an. Die Pimpfe standen hinterm Wegrand und sahen, wie die Räder beim Fortfahren trockenen Lehm aufwirbelten.
Jungzugführer Rohwedder wischte sich mit dem linken Handrücken Nässe von der Stirn. Er ließ dann antreten und beauftragte Jacob, über den Unfall bei der Familie des Kranken Meldung zu machen. Der wimmernde Pimpf mit dem gebrochenen rechten Bein war Ytsche Lehmann.
Eine Woche nach seinem Unfall wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Er ging dann wieder zur Schule. Sein rechtes Bein lag in Gips, er benutzte, um sich fortzubewegen, zwei hölzerne Krücken, die ihm vermutlich sein Vater getischlert hatte oder einer der beiden Pollacken bei Witold & Söhne. Ytsche Lehmann wurde durch die ihm auferlegte Bewegungsarmut mit den Wochen noch fetter. Jacob musste ihm vorübergehend in allen Fächern Nachhilfe geben, wegen der durch den Krankenhausaufenthalt entstandenen Lücken.
Als schließlich der Gips herunter kam, erwies sich, dass Ytsche Lehmanns Fraktur glatt verheilt war und das Röntgenbild beinahe ideale Kontur zeigte. Nur sein rechtes Bein war jetzt kürzer als das linke und sollte das bleiben. Nie mehr würde Ytsche Lehmann auf dem Galgenberg teilnehmen können an Geländespielen unter Jungzugführer Rohwedders Kommando. Er würde stattdessen Aufnahme finden in Adolf Hitlers Grotenweddinger Jungvolk-Fähnlein fünf, mit Stellort Otto-Ernst-Platz, im oberen Teil von Lüttgenweddingen.
Fähnlein fünf verfügte über einen Spielmannszug, Fanfaren und Trommeln. Ytsche Lehmann wurde einer von den Trommlern, obwohl er nicht besonders musikalisch war und vorher noch nie ein Instrument gespielt hatte. Verbissen brachte er sich