Adolf Hitlers Deutschem Jungvolk, sofern der denn überhaupt noch stattfand. Hartmuth-Dietlof von Oertzen durfte dabei sogar den Wimpel tragen und führte ein aus weißem Winkel auf schwarzem Grund gebildetes Rangabzeichen am braunen Uniformärmel.
Sein Vater Hans-Ulrich von Oertzen wusste gleichfalls nichts vom Inhalt der Gespräche auf Behncke oder doch fast nichts. Er diente in Berlin als Major i. G. beim Wehrkreiskommando am Hohenzollerndamm und war persönlich bekannt mit Offizieren, die Yorck von Wartenburg, von der Schulenburg, Barnim von Ramin und Schwerin von Schwanenfeld hießen. Auch zwei Brüder Schenk von Stauffenberg, mit Vornamen Claus und Berthold, gehörten zu seinem Bekanntenkreis.
Der schwerbeschädigte Claus Schenk von Stauffenberg zündete im Führerhauptquartier zu Rastenburg, Ostpreußen, eine Höllenmaschine, um Adolf Hitler umzubringen. Die Sache misslang, ein geplanter Putsch schlug damit fehl. Die Anführer und Beteiligten wurden festgenommen, darunter der Major i. G. Hans-Ulrich von Oertzen. Am Abend des 20. Juli 1944 gegen 23 Uhr wurde er in seiner Dienststelle einem ersten Verhör unterzogen, in Schutzhaft genommen und zuvor um Auslieferung seiner Pistole ersucht. Am nächsten Morgen bei einem Gang zur Toilette gelang es ihm, einige belastende Schriftstücke beiseitezuschaffen, zu verbrennen und die Asche in der Toilettenschüssel fortzuspülen. Auf dem Rückweg hatte er Gelegenheit, zwei Gewehrsprenggranaten zu entwenden und zu verstecken, in den Löschsandtüten, die auf den Korridoren des Wehrkreiskommandos standen. Gegen zehn Uhr fragte er seinen Bewacher, ob er nochmals die Toilette aufsuchen dürfe. Die Erlaubnis wurde erteilt. Auf dem Rückweg griff er sich eine der Gewehrgranaten aus dem Löschsand und zog sie sofort ab. Blutend brach er zusammen. Man hielt ihn für tot, doch war er bloß schwer verletzt. Unbemerkt schleppte er sich zu der anderen Löschsandtüte, nahm dort die zweite Sprenggranate heraus, tat sie sich in den Mund und zog ab, dass ihm der Kopf völlig zerfetzt wurde. Die umstehenden Offiziere konnten gerade noch in Deckung gehen.
Dass der deutsche Führer Adolf Hitler das auf ihn verübte Attentat wie durch ein Wunder überlebt hätte, wusste in seiner Schlagzeile das Grotenweddinger Intelligenzblatt. Später fuhr ein Sonderkommando der Geheimen Staatspolizei auf der Domäne Behncke vor, durchsuchte das Gutshaus, beschlagnahmte etliche handschriftliche Papiere und erklärte das Fräulein von Birstein für verhaftet. In aufrechter Haltung, ihren Stock mit Elfenbeinkrücke wie zur Drohung erhoben, bestieg Amalie von Birstein das wartende Automobil und wurde in die Kellerräume des Gestapoquartiers nahe dem Grotenweddinger Güterbahnhof verbracht. Tags darauf verhaftete man Jupiter tonans und Domorganist Wolff aus Halberstadt.
Wehrwirtschaftsführer Henseler hatte mehrere Vernehmungen in seinem Privathaus und seinem Dienstbüro über sich ergehen zu lassen, wurde aber nicht festgenommen. Er war zu den Zusammenkünften auf Behncke nur selten gefahren, wegen seiner beruflichen Inanspruchnahme. Von Plänen zu einer Verschwörung und einem Attentat wusste er nichts.
Im Hof des Fürst-Albrecht-Gymnasiums von Grotenweddingen, dort, wo die Linde und der Stein mit der Wappen-Plakette standen, wo täglich die Schüler sich aufhielten in den Pausen, wo auch alljährlich die Abiturienten verabschiedet wurden nach bestandener Prüfung, hatten eines Vormittags im Juli sämtliche Schüler sich militärisch aufzustellen und dabei ihr braunes Hitlerjugendhemd zu tragen.
Das Kommando führte Sekundaner Jürgen Rohwedder, der unlängst zum Jungschaftsführer befördert worden war und jetzt eine dickere Flechtkordel vor der Brusttasche trug.
Auf seinen Befehl hin musste vor die Front treten der Schüler Hartmuth-Dietlof von Oertzen. Jungschaftsführer Rohwedder verlas von einem Papier und mit schneidender Stimme, das Verbrechen gegen Führer, Volk und Vaterland, an dem die Familie des Oertzen beteiligt gewesen sei, bedeute eine Schande für das Jungvolk und die Hitlerjugend von Grotenweddingen und für das Fürst-Albrecht-Gymnasium. Haftend für die Sippe, der er entstamme, sei der Oertzen entsprechend zu behandeln. Daraufhin steckte Jungschaftsführer Rohwedder erst das Papier fort, riss danach dem Schüler Oertzen Rangzeichen und Schulterklappen vom Braunhemd und erklärte ihn für in Unehren verstoßen.
Hartmuth-Dietloff von Oertzen ging einsam über den Schulhof zur Mauer, wo die Fahrräder standen, darunter das seine. Er war im Gesicht gänzlich bleich. Nur seine großen Ohren leuchteten rot. Er würde das Fürst-Albrecht-Gymnasium nie mehr betreten.
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Von dem Ausländerkonto, das er bei der Genossenschaftlichen Zentralbank am Michaelerplatz unterhielt, hob Kersting immer bloß kleinere Beträge ab. Bereits nach dem ersten Monat war er im Besitz einer größeren Schillingsumme. Die bloße Zahl, wusste er, konnte täuschen. Der österreichische Schilling war etwa so viel wert wie vier US-amerikanische Cent oder zwölf westdeutsche Pfennige. Kersting nahm sich vor, weiterhin zu sparen, für den Fall, dass er nicht heimkehren und also weiterhin hier leben wollte. Aber wollte er das?
Josef Kerschbaumer sagte, für ihn sei es angenehm, sich in der als Pluralismus getarnten Gleichgültigkeit einer Großstadt namens Wien zu verbergen. Gleichwohl sprach aus jedem seiner Worte ein unruhiges Heimweh. Sein Leiden an Tirol schien er als eine selbstverschuldete Verwundung zu sehen, wie auch sein Äußeres ihn ein wenig stigmatisieren mochte unter all den gesunden rothäutigen Bergbauern, Skilehrern und Kaiserjägern, aus deren Mitte er kam. Sein Zahnfleisch neigte dazu, unvermutet zu bluten. Wenn er rauchte, hielt er seine Zigarette in den Fingern, als geschehe das zum ersten Mal.
Sein Benehmen Kersting gegenüber war die höfliche Ehrerbietung. Dass er kaum älter war als Kerstings eigener Sohn David, vergaß Kersting schnell. Kersting gab, so gut das möglich war, Auskunft über Bedingungen eines Reiseaufenthaltes wie des seinen. Ein sonderbarer, aus jahrelanger Vorsicht entstandener Automatismus veranlasste ihn, die tatsächlichen Härten des Lebens in der DDR zu beschwichtigen. Welche Schwierigkeiten es gekostet hatte, die Erlaubnis zu einer Reise nach Österreich zu erlangen, unterschlug er völlig. Lieber erzählte er vom Palais Stoclet in Brüssel, Josef Hoffmanns wahrscheinlich vollkommenster Schöpfung, die er gerne würde sehen wollen.
Josef Kerschbaumer ging sorgfältig gekleidet. Er trug ständig Anzug und Krawatte, wobei seine Kleidung immer wirkte, als sei sie bereits etwas aus der Mode. Seine Bildung war einigermaßen umfassend. Gelegentlich versuchte Kersting, sich Kerschbaumers Liebesleben vorzustellen, und vermutete, dass es in der Hauptsache kummervoll verlief.
Kerschbaumer war noch kaum in Deutschland gewesen, bloß eine Woche in München. Er sprach fließend Italienisch, von der Schule her, einige seiner Verwandten lebten in Südtirol, in Brixen und Bruneck, oder Bressanone und Brunico. Religiöse Anhänger des Protestantismus waren für ihn edle Wilde, obschon er das niemals so zugegeben hätte. Er kannte Ljubljana, Triest und Mailand sehr gut. Wenn er an Länder des Kommunismus dachte, hatte er die Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien vor Augen. Die imaginäre Welt der vor siebzig Jahren verrotteten Donaumonarchie hatte auch ihn, ein eben sechsundzwanzigjähriges Bürgerkind von der Hungerburg über Innsbruck, längst eingeholt mit ihren historisierenden Träumen und morbiden Kulissen. Er sprach die Sprachen jener Romania, die einmal Österreich hieß.
Bei alledem war er eine durchaus diesseitige Natur. Er studierte Betriebswirtschaft und wollte später erfolgreich in der Industrie arbeiten. Er verstand sich auf Datenverarbeitung. Unter zarten moralischen Zweifeln schwor er auf die Marktwirtschaft und tröstete sein Gewissen, wie er selber sagte, mit den humanitären Zusicherungen der katholischen Soziallehre.
Das Gezänk um den gegenwärtigen Bundespräsidenten sah er in höflicher Gelassenheit. Bisher, sagte er, stand bevorzugt sein Tirol in dem Verdacht, dass es abonniert sei auf die ärgsten konservativen Skandale, zum Beispiel jenem noch weithin akuten Falle des Anderl. Wie, davon wisse Kersting nichts?
Es ging um eine Tiroler Wallfahrtskapelle. Sie war ausgestattet mit Bildern von geringer kunsthistorischer Bedeutsamkeit und einer außerordentlichen antisemitischen Tendenz. Das Anderl sollte ein Christenbub gewesen sein, den die Juden weggefangen hatten, um ihn zu schächten. Die sogenannten Ritualmorde hatten zur Grundausstattung des christlichen Judenhasses im europäischen Spätmittelalter gehört. Von der Geschichte des Anderl war nun überhaupt nichts wahr, das Ereignis so wenig wie die Person des Opfers. Es gab kein historisches Missverständnis, keinen wie immer gearteten dokumentarischen Bodensatz, alles war nackte Erfindung eines gegenreformatorischen Geistlichen, gleichwohl