Rolf Schneider

Marienbrücke


Скачать книгу

Er wirbelte beidhändig kunstvoll die Schlägel durch die Luft, ehe er sie niederprasseln ließ aufs gespannte Kalbfell. Die Fanfarenbläser stemmten ihre linke Hand in die Hüfte, setzten mit der rechten Hand ihr Instrument an die Lippen und ließen grelle Terzen vernehmen. So was konnte im Stehen betrieben werden oder beim Marschieren. Dass sich Ytsche Lehmann neuerdings etwas unregelmäßig bewegte, war wegen der das Ausschreiten behindernden Landsknechtstrommel kaum zu erkennen. Jacob hasste die Fanfaren und Trommeln. Er hasste sie wie die Geländespiele am Galgenberg.

      Schon ein paar Tage nach jenem Geländespiel, bei dem sich Ytsche Lehmann das rechte Bein gebrochen hatte, war Jacob nochmals und allein auf den Galgenberg gegangen. Er hatte die hohle Hainbuche nicht wiedergefunden. Er hatte an sämtlichen Hängen des Galgenbergs gesucht und sich jeden einzelnen Baum besehen, der eine entsprechende Größe besaß. Es war nirgendwo zwischen den Wurzeln eine Höhlung gewesen. Jacob hatte es vorher unterlassen, den hohlen Baum wenigstens zu kennzeichnen, damit er ihn wiederfinden könne.

      17

      Der junge Mensch mit den etwas ungelenken Bewegungen hieß Josef Kerschbaumer. Eines Spätnachmittags klopfte er an Kerstings Tür. Es war das erste Mal, dass Kersting Besuch erhielt. Er dachte daran, dass er seit Tagen immer bloß mit Angehörigen des Dienstleistungsgewerbes geredet hatte, in wissenschaftlichen oder gastronomischen Einrichtungen, ein Zustand, der allmählich zu Erstarrung und Deformation führen musste.

      Kerschbaumers eigenes Zimmer war eine mönchische Zelle, ungeeignet für fast alle Handlungen außer jenen des Schlafens, des Lernens und der katholischen Meditation. Sein Name, sagte Kerschbaumer, sei nicht jüdischen Ursprungs, auch wenn er deutschen Ohren so klingen mochte, vielmehr seien die Kerschbaumers in Tirol häufig anzutreffen unter christlichen Bergbauern und Dorfhandwerkern, obschon er selber, Josef, jüdische Vorfahren habe, aber nicht von Seiten der Kerschbaumers, seiner Mutter, sondern jenen seines leiblichen Vaters, der einfach bloß Mayer geheißen habe, mit Vornamen allerdings Isaac.

      Dies erzählte er mit leiser Stimme und in einer zögernden Redeweise. Kersting konnte erkennen, dass der zweifelsfrei oberdeutsche Akzent Kerschbaumers jedenfalls nicht übereinstimmte mit dem, den er sonst in Wien vernahm. Josef Kerschbaumer war aus Innsbruck gebürtig. Er entstammte einer höchst bürgerlichen Familie, war aber ein uneheliches Kind, und das schien im Lande Tirol, wo auch heute noch, wie Kerschbaumer sagte, die heilige Madonna mit dem Schützengewehr regierte und man ebenso fromm wie unduldsam und drakonisch war, einen geradezu unverzeihlichen Makel zu bedeuten bis noch ins dritte Glied.

      Die Umstände seiner Biografie gestand Kerschbaumer nicht bei der ersten Begegnung. Kersting erfuhr sie später. An manchen Abenden suchten sie einander auf, um zu reden. Zumeist fanden solche Begegnungen bei Kersting statt, der in seinen zwei Zimmern über genügend Platz verfügte und wo er reichlich gekaufte Zeitschriften, entliehene Bücher, fotokopierte Texte und beschriftete Karteikarten verstreute, was den Eindruck einer etwas fahrigen Gelehrsamkeit erzeugte. Immerhin wollte er eine Monografie verfassen über einen bedeutenden Architekten und Formgestalter der klassischen Moderne.

      Kerschbaumer fand erstaunlich, dass jemand von so weit her anreiste, um sich ausgerechnet einem solchen Vorhaben zu widmen. Kersting erkannte, dass er unter den anderen Bewohnern des Studentenhotels zu einer allseits umrätselten Person geworden war. Die nackten Tatsachen seiner Herkunft waren seit dem Abend seiner Anmeldung im Hause bekannt.

      Den ersten gemeinsamen Abend verbrachten Kersting und Kerschbaumer bei einem Essen in der Strozzigasse, in einem Gasthaus, das einen eindeutig tschechischen Namen trug und dessen hervorgehobene Spezialitäten solche der andalusischen Küche waren. Fischsuppen, Oktopus, Paella, der Wein kam aus Tarragona. Josef Kerschbaumer hatte Kersting hierher geführt. Er hatte eine Weile in Spanien und Portugal gelebt, um sich in den dortigen Sprachen zu üben.

      Es war ein Tag unter der Woche. Das Gasthaus blieb wenig besucht, bis auf einen Tisch mit lauter lustig lärmenden Männern. Sie tranken viel Wein, Bier und Obstler. Zu vorgerückter Stunde begannen sie heimische Lieder zu singen, I bin halt a echts Weaner Kind und Versaufts mei Gwand i komm in Himmel. Ihre Fröhlichkeit war so beeindruckend, dass Kerschbaumer den Kellner fragte, wer diese Herren denn seien. Der Kellner vergewisserte sich durch Blicke rückwärts, dass niemand sonst ihm zuhörte, und teilte mit, dass dies der Stammtisch der Wiener Leichenbestatter sei.

      18

      Der Dienst beim Deutschen Jungvolk von Grotenweddingen fiel immer öfter aus, was keinesfalls an Jungvolkführer Rohwedders nachlassender Begeisterung für Geländespiele lag. Der Schulunterricht am Fürst-Albrecht-Gymnasium musste jetzt in drei Schichten ablaufen. Jacob hatte es einfach, für seine Abwesenheit bei den verschiedenen Zusammenkünften am Schlachthof eine Begründung vorzutragen, die mochte zutreffen oder nicht.

      In Italien tobte die Schlacht um Monte Cassino. Die Titelseite des Grotenweddinger Intelligenzblatts war von den entsprechenden Nachrichten voll. Das auf der anderen Seite des Martinsplatzes gelegene Fürstin-Wilhelmina-Lyzeum für die höheren Töchter von Grotenweddingen wurde in ein Kriegslazarett verwandelt. Die Mädchen sollten in den Räumen des Fürst-Albrecht-Gymnasiums noch zusätzlich unterrichtet werden, was auch geschah. Der Karzer im Haus des Pedells diente inzwischen als Raum für die Biologiestunden von Quarta und Tertia.

      Jacob ging vom Unterricht fort. Quer über den Schulhof, das Treppchen hinan, also an der Linde vorüber und dem Felsbrocken mit Plakette und Wappen der Fürsten von Grotenweddingen. Im Garten des Pedells flogen die Immen. Die Rosskastanienbäume auf dem Martinskirchhof standen in Blüte. Jacob ging bis zum Gebäude des Fürstin-Wilhelmina-Lyzeums, dessen Mauern gelbe Backsteine waren. Vor dem Hintereingang stand ein junger Mensch in Leutnantsuniform, unter den Achseln zwei Krücken. Sein linkes Hosenbein war zusammengefaltet und mittels einer schwarzen Sicherheitsnadel unterhalb des Beinstumpfs fixiert. Der Leutnant lachte Jacob flüchtig zu, drehte sich dann zum Hof hin und humpelte Richtung Schultor davon.

      Auf der Fürstin-Wilhelmina-Straße stand das Pferdefuhrwerk von Findeisen. Der Gaul fraß Futter aus einem umgehängten Leinenbeutel, dazu pisste er laut und ausführlich auf die Kopfsteine aus Blaubasalt. Die Pisse floss in schrägen Bahnen zum Rinnstein hin. Die Kohlensäcke wurden Dr. med. F. W. Lippe-Günther, Facharzt für Inneres, alle Kassen, ins Haus getragen durch zwei ukrainische Fremdarbeiter. Aus einem geöffneten Fenster im Haus von Dr. Lippe-Günther wehte der Geruch gerösteter Zwiebeln.

      Jacob trödelte über die Nöschenbachbrücke und dann weiter auf die Thomas-Hagenow-Straße zu, die besonders steil verlief. Die Villen, die hier standen, wurden meistens von Walter Henselers Ingenieuren bewohnt.

      Die Thomas-Hagenow-Straße hörte an zwei Metallpfählen auf. Dahinter begann mit Haselgesträuch und Brennnesselstauden der Forst. Zwischen dem Unterholz verlief ein krummer glitschiger Trampelpfad. Es roch nach Exkrement dort, was vielleicht verursacht wurde durch Stinkmorcheln. Jacob bewegte sich vorsichtig, damit er seine bloßen Beine nicht an den Nesseln versengte.

      Der Trampelpfad mündete in Hochwald. Grotenweddingen lag von hier aus im Tale tief unten. Jacob ließ seinen Schulranzen vom Rücken rutschen, bis die Riemen in den Beugen seiner angewinkelten Arme hingen. Wo der Hochwald endete, gab es eine Bergwiese, auf der an anderen Tagen Rinderherden aus Lüttgenweddingen weideten und ihre Kuhschellen hören ließen. Heute gab es hier bloß uralte Kotfladen, die zu grünbrauner Kruste verdorrten und ausführlich Platz boten für Viehbremsen.

      Jacob dachte an ein Gedicht, das er im Deutsch-Unterricht hatte lernen müssen bei Jupiter tonans. Frühling lässt sein blaues Band. Hier waren blau nur die Leberblümchen. Bänder gab es aus silbrigem Stanniol, das von feindlichen Flugzeugen abgeworfen wurde, um die deutsche Flugabwehr zu täuschen. Früher hatten die Kinder von Grotenweddingen solche Streifen aufgelesen und gesammelt. Inzwischen lag das bloß noch herum, denn es fiel immer wieder und in Massen. Jupiter tonans unterrichtete außer Latein auch Deutsch, weil am Fürst-Albrecht-Gymnasium Lehrermangel herrschte.

      Jacob setzte sich auf einen kleinen Erdhügel direkt am Waldrand. Er warf seinen Schulranzen ins Gras und drückte die Verschlussfeder. Schatten fiel zitterig über Jacobs nackte Beine von den Fichten. Jacob nahm sein restliches Frühstücksbrot heraus, das schon angetrocknet war.