Rolf Schneider

Marienbrücke


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und Gegenwart von Dr. Kurt Waldheim.

      Zwei bekannte österreichische Künstler, ein Bildhauer und ein Schriftsteller, hatten ein hölzernes Pferd aufgestellt, mit dem sie das österreichische Staatsoberhaupt verhöhnten. Die Tiernachbildung sollte nicht so sehr auf das odysseische Werk vor Troja anspielen als vielmehr auf den Umstand, dass Kurt Waldheim seine frühere Zugehörigkeit zur Reiter-SA erst verschwiegen und dann mit einer etwas sonderbaren Erklärung versehen hatte, was einen anderen Politiker zu der Bemerkung veranlasste: Also, ich begreif so viel, nicht der Herr Doktor Waldheim war in der SA, sondern bloß sein Pferd.

      Der Politiker, der diesen Ausspruch tat, hieß Fred Sinowatz, bis vor kurzem österreichischer Bundeskanzler. Ihm wurde der Vorwurf gemacht, er habe dem Jüdischen Weltkongress in New York und dessen Vorsitzendem Bronfman das Material gegen Kurt Waldheim zukommen lassen, um dadurch den Sieg des Präsidentschaftskandidaten seiner eigenen Partei, der sozialistischen, zu ermöglichen. Durch die Äußerungen von Bronfman hatte die internationale Diskussion um Kurt Waldheim überhaupt erst eingesetzt.

      Kersting erschien spät. Die Veranstaltung, angekündigt durch Handzettel, hatte um zwei Uhr nachmittags anfangen sollen. Als Kersting eintraf, war der Platz gänzlich überfüllt. Kersting hörte die Rede einer männlichen Stimme durchs Megafon. Er konnte den Sprecher nicht erkennen. Der Sprecher sagte, Kurt Waldheim möge um der Republik willen zurücktreten von seinem Amt, da es nicht angehe, einen höchsten Staatsrepräsentanten zu haben, der erweislich nicht die Wahrheit sage.

      Die Worte erzeugten bei den Zuhörern Äußerungen von Unmut und Beifall. Anhänger wie Gegner des Bundespräsidenten schienen unter den Versammelten zu fast gleichen Teilen vertreten. Während durchs Megafon weiter die Stimme zu hören war, bildeten sich kleine Gruppen, von denen das Gehörte und ohnehin Gewusste wieder und wieder beredet wurde. Kersting sah gerötete Gesichter, erhobene Hände, geballte Hände, geöffnete Münder, man redete, ohne dem Megafon zuzuhören, ohne einander zuzuhören, ohne es zu können. Die Sprechenden wechselten die Gruppen, nicht die Haltungen. Es entstand eine Orgie der diskursiven Besessenheit. Dazwischen bewegten sich Leute mit Fotoapparaten und Fernsehkameras. Kersting fand es alles sehr aufregend, auch da er sich nicht erinnern konnte, jemals so was erlebt zu haben.

      20

      Die Domäne Behncke befand sich im Besitz der freiherrlichen Familie Birstein, deren Angehörige immer ordentliche Agrarier gewesen waren und seltener Offiziere. Ein Carl Johann Freiherr von Birstein sollte eingangs des neunzehnten Jahrhunderts dem nach Russland durchreisenden Kaiser Napoleon seinerseits entgegengeritten sein, mit kleinem Gefolge, bis an die Grenze von Behncke, um dort den neureichen Herrscher der Franzosen zu begrüßen mit den selbstbewussten Worten: Alors, deux seigneurs se rencontrent. Diese Geschichte war berühmt und musste über lange Jahre hin sogar gelernt werden im Heimatkundeunterricht der Schulen von Grotenweddingen.

      Das Gutshaus auf Behncke war ordentlich ausgestattet mit Biedermeiermöbeln aus lichtem Kirschholz, mit Teppichen aus Täbris und mit vielen handkolorierten Veduten von Behncke, Grotenweddingen, Halberstadt, Zilly, Wolfenbüttel, Suderwieck und Ströbeck. Der einzige lebende Erbe von Behncke im Jahr 1944 war das hagestolze Fräulein von Birstein, mit Vornamen Anna Katharina Amalie, die an einem Stock gehen musste und die für die Aufsicht über die landwirtschaftlichen Arbeiten auf Behncke seit vielen Jahren einen tüchtigen Verwalter beschäftigte.

      Gutshaus Behncke war schon seit mehreren Jahren auch ein Treffpunkt, meistens an den Sonntagnachmittagen, für verschiedene Leute, die einander gut kannten und miteinander reden wollten. Es gehörte zu ihnen zum Beispiel Studiendirektor Dr. Frings, den seine Schüler Jupiter tonans nannten, nach der höchsten männlichen Gottheit in der römischen Antike. Studiendirektor Dr. Frings war Altphilologe, und er leitete noch immer das Fürst-Albrecht-Gymnasium in Grotenweddingen, obgleich er sich längst im Pensionsalter befand.

      Manchmal erschien zu den Zusammenkünften auf Behncke Wehrschaftsführer Walter Henseler. Er vermisste in Grotenweddingen, wo er einer allgemeinen Logistik wegen 1938 seinen Betrieb hatte errichten müssen, die Kultur einer weinfrohen Geselligkeit, wie er sie aus seiner Heimat am Zusammenfluss von Rhein und Mosel seit seiner Kindheit kannte und deren er für seinen seelischen Ausgleich bedurfte. Walter Henseler kam nach Behncke allein oder in Begleitung seiner etwas groß geratenen Tochter Gudrun. Umgekehrt kam Gudrun Henseler nach Behncke ihrerseits manchmal allein. Schon weil sie sich für Pferde interessierte und also auch für die Pferde auf Behncke. Die waren allerdings durchweg Zug- und Ackergäule, jedenfalls Kaltblüter, und taugten deswegen zum Reiten überhaupt nichts.

      Auf Behncke wohnte schon seit einigen Monaten Hartmuth-Dietlof von Oertzen, dessen Familie mit den Birsteins weitläufig verwandt war und der am Fürst-Albrecht-Gymnasium eben jene Klasse besuchte, der auch Jacob angehörte.

      Hartmuth-Dietlof war ein blonder Junge mit großen und abstehenden Ohren. Wenn er sich unbehaglich fühlte, wurde sein Gesicht immer blasser, nur seine Ohren leuchteten dann besonders rot. Wenn er nach seinem Nachnamen befragt wurde, betonte er jedes Mal nachdrücklich die Adelssilbe von, als käme darauf alles an. Zu jedem Schultag fuhr er nach Grotenwedddingen mit dem Fahrrad und kehrte nach dem Ende des Unterrichts in der gleichen Weise zurück. Dass er von Jupiter tonans, der manchmal an den Sonntagnachmittagen zu Fräulein von Birstein nach Behncke fuhr, etwa bevorzugt worden wäre, ließ sich nicht gut behaupten. Der junge Hartmuth-Dietlof von Oertzen nahm an den Zusammenkünften auf Behncke außerdem gar nicht teil, da bei denen Jugendliche sowieso nicht zugelassen waren.

      Was wurde denn nun gesagt und getan bei Amalie von Birstein im Gutshaus auf Behncke?

      Es wurde erst einmal Tee getrunken. Dabei handelte es sich um echten Darjeeling, den Fräulein von Birstein immer zur Verfügung hatte, also immer noch erhielt, und wer wusste schon woher, aus den besetzten Niederlanden vielleicht oder von entfernten Verwandten aus Göteborg in Schweden. Auf einem Stutzflügel, der helles Holz hatte wie die übrigen Möbel und an dem angeblich schon Franz Liszt gesessen hatte, spielte Domorganist Wolff aus Halberstadt Verschiedenes von Franz Schubert. Jupiter tonans trug danach aus seiner Eindeutschung des Hesiod vor, an der er nun schon ein halbes Leben lang arbeitete. Fräulein von Birstein rezitierte vielleicht Detlef von Liliencron, Gustav Falke und Richard Dehmel, deren Verse sie mochte. Sie war als junges Mädchen Alumnin des Adelsinternats Heiligengrabe in der Prignitz gewesen, wohin auch andere preußische Familien ihre Töchter gerne schickten und das bekannt geworden war durch Bücher des preußischen Schriftstellers Fontane.

      Amalie von Birstein fühlte preußisch, wiewohl Behncke fast schon Niedersachsen war und die familiären Beziehungen der Birsteins eher dorthin gingen als nach Brandenburg, Pommern oder Schlesien. Fräulein von Birstein fing bei ihren sonntäglichen Zusammenkünften irgendwann davon zu reden an, dass es jetzt dringende Zeit sei, endlich nachzudenken über ein zukünftiges Deutschland und dessen politische Gestaltung.

      Ihre Bemerkungen stießen bei ihren Gästen durchweg auf Interesse. Fräulein von Birstein wünschte sich für ein künftiges Deutschland die Verfassung eines Ständestaats, also ohne die NSDAP, ohne politische Parteien überhaupt, und die Bevölkerung sollte sich vertreten wissen durch Entsandte ihrer jeweiligen sozialen Schichten, wie das nicht viel anders im alten Preußen gewesen war zur Zeit des Freiherrn vom Stein, mit denen die Birsteins ihrerseits entfernt verwandt gewesen waren. Oberstudiendirektor Dr. Frings machte dagegen Vorstellungen der Paulskirchenversammlung von 1848 geltend. Er war seit Studententagen vertraut mit den Ideen des Tübinger Stifts und des schwäbischen Liberalismus. Domorganist Wolff hielt lieber auf eine den moralischen Überzeugungen des Christentums verpflichtete Wahlmonarchie. Fräulein von Birstein wollte sich gegebenenfalls einlassen auf ein Dreiklassenwahlrecht für die zu kürenden Deputierten der Stände.

      Es bestand jedenfalls Übereinstimmung, dass in der Reichsverfassung, die Fräulein von Birstein anregte und die Jupiter tonans in ersten Artikeln, über die allgemeine Einigkeit bestand, schon mal zu notieren begann, ein Führer Adolf Hitler nicht vorkommen durfte. Der war danach überflüssig und musste auf eine Art, über die noch höchst unklare Vorstellungen bestanden, vorher aus dem Wege geräumt werden, drastisch gesprochen und natürlich bloß bildlich gemeint oder vielleicht doch nicht nur bildlich?

      Von alledem würde Hartmuth-Dietlof von Oertzen nichts wissen,