Claudia Torwegge

Mami Box 1 – Familienroman


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Sie hab’ ich gedacht, jeden Tag«, bekannte sie.

      »Ich habe auch mal an dich gedacht, Isabella.« Vera ordnete die Blumen in die Vase. »Weißt du, was mich wundert? Daß du immer allein herumläufst. Du hast doch Geschwister. Kümmern die sich denn gar nicht um dich?«

      »Die sind doch schon groß. So groß wie die Kinder, die neulich bei Ihnen waren. Ja, genauso. Die mich nicht haben wollten. Ich dachte, die wären vielleicht immer noch da. Darum bin ich so lange nicht gekommen.«

      »Na, so lange war das nicht«, warf Vera ein.

      »Doch, ganz lange«, widersprach das Kind mit einem Nicken.

      »Hast du denn deinen Eltern erzählt, wo du manchmal hingehst?« wollte Vera wissen. Ein unsicherer Ausdruck erschien in dem kleinen, spitzen Gesicht. »Ja – nein, nicht so richtig –«, und schnell fuhr das Kind fort: »Mein Papa fährt auch so ein schönes Auto wie das, was draußen manchmal vor Ihrer Tür steht. Das gehört doch Ihnen?«

      Vera bejahte. »Und macht ihr da manchmal auch Ausflüge damit, so die ganze Familie?«

      »O ja, ganz schöne Ausflüge. Meine Mama packt dann einen Korb mit lauter feinen Sachen, die essen wir dann auf einer Wiese. Und Papa angelt und fängt Fische, das ist ganz toll.«

      »Hm, das kann ich mir schon vorstellen.« Vera holte Eis aus dem Gefrierschrank und gab Isabella eine Portion zu schlecken.

      Als sie ihrem Mann am Abend davon erzählte, sagte er: »Verwöhne sie nicht noch, sonst wirst du sie am Ende überhaupt nicht mehr los.«

      »Ach, Edgar, wenn sie doch so gern hier ist. Ich schicke sie schon rechtzeitig nach Hause. Es liegt etwas in ihren Augen, dem ich nicht widerstehen kann.«

      Als Isabella zwei-, dreimal wieder dagewesen war, sprach sie doch erneut mit ihrem Mann darüber. »Weißt du, was ich merkwürdig finde? Sie trägt immer dasselbe verwaschene Hängerchen, und wenn es kühl ist, hat sie ein Strickjäckchen drüber, das ihr zu klein und an den Ärmeln geflickt ist. Ich verstehe eigentlich nicht, daß ihre Mutter sie so herumlaufen läßt. Ob das denn nur alles stimmt, was sie von ihrem Zuhause erzählt?«

      »Du weißt ja gar nicht, wo ihr Zuhause ist«, hielt Edgar ihr vor. »Kümmere dich doch mal darum, und frage sie ganz energisch danach.«

      Aber dazu sollte es nicht mehr kommen.

      Es war an einem Donnerstag nachmittag, Claus und Katrin waren bei Vera, weil ihre Mutter im Geschäft gebraucht wurde. Diesmal machten die beiden brav ihre Schularbeiten.

      Vera war dabei, einen Geburtstagsbrief an ihre Freundin in Amerika zu schreiben, als ein Geräusch von draußen sie aufmerken ließ. Wer war denn da im Vorgarten? Sie erhob sich und trat in die offenstehende Terrassentür. Verblüfft sah sie auf das Bild, das sich ihr bot: Eine fremde Frau hielt Isabella bei den Schultern gepackt und schüttelte sie wie ein Bündel hin und her. »Hier finde ich dich endlich, du ungezogenes Kind«, keifte sie los, »was denkst du dir denn eigentlich, einsperren sollte man dich.«

      »Lassen Sie das Kind los«, befahl Vera, die mit ein paar Schritten bei ihnen war. »Sie tun ihm ja weh.«

      »Hat sie was Besseres verdient?« rief die robuste Frau erbost, mit hochrotem Kopf. »Immer wegzulaufen, und wir können sie immer wieder suchen. Marsch, ab jetzt!« Mit diesen Worten gab sie dem Mädchen einen kräftigen Klaps auf den Rücken.

      »Moment mal!« gebot Vera Einhalt. »Wer sind Sie überhaupt? Sind Sie Isabellas Mutter?«

      »Isabella, wieso Isabella?« fragte die Frau unwirsch. »Die hier heißt Laura, und eine Mutter gibt’s da nicht. Wir im Waisenhaus sorgen für das undankbare Geschöpf. Aber jetzt gibt’s Stubenarrest, das wirst du schon sehen!« Und sie zerrte das Kind mit sich fort. Es weinte nicht, das kleine Gesicht war verkrampft, ohne einen Hauch von Farbe, aber den Blick, den es zurückwarf, würde Vera nie vergessen.

      Sehr langsam ging sie zurück. Waisenhaus… Es war also alles gelogen, was Isabella, nein, Laura, ihr erzählt hatte.

      »Was war’n da los?« fragte Claus neugierig.

      »Nichts weiter, mach deine Schularbeiten«, antwortete Vera.

      Jenny holte ihre Kinder am Abend ab, und Ruhe kehrte im Haus ein.

      »Du bist ja so still heute, Vera«, sagte Edgar, dem seine Frau ungewohnt einsilbig vorkam. »War irgendwas?«

      »Gibt es hier in der Nähe eigentlich ein Waisenhaus?« fragte Vera so unvermittelt, daß er erstaunt aufblickte.

      »Nicht, daß ich wüßte. Oder doch, warte mal, am Stübeweg, dort, wo die alten Mietshäuser stehen, habe ich im Vorbeifahren schon manchmal eine Kinderschar gesehen, die da auf dem Hof spielte. Das könnte so etwas sein.«

      »Aber das ist doch ziemlich weit«, bemerkte Vera nachdenklich.

      »Ja, ein ganzes Stück. Wie kommst du darauf?«

      »Das Kind ist dort, Isabella, die eigentlich Laura heißt.« Und sie erzählte ihm, was am Nachmittag vorgefallen war.

      »Da hat sie uns ja eine schöne Lügengeschichte aufgetischt. Daß irgend etwas daran nicht stimmte, hatte ich mir schon fast gedacht.« Edgar lachte kurz auf. »Aber Phantasie hat sie, das muß man ihr lassen. Na, in Zukunft werden sie wohl besser auf sie aufpassen.«

      Vera saß mit gesenkten Lidern. »Wie sie mich nur angesehen hat, als sie sich nach mir umdrehte«, sprach sie leise vor sich hin.

      »Nun laß dir das nicht so unter die Haut gehen«, sagte ihr Mann, und damit war die Sache für ihn erledigt.

      Aber für Vera war sie es nicht. Sie mußte oft an das kleine Mädchen denken, sie konnte ihm auch nicht wirklich böse sein, daß es sie so angelogen hatte. Dieses Kind war nicht schlecht, das glaubte sie zu wissen. Es hatte sich ein Märchen zurechtgesponnen, darin eine liebe Mama und Geschwister und ein Papa vorkamen, der in einem schönen Auto mit ihnen ausfuhr. Manchmal mochten sich Traum und Wirklichkeit bei ihm verwischt haben. Hier, bei ihnen, hatte Isabella ein Stück von ihrer Märchenwelt gefunden, deshalb hatte es sie immer wieder hergezogen.

      Woher sie wohl kam? Ob sie niemanden mehr auf der Welt hatte?

      Da es ihr nicht aus dem Kopf gehen wollte, machte sie sich eines Tages auf in diese andere Gegend, wo die hübschen, von Gärten umgebenen Einfamilienhäuser großen grauen Häusern billiger Bauweise wichen. An einem davon, im Stübeweg, war ein Schild angebracht: Karolinen Haus! stand darauf, weiter nichts. Einige Kinder spielten im Hof mit leeren Büchsen, daß es nur so schepperte. Sie unterbrachen kurz ihr Spiel und sahen ihr neugierig nach. »Wo wollen Sie denn hin?« rief ein Junge. »Sie haben sich wohl verlaufen.« Denn wenn schon mal Besuch für jemand von ihnen kam, sah er bestimmt nicht so aus.

      Vera achtete nicht darauf, sie ging in das Haus. Dort lief sie ausgerechnet der Frau in die Arme, die so unsanft mit Isabella umgegangen war. Diese erkannte sie wieder. »Was wollen Sie hier?« fragte sie barsch.

      »Ich wollte das Kind gern mal sehen, das manchmal bei mir war«, antwortete Vera fest und sah der anderen gerade in die Augen.

      »Das können Sie nicht, die ist noch eingesperrt«, kam es wie vorher zurück.

      Vera straffte sich.

      »Hören Sie, so können Sie mich nicht abfertigen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es verboten sein soll, hier ein Heimkind zu besuchen.«

      Bei dem bestimmten Ton schien die andere etwas kleiner zu werden. Sie zuckte die Achseln. »Sie können ja mal mit Frau Behrend sprechen. Da hinten links, die letzte Tür ist es.«

      Als sie ihr gegenübertrat, erkannte Vera sofort, daß sich mit dieser Frau anders würde reden lassen. Das Gesicht war nicht unsympathisch unter dem leicht ergrauten Haar, ihr Blick war aufmerksam und freundlich auf die Besucherin gerichtet.

      »Mein Name ist Vera Gerstner. Ich komme wegen Laura, die ich allerdings unter dem Namen Isabella kannte.«

      »Ach, Sie sind das, bei Ihnen wurde die Ausreißerin