Claudia Torwegge

Mami Box 1 – Familienroman


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Kind suchten. Mir hat sie etwas von einer Familie erzählt, und ich nahm an, daß sie in der Nähe wohnte. Sie war ja auch nie lange bei mir, eine Stunde oder anderthalb, mehr nicht.«

      »Und eine Stunde brauchte sie für den Weg hin und zurück, und wir haben uns den Kopf zerbrochen, wo sie steckte«, sagte Frau Behrend unmutig.

      »Es tut mir leid«, sagte Vera.

      »Sie trifft ja keine Schuld«, lenkte die Heimleiterin ein. »Aber wie ist sie denn nur gerade auf Sie gekommen?«

      »Ich weiß es nicht. Sie war immer ganz glücklich, wenn sie bei mir war. Ich brachte es nicht übers Herz, sie fortzuschicken. Kann ich Laura denn noch einmal sehen? Die Frau, die ich draußen auf dem Gang traf, wollte es mir verwehren. Die war es auch, die das Kind bei mir aufgespürt und wie ein Bündel hinter sich her gezogen hat.«

      »Das ist Frau Kunze, die hier die Aufsicht hat. Sie hat sich immer maßlos über Lauras Verschwinden und ihr Verstocktsein geärgert.«

      »Aber so grob brauchte sie deshalb nicht mit ihr umzugehen«, behauptete Vera mit leichtem Vorwurf.

      »Mit Güte und Nachsicht ist es hier nicht immer getan, Frau Gerstner«, wies Adele Behrend diesen zurück. »Manchmal muß man schon hart durchgreifen, sonst tanzen sie einem auf dem Kopf herum. Aber wenn Sie Laura sehen wollen, bitte. Sie ist im Schlafsaal im 1. Stock. Sie können hinaufgehen.«

      »Darf sie nicht raus?«

      »Nein! Strafe muß sein«, erwiderte Frau Behrend.

      Was für ein düsteren, häßliches Haus das doch war, mußte Vera denken, als sie die ausgetretenen Stufen emporstieg. Ob es in allen Waisenhäusern so aussah, fragte sie sich beklommen. Von irgendwoher hörte sie heftig streitende Kinderstimmen, sie beschimpften sich gegenseitig mit den übelsten Worten.

      Sie fand Laura in dem großen leeren Schlafsaal auf einem der vielen schmalen Betten liegend, den Kopf in eine graue Wolldecke gebohrt. Schlief sie? Vera berührte sie an der Schulter. »Hallo, Isabella«, redete sie sie an, so wie sie sie immer genannt hatte. Das Kind zuckte sofort empor und sah sie ungläubig an. »Aber jetzt muß ich ja Laura zu dir sagen«, fuhr Vera in leichtem Ton fort. »Warum hast du mir denn nicht deinen richtigen Namen genannt, hm? Laura ist doch auch ein hübscher Name.«

      Die Kleine wurde glühendrot, sie warf sich zurück und versteckte ihr Gesicht in der Decke. Vera wartete einige Sekunden, dann sagte sie: »Nun komm schon, ich habe den Weg hierher nicht gemacht, damit du dich jetzt vor mir versteckst.«

      »Sind Sie mir denn nicht böse?« kam es halberstickt zurück.

      »Sonst wäre ich ja nicht hier. Aber daß du mich so sehr angeschwindelt hast, das war natürlich nicht richtig von dir.«

      »Sie hätten mich doch sonst gleich zurückgeschickt, weil man hier nicht fortlaufen darf.«

      »Aber lügen darf man auch nicht«, hielt Vera ihr vor.

      »So gelogen war das doch nicht.« Laura richtete sich auf und sah Vera mit einem dunklen, unkindlichen Blick an. »Ganz oft hab ich lange und fest die Augen zugemacht, und dann war es wahr. Wirklich wahr.«

      »Aber doch nur in deiner Vorstellung«, sagte Vera sanft. »Wieso hast du denn eigentlich zu mir gefunden? Es ist doch weit. Setz dich mal richtig hin, und ich setz mich neben dich, und du erzählst es mir.«

      Laura gehorchte. Sie strich über ihr zerknittertes Kleidchen, es war dasselbe, das sie immer trug, und sie begann: »Wie ich mal wieder weggelaufen und so rumgegangen war, da bin ich immer weitergegangen, bis zu den schönen Häusern, da, wo alles ganz anders ist, so Gärten und Blumen und Bäume, und da hab ich Sie mehrmals gesehen, und da bin ich immer wieder hin, bis Sie mich mal gerufen haben und mit mir gesprochen haben. Das war so schön. Ich hab mir gewünscht, das würde nie aufhören.«

      »Ach, Laura, du bist mir eine rechte Träumerin.« Wieder war Vera seltsam gerührt über dieses Kind.

      »Wenn ich nicht träumen würde, wollte ich lieber nicht mehr am Leben sein«, sagte Laura und sah zu Boden.

      Vera erschrak über diese Worte einer Sechsjährigen. »Ist es so schlimm hier?« fragte sie leise. Es war eine überflüssige Frage, hatte sich die Atmosphäre dieses Hauses ihr selber schon beklemmend auf die Brust gelegt.

      Laura zuckte die Achseln und schwieg. »Bist du schon lange hier?« forschte Vera weiter.

      »Schon immer. Ja, ich glaube, schon immer«, sagte das Kind und bewegte die Zehen an den kleinen bloßen Füßen.

      »Und da ist niemand, der manchmal zu dir kommt und sich um dich kümmert?«

      »Nein, wer soll denn kommen?« Es klang verwundert. Vera, die neben ihr auf dem schmalen Bett saß, strich ihr mitleidig über das Ärmchen. Da hob Laura den Kopf, ein scheues Lächeln flog über ihr blasses Gesicht. »Aber jetzt sind Sie gekommen, wo ich nicht mehr zu Ihnen darf!«

      »Das werden wir sehen, Laura.« Vera erhob sich, im gleichen Moment sprang das Kind auf. »Müssen Sie jetzt schon wieder gehen?« fragte es angstvoll.

      »Ich komme wieder«, versprach Vera.

      Sie begab sich wieder zu Frau Behrend, die mit sorgenvoller Miene an ihrem Schreibtisch über Akten saß.

      »Ich würde gerne Näheres über Lauras Schicksal wissen«, sagte Vera. »Das Kind wollte ich nicht ausfragen. Es scheint sich selber nicht sicher über seine Herkunft zu sein. Sie werden mir etwas darüber sagen können.«

      »Leider nicht viel, Frau Gerstner.« Mit einer Handbewegung bot sie Vera Platz an, schob die Akten ein wenig beiseite und legte die Fingerspitzen zusammen. »Laura Pavel, wie sie mit vollem Namen heißt, war knapp zwei, als sie aus einem Kinderheim zu uns überwiesen wurde, weil dort keine Zahlungen mehr eingingen. Hier leben die, für die der Staat sorgen muß, die Fürsorge, das Sozialamt, und die Zuschüsse sind knapp. Deshalb sieht es hier auch so aus.« Ihr Blick ging durch den Raum, dessen nackte Wände dringend eines Anstrichs bedurften.

      Der Zustand des Hauses interessierte Vera im Moment weniger. »Demnach hat sie keine Eltern mehr, auch keine Angehörigen?« kam sie auf das Thema Laura zurück. »Wer hatte sie denn in jenes andere Heim gebracht?«

      »Das müssen Pflegeeltern gewesen sein, die aber dann auch nichts mehr von sich hören ließen. Offiziell ist da weiter nichts bekannt. Laura kam und blieb. Wo sollte sie denn auch hin?«

      »Wo ist sie denn geboren, wissen Sie das?«

      »Nein. Es liegen ja keinerlei Papiere vor. Nur das Geburtsdatum wurde seinerzeit angegeben. Am 16. Mai ist sie sechs geworden.«

      »Das ist ja seltsam. So ein verlorenes Kind…« Vera schüttelte den Kopf.

      »So seltsam ist das gar nicht, Frau Gerstner«, sagte die Heimleiterin. »Es gibt viele Kinder, die verlassen und vergessen sind. Und es werden täglich mehr. Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Scheidungen und Drogen zwingen Eltern, ihre Kinder wegzugeben. Deshalb sind die Heime bis oben hin voll. Ja, das ist eine sehr traurige Entwicklung.«

      »Das verstehe ich nicht. Ich denke, es gibt so viele adoptionswillige Paare«, warf Vera ein.

      »Davon scheitert ein großer Teil an den strengen Adoptionsgesetzen, manche scheuen auch den Weg durch sämtliche bürokratische Instanzen, der ziemlich mühevoll ist. Ein anderer Grund ist, daß sich immer weniger Familien finden, die bereit sind, Kinder aufzunehmen. Die meisten sagen: Eins reicht, wir sind froh, den Rücken frei zu haben, reisen zu können… Die Welt ist kalt geworden, Frau Gerstner.«

      Ein Anruf unterbrach ihr Gespräch. Vera sah zum Fenster hin. Sie dachte über das nach, was die Heimleiterin ihr gesagt hatte. Dennoch vernahm sie deren Protest: »Aber man hatte den Leuten doch angeboten, ihnen mit pädagogischen Hilfen zur Seite zu stehen! Da sollten sie doch nicht jetzt schon nach wenigen Wochen die Flinte ins Korn werden. Für den Jürgen bedeutet das eine Katastrophe, wenn er wiederum abgeschoben wird.«

      So ging das noch eine Weile hin und her, bis Frau Behrend mit einem schweren Seufzer den Hörer