Will Berthold

Tödliches Glück


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sagte der Mann am Steuer. „Ich hab’ schon zwei rote Stempel. Du weißt ja, Kumpel, bei fünfen ist es Sense.“

      Der Viehtransporter war für mich wie maßgeschneidert. Der Fahrer hatte seine drei Zigaretten weg. Um ihn bei Laune zu halten, bot ich ihm eine vierte an.

      „Wieviel haste denn noch, Kumpel?“ fragte er lauernd.

      Ich zählte nach. „Acht“, antwortete ich.

      „Wenn’ste mir die Hälfte abgibst, mach’ ich ’nen Umweg und fahr’ dich nach Potsdam.“

      „Das is’n Wort“, erwiderte ich.

      Der Schweinetransporteur wählte eine Abkürzung, aber kurz nach dem Schild „Potsdam fünf Kilometer“, nach einer übersichtlichen Kurve, fuhren wir in die nächste Polizeisperre.

      Mitten in der Straße stand ein Vopo mit der Kelle.

      „Ausweis, Führerschein“, sagte er im barschen Ton.

      Zum Glück präsentierte der Fahrer zuerst den Führerschein, und die roten Stempel stachen den Hütern des Gesetzes so in die Augen, daß sie Auspuff, Scheinwerfer, zulässiges Ladegewicht, Hupe und Winker gründlicher kontrollierten als meine Ausweispapiere.

      Es war gut gegangen – aber die letzte Meile ist die längste, vor allem auf dem Weg nach Berlin.

      Eine Viertelstunde später hatte mich mein ahnungsloser Fluchthelfer nach Potsdam geschafft. Er hielt an, um mich abzusetzen, übrigens in der Nähe von Schloß Sanssouci, zu deutsch: ohne Sorgen, und das war wohl die Untertreibung des Tages. Obwohl es von Potsdam aus nur noch ein Katzensprung nach Berlin war, freilich zu den Westsektoren – und sie waren momentan sorgfältiger bewacht als der Kronschatz in Londons Tower. Ich konnte nur über den östlichen Teil die ehemalige Reichshauptstadt erreichen, und das bedeutete, daß ich sie auf der Südseite umfahren mußte.

      „Sag mal“, fragte ich im plötzlichen Entschluß den Fahrer der LPG-Ludwigsfelde. „Dir pressiert’s wohl nicht so?“

      „Nee. Eijentlich gar nich. Kann doch alles auf die Vopos schieben, die mir ständig uffjehalten haben.“

      „Dann kommen wir vielleicht noch einmal ins Geschäft“, erwiderte ich lockend.

      Der Fahrer ließ sich leicht überreden; er stellte seinen Wagen ab und ging in das Café im „Haus des Handwerks“ an der Wilhelm-Pieck-Straße, ganz in der Nähe des sowjetischen Ehrenmals, das die Einheimischen „die unbekannten Plünderer“ nennen. Ich erwarb im HO-Warenhaus einige Requisiten für meine Rolle als Urlauber Martin Lange, kaufte ein knallbuntes Hemd, einen grünen Regenmantel, eine Schlägermütze. Ein Stockwerk tiefer erwarb ich einen kleinen Koffer und ein paar Angel-Utensilien. In der Parfümerieabteilung kaufte ich noch Rasier- und Waschzeug.

      Dann ging ich auf die Toilette, wechselte das Hemd und verstaute den speckigen Pullover im neuen guten Stück aus Kunstleder. Staub gab es genug; ich machte meinen Finger feucht und verlieh dem Handköfferchen Patina. Rasier- und Zahncreme drückte ich halb aus der Tube; die Zahnbürste machte ich naß.

      Es gab für mich nunmehr zwei Möglichkeiten: den Versuch, mich querfeldein nach Berlin durchzuschlagen, oder legal durch die Vopo-Kontrolle zu gehen. Schnappten sie mich beim illegalen Versuch, wäre ich erledigt. Wenn ich mich freiwillig der Kontrolle stellte, hatte ich eine weit größere Chance durchzukommen, denn im Vorgelände der Reichshauptstadt hielten die Uniformierten weniger nach Fritz Stenglein als nach Republikflüchtlingen Ausschau, wiesen jeden zweiten zurück und sahen vor lauter Bäumen keinen Wald mehr. Ich machte mir die Regel Mao Tsetungs zu eigen, „im Strom der Fische“ zu schwimmen.

      Ich ging in das Haus des Handwerks zurück. Die Kellner machten einen großen Bogen um meinen Freund, es lag wohl am schweinischen Geruch, der ihm anhaftete, aber dann merkte ich, daß sie auch bei mir die Nase rümpften, und ich sagte mir befriedigt: Gestank isoliert. Es konnte mir nur lieb sein, wenn mir heute keiner zu nahe käme.

      „Mensch, hast du dir ausstaffiert“, begrüßte mich der Schweinekutscher anerkennend. „Haste immer noch Pinke-Pinke?“

      Er saß unter einem riesigen Gemälde von Adolf Hennecke, der sich 1948 durch ein vielfaches Soll zum „Helden der Arbeit“ empormalocht hatte.

      Ich deutete auf den Zonen-Stachanow:

      „Paß bloß auf, daß er dich nicht ansteckt“, sagte ich.

      „Der“, erwiderte der Fahrer, „der trägt jetzt weiße Hemden und hat saubere Hände und guckt nur noch zu, wie die anderen sich mit der hochjeschraubten Arbeitsnorm abrackern.“ Er grinste und betrachtete skeptisch die Ostzigaretten, die ich für ihn erworben hatte, nahm sie aber doch: „Det Janze nennt sich dann sozialistischer Wettbewerb.“

      „Ich würde meinen Lautsprecher etwas dämpfen“, riet ich ihm.

      „Vor dir brauch’ ich doch keene Angst zu haben.“

      „Besser wär’s, du würdest niemanden trauen“, antwortete ich, machte eine hohle Hand und setzte hinzu: „Quasi –“

      Mehr brauchte ich nicht zu sagen; es war die volkstümliche Umschreibung für Stasi. Ich zahlte, und wir gingen. Der LPG-Fahrer war sichtbar stiller geworden. Vielleicht hielt er mich jetzt für einen Spitzel. Jedenfalls setzte er mich sichtbar erleichtert an einer Omnibushaltestelle ab.

      Ich erreichte Königswusterhausen, fuhr eine kurze Wegstrecke per Anhalter und stieg in den Vorortzug um. Er war überfüllt, er würde viermal halten.

      Dann käme die Entscheidung.

      Es war ein Rechenfehler.

      Der Personenzug hielt auf freier Strecke. Was sich hier kurz vor Einbruch der Dämmerung abspielte, konnte sich nur ein totalitärer Staat erlauben: Alle Reisenden mußten das Abteil verlassen. Mitten auf der Wiese waren ein paar Tische aufgestellt. Vopos nahmen die Kontrollen vor. Wer ohne Gepäck reiste, hatte es etwas leichter. Wer zum Beispiel Tafelsilber bei sich hatte, wie zwei unglückliche Frauen von Dresden, wurde gleich zu einem Omnibus abgeführt, der sicher zur nächsten Polizeidienststelle rollte. Laute wurden leise, bisher Stille randalierten. Bereits die Absicht, heimlich die Republik zu verlassen, war mit zwei Jahren Haftstrafe bedroht.

      Ich hielt mich in der Mitte, und das in jeder Hinsicht, sowohl im Gedränge wie mit dem Protest. Wer als einwandfrei befunden wurde, durfte wieder in die vorderen Waggons einsteigen. Es ging ziemlich rasch. Die Kontrolleure waren ein eingespieltes Team.

      Ich präsentierte meinen aufgeschlagenen Ausweis.

      „Und das ist Ihr Gepäck?“ fragte ein Unteroffizier und deutete auf meinen Handkoffer.

      Ich legte ihn auf den Tisch.

      „Sperren Sie ihn bitte auf.“ Er warf einen Blick in meinen Ausweis: „Herr Lange.“

      „Er ist offen“, antwortete ich.

      Das Schnappschloß ging auf. Der Unteroffizier wühlte in den getragenen Klamotten, betrachtete die anderen Utensilien: „Ein sehr ordentlicher Mensch sind Sie ja nicht gerade“, stellte er angewidert fest – aber schließlich war ich weder bei der Volkspolizei noch bei den nationalen Streitkräften als Rekrut eingezogen worden, und außerdem haftete an mir ein ziemlich volksnaher Geruch.

      Neben dem Tisch stand ein Funkstreifenwagen, der über Radiotelefon Verbindung zum Einwohnermeldeamt und sicher auch zur Fahndungsstelle der Kriminalpolizei herstellte. Es war wirklich erstaunlich, daß trotz dieser Absperrungspraktiken an diesem Tag an die zweitausend Menschen nach drüben entkommen konnten.

      „Personenfeststellung“, rief der Unteroffizier seinem Funker zu. „Ein Martin Lange, Angestellter, geboren am 17. 3. 26, beschäftigt beim Fernsehen in Adlerhorst. Ist der Mann in Berlin, Friedrichstraße polizeilich gemeldet?“

      Der Vopo von der Funkstreife gab die Daten durch. Der Unteroffizier schloß zögernd den Koffer und sah mich streng an. Die nächsten Sekunden vergingen tranig und träge. Ich hoffte mit der Inbrunst eines Gebets, daß die Republikflucht meines Namensgebers noch nicht entdeckt