freilich ausschließlich General Gehlen definierte, was deutsche Belange seien: Deutsch war, in dieser Zeit, was Pullach nutzte und den Sowjets schadete.
Aus den Carepaket-Stipendiaten waren vierzehn Jahre später Bundesbeamte geworden, im Range von Inspektoren, Regierungsräten, Oberregierungsräten, Regierungsdirektoren, Ministerialräten und noch höher; aus einem Zehn-Millionen-Etat ein Hundert-Millionen-Bedarf, der wuchs und wuchs und wuchs. Aus ein paar hundert Idealisten und Desperados, arbeitslosen Generalstabsoffizieren und Verlegenheitszivilisten Tausende von Mitarbeitern, unter ihnen jetzt auch erstklassige Wissenschaftler und Techniker. Die erste elektronische Datenbank, die je bei einer deutschen Behörde installiert wurde, registrierte in Pullach Freund und Feind und half mit Lichtgeschwindigkeit den Spionen mit Pensionsberechtigung.
Pullach saß mit an Moskaus rundem Tisch, wenn das sowjetische Politbüro seine geheime Langzeitpolitik festlegte. Als Chefsekretärin des DDR-Ministerpräsidenten hatte eine Agentin Pullachs jahrelang streng vertrauliche Anweisungen mitstenografiert und jeweils noch am selben Tag in den Westen weitergeleitet. Zu den Gehlen-Agenten war ein stellvertretender DDR-Ministerpräsident ebenso gestoßen wie die rechte Hand des Sabotage-Spezialisten Wollweber und der auf einer Agentenschule in Moskau ausgebildete Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee Dombrowski, der um die Weihnachtszeit vorletzten Jahres mit zwei Koffern Geheimmaterial in den Westen geflüchtet war. Ein immenser Erfolg: Der Überläufer machte es möglich, Dutzende von in Westdeutschland operierenden Stasi-Agenten zu verhaften.
Seitdem freilich war der Teufel von der Kette. Untergrund-Operationen auf dem Staatsgebiet der DDR waren von SSD-Männern meist schon im Ansatz zerschlagen worden. Topagenten der zum Bundesnachrichtendienst (BND) avancierten ORG, die seit Kriegsende erfolgreich hinter dem Eisernen Vorhang gearbeitet hatten, wurden enttarnt oder mußten zurückgezogen werden.
Pullachs Sendboten waren im roten deutschen Osten bei der Verhaftung erschossen, bei der Vernehmung umgedreht worden, hatten sich nach verschärften Verhören in Haft selbst getötet oder saßen zu lebenslänglichen Strafen verurteilt in der Strafanstalt Bautzen. Jedenfalls wies Pullach zur Zeit mehr Versorgungsfälle auf als Erfolge vor. Jedem der Anwesenden im Chefbüro hatte sich der Verdacht schon einmal aufgedrängt, der von Dennert heute erstmals laut und pöbelhaft ausgesprochen worden war.
Der General kam nach der unerfreulichen Abschweifung wieder zur Sache. Er warf einen Blick auf die Unterlage, die ihm der tüchtige Grosse übergeben hatte. „Die Zahlen sind überprüft?“ fragte er.
„Mehrfach“, erwiderte der Referent. „Zur Zeit hat sich die Zahl der Republikflüchtlinge von täglich vierhundert auf fünfzehnhundert erhöht. Hier handelt es sich um offizielle Angaben ohne Berücksichtigung der Dunkelziffer. Nach unseren Erfahrungen kommt zunächst jeder dritte von drüben bei westlichen Verwandten unter und läßt sich erst später registrieren.“
„Oder nie, falls er auf Kosten des zonalen Staatssicherheitsdienstes reist“, warf Dennert ein, als wüßte man es nicht in dieser Runde; er war heute rabiat und bewies dadurch eigentlich nur seine Ohnmacht. Natürlich hatte der zweitoberste Hauspolizist längst unter der Hand den Maulwurf gesucht und verfehlt. Männer, die in Pullach arbeiteten, waren so transigent wie ihr Gewerbe undurchsichtig. Sie lebten auf viel zu kleinem Raum zusammen, um nicht voneinander alles – oder fast alles – zu wissen. Keiner von ihnen bedeutete ein Sicherheitsrisiko, obwohl fast jeder einige Minuspunkte aufwies. Aber Dennert wußte aus Erfahrung, daß die Unverdächtigsten oft die Gesuchten sind.
Wo sollte er mit der Wertung beginnen in einer Dienststelle, die auf einen einzigen Mann fixiert war, der selbst aus Erfurt stammte, der west-thüringischen Stadt innerhalb des sowjetischen Machtbereichs. Der General hatte in der DDR Verwandte, Freunde, Bekannte – aber er stand natürlich und logisch außerhalb jeden Verdachts. Es nutzte Dennert wenig, zu wissen, daß Schlukkesafts Ehe kaputt war, daß Söldner ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hatte, daß Karsunkes Kinder ziemlich zwecklos von einem Internat ins andere zogen, daß Ballauf aus Sachsen kam und Grosse schon zweimal beim Roulett in Bad Wiessee gesehen worden war.
Manche tranken zuviel, lebten auf zu großem Fuß oder bewiesen durch ihren Geiz ihre besondere Geldgier. Es waren menschliche, allzu menschliche Eigenschaften. Familiäre oder freundschaftliche Bande hatte fast jeder in den anderen Teil Deutschlands. Hier mußte Dennert sich selbst miteinschließen.
Was konnte er noch tun?
Der General hatte Familiensinn und sechzehn Verwandte bei seiner zur Behörde gewordenen Spionageorganisation in recht gute Pfründe gehievt. Lag hier das faule Ei im Nest? Zur Pullacher Mafia gehörte fraglos auch Lilo, die einflußreiche Sekretärin des Generals, die alles wußte und ohne die im Camp einfach nichts ging. Natürlich war Lilo zuverlässig, aber „Gänseblümchen“, die Spionin im Vorzimmer Grotewohls, war es auch gewesen, bis man nach ihrer Enttarnung das eingemottete Nazi-Fallbeil wieder ausgegraben und sie geköpft hatte.
Sicherheit: Das war ein Kampf mit Windmühlenflügeln, geführt von Kontrolleuren, bei denen sich die Frage stellte, wer sie kontrollierte. Noch immer wurde Pullach mit der CIA wie mit einer Nabelschnur verbunden. Jahrelang waren allmorgendlich an die fünfzig US-Kontroll-Offiziere in Pullachs Heilmannsstraße gezogen, die nicht zufällig von GIs bewacht wurde. Die westlichen Geheimdienste lebten in einer Art Verbundsystem, tauschten wenigstens zum Teil ihre Nachrichten aus.
War einer der Amerikaner faul, oder mußte man die undichte Stelle bei den Franzosen vermuten, in deren Reihen es aus Resistance-Zeiten noch Kommunisten gab? Wer garantierte, daß bei den Engländern alles intakt war, daß sie die Katastrophenfälle wie zum Beispiel Fuchs und Burges hinter sich hatten? Oder bei der NATO in Brüssel, die sich ein paarmal unangenehm über die Durchstechereien beim Bundesnachrichtendienst beschwert hatten, die angeblich ihre Schlagkraft in Frage stellten.
Dennert war verzweifelt, auch wenn er es nicht zugab. Es ging ihm wie einem Toningenieur, der durch den Umgang mit Lautstärke das Gehör zu verlieren drohte. Bedeutete die Hellsichtigkeit des Vizechefs vom Strategischen Dienst nicht letztlich eine Art Betriebsblindheit? Ein Bankier neigt dazu, in seinen Klienten Defraudanten zu sehen, ein Pfarrer in seiner Gemeinde Sünder, ein Arzt überall Patienten, ein Finanzbeamter in jedem einen Steuerhinterzieher. Und so war es nicht verwunderlich, daß ein Sicherheitsbeauftragter, dessen Handwerkszeug das Mißtrauen sein muß, nach Verdächtigen Ausschau hält wie ein Regenwurm nach Wasserpfützen.
Dennert folgte wieder der Besprechung und stellte fest, daß selbst Pullachs Nummer eins heute unkonzentriert wirkte und eigentlich unnötige Fragen zweimal stellte: Das Pulverfaß Berlin, in das Pankow ständig Funken warf, machte ihn besorgt, die BND-Rückschläge nervös.
„Sie nehmen an“, wiederholte er, „daß dieser Run in den Westen mit den Straßenumleitungen, Transportbewegungen und den achtzigtausend DDR-Soldaten rings um Berlin zusammenhängt?“
„Fraglos“, erwiderte Schluckesaft und führte seine Tüchtigkeit vor, wie man einen Wasserhahn aufdreht. „Wir erwarten in den nächsten Tagen den zweihunderttausendsten Flüchtling“, schloß er, „und das Jahr 1961 ist noch nicht zu Ende, und das heißt, daß dreieinhalb Millionen Ostdeutsche, bald jeder fünfte der Gesamtbevölkerung, diesen Hau-ab-Staat verlassen hat. Selbst diese Zahl verfremdet noch das Bild, denn fast jeder zweite ist unter fünfundzwanzig, und fast zwei von drei unter vierzig Jahre alt, und von diesen wiederum waren die meisten Wissenschaftler, Lehrer, Professoren, Ingenieure und Ärzte –“
„– und Polisten“, warf Dennert ein. „Fünfzehntausend Vopos. Mit anderen Worten: eine ganze Division.“
Die Anwesenden lachten befreit; wenn es auch nicht neu war, blieb es doch ein durchschlagbarer Witz, daß junge, politisch geschulte Soldaten, die die Flucht der Bevölkerung verhindern sollten, in solcher Zahl selbst an ihr teilnahmen.
„Was nennen Sie Abriegelung, Schluckesaft?“ fragte der General.
„Eine totale Abschnürung. Eine Grenzsperre, durch die keiner mehr kommt.“
Der General wirkte skeptisch. „Wie wollen Sie eine 1381 Kilometer lange Grenze abriegeln?“ fragte er. „Wie können Sie ein Gebiet hermetisch absperren, das so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen ist?“