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Inhalt
Für meine Eltern.
Kapitel 1
Bumm-Bumm-Bumm. Bumm-Bumm-Bumm. Wie Herzschläge, schoss es Greta durch den Kopf. Sie lauschte dem Takt der Schläge, drei Mal kurz, eine Pause, wieder drei Mal kurz. Dumpf und leise, aber auf eine seltsame Weise beunruhigend, so dass sie nicht einschlafen konnte.
Sie drehte sich herum, sah zum Bett ihres Bruders hinüber. Hannes hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Decke.
„Kannst du auch nicht schlafen?“, flüsterte Greta leise.
Hannes schnaubte durch die Nase. „Nein. Du redest ja ständig mit mir.“ „Oh.“
Eine Weile waren sie still und horchten auf das dunkle Dröhnen der Schläge.
Bumm-Bumm-Bumm. Bumm-Bumm-Bumm.
„Wie lang will er das noch machen?“, entfuhr es Hannes.
Greta zuckte mit den Schultern. „Er fühlt sich dann besser.“
„Das ist schön für ihn“, ätzte Hannes. „Aber ich kann dabei nicht schlafen.“ Er korrigierte sich: „Wir können dabei nicht schlafen. Morgen ist Schule.“
Greta kicherte. „Seit wann interessiert dich, ob morgen Schule ist?“
„Interessiert mich schon, weil ich dann früh aufstehen muss. Das vergisst er nie.“
Hannes hatte Recht. Ihr Vater vergaß so einiges. Die Pausenbrote zum Beispiel. Die Überweisung für den Klassenausflug. Dass er versprochen hatte, mit ihnen ein Brettspiel zu spielen. Aber was er niemals vergaß, war, ob sie an einem Tag Unterricht hatten oder nicht.
„Ich gehe gern zur Schule“, sagte Greta unvermittelt in die Stille hinein.
„Ich bin auch gern zur Schule gegangen, als ich in der siebten Klasse war“, grummelte Hannes. „Komm du mal in meine. Ihr macht ja nichts anderes als Ausmalbildchen und so.“
„Stimmt doch gar nicht“, widersprach Greta. „Und das weißt du auch. Es ist so: In der Schule ist alles … normal. Wie früher. Bevor …“
„Bevor er sich den bescheuerten Sandsack gekauft hat“, unterbrach Hannes.
„Nein. Ja, auch. Ich meine …“
Hannes schnitt ihr das Wort ab. „Ich weiß, ich weiß. Lass uns nicht darüber reden.“
„Wir reden nie darüber. Über Mama.“
„Was würde das ändern? Sie ist fort, ok? Und sie kommt auch nicht wieder.“
„Das weiß ich.“ Tränen stiegen in Gretas Augen. Sie blinzelte heftig, aber sie ließen sich nicht zurückdrängen. Sie gab den Widerstand auf, ließ sie fließen. Lautlos rannen die Tränen über ihre Wangen und versickerten in ihrem Kissen.
Der anfängliche Schock über den Tod ihrer Mutter war abgeklungen. Taub und stumpf, so hatte sich die erste Zeit angefühlt. Daneben Verständnislosigkeit. Ihre Mutter hatte wiederholt und immer lächelnd versichert, dass alles gut werden würde. Dass sie die Krankheit überwinden würde. Aber am Ende hatte sich herausgestellt, dass sie ihnen nicht die Wahrheit gesagt oder sie selbst nicht gekannt hatte, und der Krebs hatte gewonnen. Anfangs hatte Greta jede Nacht von der Krankheit geträumt, von einem Monster, das ihn der Dunkelheit kauerte. Diese Träume waren nach und nach seltener geworden. Und die Stumpfheit hatte sich in Schmerz verwandelt. Wie bei einer Zahnbehandlung, wenn die Spritze langsam aufhörte, zu wirken. Manchmal war es so schlimm, dass Greta meinte, nicht mehr atmen zu können. Aber wenn sie in der Schule war, dann konnte sie ein paar Stunden glauben, dass sich nichts verändert hatte, dass sie bald nach Hause gehen würde, wo ihre Mutter auf sie wartete. Und so verschonte sie der Schmerz eine Zeitlang, bis er sie mit voller Wucht traf, in dem Moment, in dem sie die Haustür öffnete und das Haus leer vorfand.
Oder dem Fremden begegnete, der dort mit ihnen wohnte. Der einst ihr Vater gewesen war und den sie nicht mehr wiedererkannte.
Sie wusste, wieso Hannes nicht mit ihr über ihre Mutter sprechen wollte. Auch ihr Vater vermied es. Und so war sie allein.
Sie hörte, wie sich Hannes in seinem Bett bewegte. Er stand auf und kam zu ihrem Schlafsofa herüber, ein schwarzer Umriss in ihrem dunklen Zimmer. Er setzte sich vor das Sofa, lehnte sich mit dem Rücken daran und hob die rechte Hand über seine Schulter. Greta griff nach ihr, hielt sie fest. Sie sprachen kein Wort. Und irgendwann schlief sie ein.
*
Der September gab sich alle Mühe. So hatte es Gretas Lehrerin ausgedrückt, und Greta fand, dass sie damit recht hatte. Der Himmel war leuchtend blau, keine Wolke in Sicht. Die Sonne strahlte aus voller Kraft, es war wunderbar warm und Greta war in T-Shirt, Shorts und Sandalen unterwegs. Sie liebte warmes Wetter, die Leichtigkeit, die es brachte, weil man nicht laufend Schirm, Schal und Jacke mit sich herumschleppen musste. Beschwingt setzte Greta einen Fuß vor den anderen, ihr lockiger Pferdeschwanz hüpfte auf ihren Schultern hin und her. Am Spielplatz nahm sie sich die Zeit und balancierte über eine Reihe aus in den Sand eingelassenen Holzpfosten. Von dort folgte sie einem Schmetterling, der denselben Weg nahm wie sie, bis zu dem Sommerfliederstrauch im Garten einer ihrer Nachbarn. Sie beobachtete, wie der Schmetterling – es war ein Kleiner Fuchs – scheinbar unschlüssig über den lilafarbenen Blüten des Sommerflieders schwirrte.
„Wieso heißt du eigentlich Kleiner Fuchs?“, fragte sie den Schmetterling versonnen. Sie nahm sich vor, diese Frage ihrer Biologielehrerin zu stellen, und setzte ihren Rucksack ab, um den kleinen Stundenplan aus der vorderen Tasche zu ziehen. Die nächste Biologiestunde war am kommenden Mittwoch.
Dann stand sie da, den Stundenplan in der Hand. Sie starrte darauf, ohne ihn zu sehen. Aber da ihr nun nichts mehr einfiel, um ihre Heimkehr weiter zu verzögern, drehte sie sich um und sah über die Straße hinüber zu ihrem Haus.
Das Seltsame ist, dass es aussieht wie immer, dachte sie. Zwei Stockwerke, weißer Putz, hellbraune Ziegel auf dem Dach. Zwei Gauben. Glasscheiben schützten Besucher vor der Eingangstür vor Wind und Wetter. Der Vorgarten schlicht angelegt, mit Rindenmulch ausgestreut, einzelne pflegeleichte Gräser und Büsche darin verteilt. Eine Gießanlage versorgte die Pflanzen mit Wasser – ein schwarzer Schlauch mit Löchern darin, der wenige Zentimeter unter dem Rindenmulch an jeder Pflanze vorbeilief.
Mit langsamen Schritten ging Greta auf die Haustür zu. Der schwarze Schlauch, der am Hahn an der Hauswand begann und dann unter dem Rindenmulch verschwand, zog ihren Blick magisch an, sie wurde langsamer und blieb dann stehen, verlor sich in ihren Gedanken …
Dieser Tag ließ sich nur mit einem Wort beschreiben: perfekt. Die Sonne strahlte golden am wolkenlosen Himmel. Ein leichter Wind blies unablässig und milderte die Hitze. Bäume und Sträucher leuchteten satt grün. Es war einer dieser Tage, die man am Badesee verbrachte, wunderbar warm und leicht.