Wochenenden den ganzen Tag auf irgendeinem Fußballplatz in der Pampa rumgehangen.“
„Alle meine Freunde sind in der Mannschaft!“
„Fußball kannst du überall mit ihnen spielen. Wir haben damals einfach einen Ball …“
„Ach, hör doch auf“, ätzte Hannes und wandte sich ab, um seinen Vater stehenzulassen. Da entdeckte er Greta auf der Treppe. „Aha! Perfektes Timing.“ Er drehte sich wieder zu Vater um. „Und sie? Keine Klavierstunden mehr?“
Greta blieb die Luft weg. Bitte, nicht …
Ihr Vater sah sie an. „Den Klavierunterricht kriegen wir hin, keine Sorge.“
Greta konnte förmlich sehen, wie in Hannes’ Kopf etwas klickte. „Was?!“, schrie er, aber es klang gar nicht wie ein Wort. „Das ist nicht fair!“
„Fußball kann man überall spielen. Aber Klavier …“
„Das heilige Klavier!“, brüllte Hannes. „Und die heilige Greta! Und die allheilige Mama!“
„Genug!“, donnerte ihr Vater. „Geh mir sofort aus den Augen. Ich will dich nicht mehr sehen!“
Hannes stand einen Augenblick lang da, schwer atmend, mit geballten Fäusten. Dann traten ihm die Tränen in die Augen und er sprintete los, die Treppe hinauf, nicht ohne Greta im Vorbeirennen mit der Schulter zu rammen.
„Hannes“, bat sie leise, aber er hörte sie vermutlich nicht einmal, sondern verschwand in seinem Zimmer und knallte die Tür so fest zu, dass die Bilder im Treppenaufgang wackelten.
Sie wandte sich wieder ihrem Vater zu. „Papa …“
Er stand da, in der Mitte des Raumes. Auf dem Couchtisch standen die unvermeidliche Tasse kalter Kaffee und der Laptop, irgendein Textdokument war geöffnet. Ein Bewerbungsschreiben, wusste sie. Es war furchtbar still.
Ihr Vater rieb sich die Augen. „Tut mir leid“, sagte er hohl. Sie wusste, er sagte es, weil es sich so gehörte.
„Ist okay“, sagte sie, weil es sich so gehörte. Es war kein bisschen okay. Ihr Inneres war ein einziger schmerzhafter Krampf. „Kann ich dir irgendwas bringen? Frischen Kaffee?“
„Was?“, er wirkte verwirrt. „Äh, nein. Nein.“ Und etwas zu spät: „Danke.“
„Ich geh dann mal wieder rauf“, sagte sie und wies mit dem Daumen über ihre Schulter. „Hausaufgaben.“
Er nickte und ließ sich aufs Sofa fallen, wodurch er ihr den Rücken zuwandte. Sie verharrte, beobachtete ihn, aber er tat nichts. Zumindest nichts, was sie sehen oder hören konnte.
Sie drehte sich um und stieg die Treppe hinauf. Ihr Blick fiel auf das Bild, das ihre Mutter und die dreijährige Greta zeigte, die gemeinsam auf einem mit Samt bezogenen Klavierhocker saßen. Ihre Mutter strahlte in die Kamera. Die Greta von damals war so damit beschäftigt, die glänzenden weißen und schwarzen Tasten zu drücken, dass sie vermutlich gar nicht gemerkt hatte, dass sie fotografiert wurde. Mit zitternder Hand nahm Greta das Bild von seinem Nagel, drückte es an sich und schlich hinauf in ihr Zimmer.
*
Jetzt hatte sie den Zeitpunkt so lange hinausgezögert, wie sie konnte. Hatte den Schulranzen für den nächsten Tag gepackt, ihre Hausaufgaben zwei Mal kontrolliert, sich fürs Schlafen fertig gemacht und ein paar Seiten gelesen. Sie war sogar unter die Tagesdecke auf ihrem Bett gekrochen und hatte das Licht ausgemacht. Aber das hatte sie nur wenige Minuten ausgehalten, bevor die Wände und die Decke ihres Zimmers begonnen hatten, näher zu rücken.
Sie öffnete ihre Tür und trat hinaus auf den Flur. Unten brannte kein Licht mehr, aber sie wusste, dass das nichts heißen musste. Oft genug saß ihr Vater im Dunkeln auf der Couch oder in der Küche. Was er dann tat, wusste sie nicht.
Hannes’ Zimmertür war geschlossen.
Sie ging über den Flur, lauschte dabei angestrengt. Es war nichts zu hören. Bitte, dachte sie, sei nicht mehr sauer auf mich.
Vor Hannes’ Tür blieb sie stehen und holte tief Luft. Gerade, als sie die Hand hob, um zaghaft anzuklopfen, wurde die Tür von innen geöffnet. Hannes stand vor ihr im Dämmerlicht der kleinen Nachtlampe, die hinter ihm neben seinem Bett brannte.
„Da bist du ja“, sagte er. „Wollte dich gerade holen.“
Der Krampf in ihrem Inneren löste sich schlagartig auf und verwandelte sich in bleierne Erschöpfung. Ihre Knie begannen, zu zittern. „Hannes“, flüsterte sie, und in diesem einen Wort lag alles. Ihr Bedauern, dass er nicht mehr in den Fußballverein gehen konnte, ihre Scham, dass sie um nichts in der Welt den Klavierunterricht aufgeben wollte, ihre Trauer.
„Alles okay“, sagte er beruhigend und nahm sie in die Arme. „Tut mir leid, dass ich ausgerastet bin.“
Sie klammerte sich an ihn. „Mir tut es leid.“
„Ich weiß. Alles okay.“
Aber es war überhaupt nichts okay. Vor zwei Jahren war ihre heile Welt aus den Fugen geraten und seither war nichts in ihrem Leben auch nur annähernd mehr okay.
*
Gretas Augen begannen, zuzufallen, kaum dass sie auf Hannes’ Schlafsofa lag und die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte. Sie war so schrecklich müde.
„Greta“, sagte Hannes plötzlich in die Dunkelheit.
„Mhm?“, antwortete sie, ohne die Augen zu öffnen.
„Denkst du auch manchmal darüber nach, wegzugehen?“ Schlagartig war sie hellwach und riss die Augen auf.
„Was?“
„Ich denke oft daran. Ich könnte mir eine Ausbildung oder Lehre suchen. Und ausziehen.“
Gretas Gedanken rasten. „Aber Papa …“
„Ich hab gegoogelt. Weil ich noch nicht volljährig bin, muss er zustimmen.“ Hannes lachte tonlos auf. „Aber was sollte er dagegen haben?“
„Und … und was ist mit mir?“, Greta fühlte, wie Angst in ihr aufstieg.
„Du unterbrichst mich ja ständig. Ich hab nicht gesagt, dass ich wirklich weggehe. Nur, dass ich oft daran denke. Und keine Sorge“, er richtete sich auf die Ellenbogen auf, wie um die Ernsthaftigkeit seiner Worte zu unterstreichen. „Ich würde dich nicht allein lassen.“
„Versprich es.“
„Ich verspreche es.“
Später atmete Hannes schon eine Weile langsam und regelmäßig, da lag Greta immer noch wach und starrte in die Dunkelheit. Alle Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, ob sie von zuhause fortwollte. Der Gedanke ängstigte sie. Wer konnte wissen, ob das Neue besser war als das Alte? Und hier, zuhause, gab es Dinge, die ihre Mutter besessen, berührt, geschaffen, geliebt hatte. Jeder Raum barg Dutzende von Geschichten. Wenn sie fortging, so fürchtete sie, würden ihre Erinnerungen an diese Geschichten verblassen, bis sie sich ganz auflösten.
Sie schloss die Augen. Sie konnten das schaffen. Sie hatten doch immer noch einander. Es war eine schwere Zeit, aber Mamas Tod war bald zwei Jahre her und wurde es nicht schon langsam besser? Sie hoffte inständig, dass sie dem Ende des dunklen Tunnels näherkamen, und nahm sich vor, alles dafür zu tun, dass Papa, Hannes und sie es hindurch schafften, ohne einander zu verlieren.
*
Die nächsten Tage vergingen ohne Zwischenfälle. Greta fühlte sich energiegeladen und planvoll. Sie war rund um die Uhr beschäftigt. Vor der Schule machte sie Frühstück für sie drei, meistens Cornflakes, dazu schwarzen Kaffee für Papa, Milchkaffee für Hannes und Erdbeermilch für sich selbst. Nach der Schule räumte sie auf, sorgte für Ordnung in der Küche, machte ihre Hausaufgaben, ging einkaufen. Später kümmerte sie sich um das Abendessen, meistens machte sie Nudeln oder Reis mit verschiedenen Soßen aus dem Glas. Ihr Vater schien sich zu freuen, denn er lächelte stets und lobte das Essen. Da