Monaten auch danach gesucht hatte: Sie hatte nicht das kleinste Anzeichen dafür gefunden, dass er je zurückkommen würde.
Der einzige, der noch immer bei ihr war und immer bei ihr sein würde, war ihr großer Bruder. Hannes hatte sich schon immer um sie gekümmert. Hatte Spielplatzrüpeln mit der Schaufel eines übergezogen, hatte ihr Fahrrad nach einem schlimmen Sturz nach Hause geschoben, ließ sie jede Nacht in seinem Zimmer schlafen.
Sie hob die Sporttasche vom Boden auf, stellte sie auf ihr Bett und zog den Reißverschluss auf. „Kleidung. Zeug fürs Bad. Verstanden.“
*
Die Sonne war untergegangen. Greta saß in ihrem Zimmer auf dem Bett, noch immer vollständig bekleidet, die gepackte Tasche neben sich. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und sie fragte sich, ob alles nur ein schlechter Traum war. Sie tastete nach den Tragegriffen der Tasche und versuchte, zu verstehen, was sie tun würden: weglaufen.
Sie hatte Angst, spürte aber auch zunehmende Aufregung in sich aufsteigen. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie wenig sich das Haus ihrer Eltern nach einem Zuhause angefühlt hatte in den letzten Monaten. Die Vorstellung, einfach wegzugehen und das Haus nie wieder betreten oder auch nur sehen zu müssen, wirkte beinahe befreiend. Sie hatte das Gefühl, zwischen diesen kalten, weißen Wänden nicht atmen zu können. Schon lange nicht mehr atmen zu können. Ihre Mutter und ihr Vater waren es gewesen, die diese Wände zu ihrem Zuhause gemacht hatten. Nun waren beide fort und ein Fremder hatte den Platz ihres Vaters eingenommen. Und das Haus hatte begonnen, sie zu erdrücken.
Ihr wurde klar, dass sie keine Angst davor hatte, ihr Zuhause zu verlassen. Sondern davor, wo sie hingehen würden. Vor der Ungewissheit. Aber sie verspürte Hoffnung und merkte erst jetzt, wie sehr sie dieses Gefühl vermisst hatte …
„Hausaufgaben. Jetzt.“
Hannes schmollte. „Och, Mama. Nur noch kurz Pause.“
„Wenn du die Hausaufgaben jetzt schnell machst, hast du nachher den Rest des Tages Pause.“
Hannes war diesem guten Argument nicht zugänglich. „Ich bin voll gestresst. Bin doch gerade erst aus der Schule gekommen.“
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Und ich war arbeiten, bin nach Hause gerast und hab euch ein Mittagessen gekocht.“
„Dann weißt du ja, wie das ist“, schmollte Hannes, worauf ihre Mutter unwillkürlich lachen musste.
Greta grinste. Sie hatte ihre Schultasche bereits an den Esstisch geholt und war drauf und dran gewesen, Bücher und Hefte auszupacken, aber nun wartete sie gespannt, ob Hannes ihre Mutter nicht doch noch rumkriegen würde.
„Weißt du, was wir lange nicht gemacht haben?“, fragte Hannes plötzlich begeistert. „Wir haben schon ewig nicht mehr Das Verrückte Labyrinth gespielt.“
„Au ja!“, entfuhr es Greta.
Ihre Mutter lächelte. „Das können wir doch nach den Hausaufgaben machen.“ Aber sie wirkte nicht besonders überzeugt von dem, was sie da sagte.
„Ich sag dir was“, sagte Hannes in beruhigendem Tonfall und zog einen der grau gepolsterten Stühle vom Esstisch zurück. „Du setzt dich jetzt hier hin. Ich hol das Spiel und Greta macht dir eine Tasse Kaffee. Der Tag bisher war für uns alle anstrengend. Da würde uns etwas Abwechslung gut tun.“
Greta wusste, dass Hannes von seiner schauspielerischen Leistung überzeugt war. Sie selber fand die Darbietung reichlich durchsichtig. Und auch um die Mundwinkel ihrer Mutter zuckte es verdächtig.
Trotzdem sagte sie: „Also schön. Das klingt vernünftig. Eine Partie.“ Und nahm am Tisch Platz. „Mit viel Milch bitte, Spatz. Und Karamellsirup.“
Greta schob ihre Schultasche mit der Ferse unter die Eckbank, auf der sie saß, und sprang auf. „Na klar.“
Hannes durchstöberte die große Kommode im angeschlossenen Wohnbereich, in der die Familie alle Brett- und Kartenspiele untergebracht hatte. „Hab’s!“, rief er triumphierend und zog den großen Karton heraus.
Natürlich blieb es nicht bei der einen Partie. Greta gewann und Hannes verlangte Revanche. Er mochte das Spiel, auch wenn er längst nicht so gut darin war wie Greta, seine Züge vorauszuplanen und die Labyrinthplättchen so zu verschieben, dass er sein jeweiliges Ziel möglichst schnell erreichen konnte. Das zweite Spiel gewann ihre Mutter.
Es war eine fröhliche kleine Runde, die da am Tisch saß, aber Greta fiel auf, dass ihre Mutter immer häufiger zu der großen Wanduhr aufsah. War das wegen der Hausaufgaben? Schließlich bemerkte ihre Mutter, dass Greta ihre häufigen Blicke zur Uhr nicht entgingen, und lächelte sie an.
„Wegen Papa. Das Meeting mit dem Kunden ist schon lang vorbei. Er sollte eigentlich schon hier sein.“
Meeting. Greta war erst acht, aber sie wusste schon, dass bei einem Meeting wichtige Menschen zusammenkamen, die wichtige Dinge besprachen. Immer, wenn Papa ein Telefonmeeting hatte, war es bei Höchststrafe verboten, sein Büro unter dem Dach zu betreten. Diesmal war das Meeting sogar so wichtig, dass er dafür seinen besten Anzug angezogen hatte und irgendwohin gefahren war. Er hatte eine große Mappe und einen Stapel bunter Pappen dabei gehabt, als er heute in aller Frühe das Haus verlassen hatte, um nur ja nicht zu spät zu kommen.
Mutters Erklärung schien eine Art Beschwörungsformel gewesen zu sein, denn nur wenige Augenblicke später hörten sie, wie jemand die Tür aufschloss. Ihre Mutter stand auf, die Anspannung war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Im Windfang klapperten Kleiderbügel und wurden Schuhe in das Schuhregal gestellt.
Dann trat ihr Vater ein, in Anzughose und Hemd, auf Strümpfen. Wie immer sah er großartig aus. Er hielt die Hände hinter dem Rücken. Sein Gesicht war ausdruckslos.
„Und?“, fragte ihre Mutter beklommen. „Wie ist es gelaufen?“ Ein paar Sekunden Stille. Dann holte er tief Luft und sein ganzes Gesicht glühte auf, als sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.
„Die Entwürfe haben ihnen gefallen“, sagte er und holte die Hände hinter dem Rücken vor. In einer hielt er eine grüne Flasche mit goldenem Etikett. „Ich hab den Auftrag.“
„Du … du hast ihn?“ Ihre Mutter wirkte erst schockiert, dann begeistert. Sie umarmte ihn. „Du hast ihn! Herzlichen Glückwunsch!“
„Es lief super. Das Konzept kam super an. Ich kam super an“, erzählte er lachend. „Sie wollen für die neuen Büros was Neues, was Modernes, und ich hab ins Schwarze getroffen.“ Er hob die Hand und zeichnete mit Daumen und Zeigefinger ein unsichtbares Banner in die Luft und sagte dazu: „Erfolgsfaktor Flexibilität. Die Einrichtung passt sich der Arbeit an, und nicht andersrum.“
Ihre Mutter griff nach der Flasche. „Gib her, die machen wir sofort auf! Warte mal … ist das Champagner?“
„Sekt war nicht genug.“ Er grinste. „Erst die neuen Büros. Aber sie denken schon darüber nach, das Konzept auch auf die alten Standorte auszuweiten. Ich würde die dann alle umbauen.“
„Das … das klingt riesig.“
„Ist es auch! Vielleicht muss ich bald einen Mitarbeiter einstellen. Vielleicht brauch ich ein richtiges Büro!“ Er lachte, als er ihr Gesicht sah. „Eins nach dem anderen. Das sagst du immer. Und deine Ratschläge sind immer gut.“ Seine Stimme wurde leiser, weicher. „Sie haben mich genau hier hin gebracht.“
Ihre Mutter strahlte. Hannes – in Sicherheit außerhalb des Sichtfelds ihrer Eltern – verdrehte die Augen und deutete an, sich übergeben zu müssen. Greta grinste. Aber dann sah sie wieder zu ihren Eltern. Die Art, wie die beiden sich ansahen, sorgte dafür, dass es in ihrem Bauch ganz warm wurde. Sie war glücklich.
Liebevoll sah ihr Vater auf ihre Mutter hinunter. „Vielleicht ziehen wir dann nochmal um. Ins Haus deiner Träume.“
„Wir leben bereits im Haus meiner Träume. Wir haben es zusammen gebaut“, entgegnete sie. „Aber vielleicht können wir Urlaub machen. So richtig.“
„Ja,