einer anderen Person, der alten Maragrazia, dessen Taten erzählen:
Sämtliche Gefängnisse sämtlicher Orte wurden geöffnet, mein junger Herr. Und Sie können sich kaum vorstellen, was für ein gewaltiger Zorn überall losbrach! Die gemeinsten Diebe, die gemeinsten Mörder, wilde, blutrünstige, wütende Bestien, die durch viele Jahre in Ketten so geworden waren! Unter diesen war einer: ein gewisser Cola Camizzi. Der schrecklichste von allen. Ein Anführer von Briganten. Der brachte die armen Geschöpfe Gottes um, einfach so, aus Lust, als wären es Fliegen. Um das Pulver auszuprobieren – sagte er –, um zu sehen, ob der Karabiner auch gut geputzt war. Der stürzte sich auf die Landstriche unserer Gegend … Er hatte schon eine Bande aus Bauern zusammengestellt, aber damit war er noch nicht zufrieden, er wollte weitere, und er brachte jeden um, der ihm nicht folgen wollte.
Als die garibaldinische Grille vorüber ist, hört Cola Camizzi mit den aufsehenerregenden Bluttaten auf und verwandelt sich in einen gefürchteten Mafiaboß dieser Gegend. Er mordet zwar weiter, tut es aber in aller Heimlichkeit, lautlos, ohne Aufsehen zu erregen, wenn sich jemand seinem Willen widersetzt oder sich weigert, Schutzgeld zu bezahlen.
Kaum ist der kleine Luigi geboren, hat Don Stefano eine Schwefelmine gepachtet, die anfängt, Erträge abzuwerfen. Als er eines Tages nach Porto Empedocle zurückkehrt, wird er von Cola Camizzi gestellt. Die Straße ist, wie immer, auch in diesem Augenblick menschenleer, außer den beiden Männern gibt es niemanden, nicht einmal ein Hund streunt vorüber.
»Lieber Pirandello, um mit Schwefelminen Glück zu haben, braucht es …«, haute Cola ihn an und ließ seinen Worten eine vielsagende Bewegung folgen, indem er sich an den Hintern faßte.
Nardelli, Pirandellos Biograph, der diese Episode ausführlich erzählt hat, schreibt, daß Don Stefano »auf eine derart plump unliebenswürdige Kontaktaufnahme ohne viel Geplänkel reagierte«.
Wir glauben kaum, daß Don Stefano wegen mangelnder Liebenswürdigkeit seitens des ehemaligen Briganten und jetzigen Mafioso indigniert war und reagieren mußte. Vielmehr standen sich hier zwei Sizilianer gegenüber, Aug in Aug, und erfaßten ganz genau den unterschwelligen Diskurs eines jeden Satzes. Für Stefano Pirandello war absolut klar: es ging um eine Schutzgeldforderung.
Und er versetzte Cola einen solchen Schlag ins Gesicht, daß der zu torkeln anfing.
Cola war verwirrt und benommen, vor allem aber überrascht: noch nie hatte eine Menschenseele es gewagt, die Hand gegen ihn zu erheben. Und als wollte er ganz sichergehen, fragte er drohend:
»Eine Backpfeife? Für Cola Camizzi?«
»Eine? Hundert!« gab Don Stefano zur Antwort.
Er ließ ganze Salven von Backpfeifen und Faustschlägen links und rechts auf ihn niedergehen, unter denen Camizzi zur Erde stürzte und ein Gesicht wie ein weicher, gerade aus dem Backofen gehobener Brotlaib machte.
Ein paar Stunden später befand sich Don Stefano in seinem Schwefellager am Strand und besprach gerade mit einem Kunden, der mit Nachnamen Veronica hieß, den Preis für die Einlagerung einer bestimmten Menge Schwefels, da hörte er von ferne Schüsse aus einer Flinte. Er schickte einen der Lagerburschen, um nachzusehen, was los war. Kurz darauf kam der Bursche wieder zurück und berichtete, daß Cola Camizzi in der Nähe sei und seine Waffe ausprobiere.
Die ständige Kontrolle der Flinte mußte wohl ein fixe Idee des Mafioso gewesen sein, wenn Maragrazia in der bereits zitierten Dialogpassage erzählte, daß der Brigant gewöhnlich nur deshalb auf einen geschossen hätte, um auszuprobieren, ob seine Flinte noch gut funktionierte. Doch Stefano Pirandello hatte auch diesmal die Bedeutung der Probeübung durchaus begriffen. Ohne daß sein Kunde es bemerkte, nahm er den Revolver, den er immer im Gürtel bei sich trug, und steckte ihn in die rechte Jackentasche.
Es war sinnlos. Denn Camizzi war im Schutz der Schwefelhaufen gefährlich nahe an ihn herangekommen.
»Weg da! Weg da!« rief Camizzi, der offensichtlich wollte, daß der Kunde sich entfernte.
Der verzog sich. Dann geschah alles in Sekundenschnelle. Don Stefano hatte gerade noch Zeit, sich die Brust mit einem Arm zu schützen und sank, von zwei Kugeln getroffen, auf die Knie. Daraufhin warf Cola die Flinte weit weg und kam langsam auf Don Stefano zu, um ihn mit einem Revolverschuß zu erledigen.
Doch er beging einen Fehler. Der Bursche, der vorher geschickt worden war, um zu sehen, wer da geschossen hatte, bemächtigt sich nämlich der leeren Waffe, hält sie am Lauf fest und versetzt dem Mafioso von hinten einen gewaltigen Schlag auf den Kopf. Der wankt und macht sich davon. Don Stefano steht auf, ihm hinterher und feuert ein ganzes Magazin auf ihn ab. Dann kann er nicht mehr, er sinkt hin und verliert das Bewußtsein.
Blutend wird er nach Hause gebracht, der Arzt stellt zwei ernste Verletzungen fest. Eine Kugel hat den Knochen getroffen und die Sehnen der Hand zertrennt, mit der er das Herz geschützt hatte. Die andere hat die Brust durchbohrt und eine Rippe zerschmettert.
Von den beiden Verletzungen ist die an Hand und Arm die schwerere, man spricht sogar von Amputation. Doch die wird nicht nötig sein, allerdings wird Don Stefano aufgrund dieses Schußwechsels einen Finger nicht mehr gebrauchen können.
Beim Anblick der Szene, wie ihr Mann, am Arm von Freunden gestützt, nach Hause zurückgebracht wird und eine breite Blutspur hinter sich läßt, fühlt sich Signora Caterina erstarren.
Ihre Milch versiegt auf der Stelle.
Und so wird Luigino einer Amme anvertraut.
Die Geschichte soll noch zu Ende erzählt werden. Cola Camizzi, der auf Pirandellos Anzeige hin verhaftet worden war, wurde zu sieben Jahren wegen versuchten Mordes verurteilt. Doch als er nach Verbüßung seiner Strafe wieder nach Girgenti zurückkehren wollte, haben »Freunde« ihm geraten, es sei besser für ihn, seine Luft anderswo zu atmen: Don Stefano habe nämlich geschworen, ihn, sobald er ihn sehen würde, zu erschießen. Und Don Stefano galt als ein Mann, der sein Wort hielt. Cola verschwand aus girgentinischem Gebiet und tauchte in den fernen Schwefelminen eines gewissen Di Giovanni unter, und dort, schreibt Nardelli, »ging sein Leben in Düsternis zu Ende«.
Was versteht der kleine Luigi von den Worten der Mutter, als sie ihm die Geschichte seiner Geburt und seiner ersten Annäherung ans Leben erzählt?
Er versteht, daß er ein Siebenmonatskind war, geboren vor seiner Zeit, weil der Vater der Mutter entsetzliche Angst eingejagt hatte.
Er versteht, daß er nicht von seiner Mutter gesäugt werden konnte, weil der Vater ihr noch einmal entsetzliche Angst eingejagt hatte.
Gewiß hat sich im elementaren Mechanismus des Kopfes des Kleinen ein Prinzip von Ursache und Wirkung herausgebildet: jedesmal, wenn der Vater seiner Mutter eine entsetzliche Angst einjagt, widerfährt auch ihm ein Unglück.
Ja, denn der Verlust der Muttermilch stellt ganz sicher eine Behinderung dar: »Großgezogen wird man nicht vom Vater / sondern durch die Brust der Mutter«, sagt ein sizilianisches Sprichwort.
Und er fragt sich möglicherweise, ob die Tatsache, daß der Vater ihn daran gehindert hat, mit dieser Milch groß zu werden, nicht ein Versuch war, ihm, Luigi, eine Familienidentität, eine Zugehörigkeit zu verweigern.
Und so fängt auch er an, vor dem Vater Angst zu bekommen.
Er schreibt, daß er als Kind sogar Schwierigkeiten hatte, mit der Mutter zu kommunizieren, obwohl er ein bewegendes Vertrauen in Worte hatte, und bei meinem Vater kam es mir unmöglich vor, doch nicht etwa, während ich mich darauf vorbereitete, sondern im Augenblick des Sich-Beweisens, was meistens furchtbar endete.
DER VATER, DIE MUTTER
»Bei den Sizilianern ist das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie stark ausgeprägt. Der Vater übt die absolute, nicht in Frage stehende Herrschaft über sie aus; die Mutter besorgt das Haus, sie legt darin größtes Interesse an den Tag und gebietet über die Kinder, gewissermaßen stellvertretend für den Gatten, dem sie gehorcht und den sie liebt, auch