herzzerreißenden, verzweifelten Schreie des Sterbenden hören muß. Kurz darauf hört man sie nicht mehr, und die Fenster können wieder geöffnet werden. An diesem Abend ist es sehr heiß.
ÜBER DAS VERRIEGELN VON FENSTERN
Wenn man die eben erzählte Begebenheit überdenkt, könnte es so aussehen, als hätten in der Familie Pirandello Gleichgültigkeit, Egoismus und Furcht, in etwas verwickelt werden zu können, geherrscht.
Der Verwundete, das stimmt, wird in seinem Todesschmerz und in seinem Tod sich selbst überlassen. Aber das Nicht-sehen-Wollen, das Nicht-hören-Wollen war das am weitesten verbreitete und durchaus übliche Verhalten der sizilianischen Bourgeoisie, ganz gleich, ob es die große oder die kleine war, und diese Haltung kann man mit den überaus einfachen Worten zusammenfassen: ›Deren Sache.‹ Aber wer sind ›deren‹? Die, die keine zivilisierten Menschen waren, ›ehrenwerte Leute‹, die ihre Angelegenheiten mit Messerstichen, Revolverkugeln oder Schüssen aus einer Lupara erledigten. Zwischen den Kriminellen, ob sie zur Mafia gehörten oder nicht, und den ›zivilisierten‹ Menschen wurde eine Mauer errichtet, eine dem Augenschein nach genau festgesetzte Grenzlinie, und die ›Zivilisierten‹ hüteten sich, darin verwickelt zu werden, sich mit Blut zu besudeln (etwa wenn sie einem Verwundeten zu Hilfe kamen), das Gewalt und Übergriffe so häufig fließen ließen.
In einem Salon ›zivilisierter‹ Menschen über Dinge zu reden, die mit der Mafia zu tun haben, ist so geschmacklos, wie während eines Galadiners über Bauchschmerzen zu reden.
›Deren Sache‹ also, und so sollte es gefälligst auch bleiben.
Zumindest dem Augenschein nach.
Denn wenn sie ein Problem hatten, das auf legalem Weg offensichtlich unlösbar war und mithin nach nicht sehr orthodoxen Wegen verlangte, hatte der größte Teil dieser sogenannten anständigen Leute durchaus keine Skrupel, über Freunde von Freunden um die Unterstützung und Hilfe des einen oder anderen örtlichen Mafiabosses nachzusuchen, der ja bestens bekannt war, weil man ihn als solchen mit Vor- und Nachnamen samt seiner Anschrift kannte.
Die Mafia, in der Öffentlichkeit hartnäckig und scheinheilig ignoriert, wurde bei bestimmten besonderen Privatangelegenheiten zur Kenntnis genommen, aktiviert und benutzt. Es ist durchaus nicht gesagt, daß diese besonderen Vermittlungstätigkeiten immer in Auseinandersetzungen mit Schüssen und Ermordungen endeten: sehr oft ›räsonierte‹ der mafiose Vermittler mit den gegnerischen Parteien, und die Macht, die er hinter sich hatte, führte dazu, daß der Verlierer, also der, der bei der Übereinkunft dazulegte, sich vor diesem ungeschriebenen Gesetz verbeugte, das allerdings strenger geachtet wurde als der Entscheid eines Schiedsmanns.
Natürlich präsentierte die Mafia, wenn die erbetene Hilfeleistung erbracht und zu einem guten Ende geführt worden war, die Rechnung, die ja nie in Geldsummen quantifiziert wurde, sondern in Gefälligkeiten, Wählerstimmen, Privilegien.
Eine perverse Verflechtung.
Aber es ist auffällig, daß Pirandello, der möglicherweise sein ganzes Leben lang dieser Handlung des Hausmädchens eingedenk blieb, in allen seinen Romanen, in allen seinen Novellen und Theaterstücken hartnäckig das Fenster vor der Mafia verriegelt hielt.
MARIA STELLA
Es ist schwierig, mit der Mutter Worte zu wechseln, mit dem Vater ist es unmöglich. Doch glücklicherweise findet der kleine Luigi in der Wohnung in Girgenti eine Freundin.
Das ist das Hausmädchen, die Dienerin Maria Stella. Mit ihr kann er richtig sprechen, offen. Maria Stella ist eine junge Frau aus dem Volk und muß eine hervorragende Geschichtenerzählerin gewesen sein und erfreut sich an dem aufmerksamen, intensiven Blick ihres kleinen Schützlings.
Ein populäres sizilianisches Sprichwort hieß damals: ›La criata fa la criatura – Die Dienerin macht das Menschlein.‹
Dieses Sprichwort war doppelsinnig. Es besagte zunächst einmal, daß die Dienerin, wenn sie jung war, von einem Mann im Haus, dem Hausherrn oder auch dem jungen Herrn, unvermeidlicherweise irgendwann schwanger wurde. Danach besagte es, daß es oft die Dienerin war, die das Kind der Familie aufzog und ›heranbildete‹.
Unter verschiedenen Gesichtspunkten war es Maria Stella, die den kleinen Luigi eigentlich heranbildete.
Der Sizilianer ist nicht religiös, sondern abergläubisch. Verga, Capuana, Brancati, Sciascia haben das ausführlich dargestellt. Und es reicht, wenn wir in unserer Zeit an den Mafiamörder denken, der, obwohl flüchtig, oft den Priester in sein Versteck kommen ließ, das mit Altärchen und Heiligenbildchen ausgestaltet war.
Bestimmte religiöse Feste gehören wegen einiger Aspekte mehr zur heidnischen Seite der Sizilianer als zur katholischen. Wenn wir uns auf Girgenti und sein Gebiet beschränken, erinnern wir uns an mindestens zwei: Das Fest unseres Herrn von den Schiffen (es gibt auch einen Einakter von Pirandello, der diesem Fest gewidmet ist), das vor der kleinen Kirche San Nicola stattfindet und vor allem in einer wüsten Schlachterei von Schweinen besteht; und das Fest des heiligen Calò (das Pirandello in dem Roman Die Ausgestoßene unerklärlicherweise als Fest der Heiligen Cosmas und Damian bezeichnet).
In fast allen sizilianischen Häusern hatte der Klerus (mit dem man in toto die Religion identifizierte) eine Macht, die weit über die geistliche hinausging: sein Rat war in jeder Lebenslage gefragt, angefangen beim Kauf eines Möbelstücks bis hin zur Eheschließung.
Die Familie Pirandello war dagegen ein Stachel im Fleisch von Padre Sparma, Pfründeneigner der in unmittelbarer Nähe gelegenen Kirche San Pietro. Die Pirandellos hatten zwar ihre Kinder taufen lassen, aber sie rannten nicht in die Kirche, sie waren keine praktizierenden Gläubigen, und das reichte aus, daß die Nachbarn sie als gottlose Menschen bezeichneten. Das stimmte zwar nicht, aber die Pirandellos gehörten aufgrund ihrer Erziehung und ihrer Überzeugung zu denen, die sich zu dem Sprichwort bekannten: »Bei Mönch und Pfaffenklos / hör’ nur die Mess’! Dann gib ihm den Nierenstoß« (womit gemeint ist, daß man ihnen das Rückgrad brechen solle).
Das Hausmädchen Maria Stella erzählt dem Kleinen die gleichen Geschichten, die ihr erzählt worden waren, als sie klein war. Es sind Volkserzählungen, wie die vom Haus der Granellas, das von respektlosen Gespenstern bewohnt wird, oder die Geschichte vom Raben von Mìzzaro, auch sie mit Gespenstern als Hauptfiguren, oder die vom Engel Einhunderteins, der nachts eine große Engelschar anführt. Als erwachsener Mann kehrt Pirandello wieder zu diesen Geschichten zurück, die er aus dem Mund von Maria Stella gehört hatte, und macht sie zum Gegenstand seiner Novellen (die Geschichte des Engels Einhunderteins wird einen großartigen Monolog in dem Theaterstück Die Riesen vom Berge; I giganti della montagna bilden). Aber es steht außer Zweifel, daß die Geschichte, die den kleinen Jungen am meisten beeindruckt, die Geschichte vom vertauschten Sohn ist.
DER VERTAUSCHTE SOHN
Das Märchen vom vertauschten Sohn ist im Grunde überall auf der Welt bekannt, mit Varianten, die den verschiedenen Kulturkreisen entsprechen. Die mediterrane Version erzählt von einer armen Mutter, die sich nicht mit der Realität abfinden kann: ihr Kind in der Wiege ist ein mißgestaltetes Wesen, doch sie reagiert, indem sie sich in die Überzeugung flüchtet, daß ihr wirklicher Sohn, ein schönes blondes Kind, von den Donne (den Hexen) geraubt wurde, die an seiner Statt dieses andere, dieses häßliche, verkrüppelte Kind zurückgelassen haben, das nicht einmal sprechen kann. Eines Tages legt im kleinen Hafen ein fremdes Schiff an. An Bord ist ein junger kranker Prinz, der gekommen ist, um in der Sonne des Südens Heilung zu finden. Und gleich ist die Mutter der Überzeugung, daß der Prinz ihr wirklicher Sohn ist, der wie durch ein Wunder zurückkehrt. Der verkrüppelte Sohn (der auf dem Kopf eine Krone aus Papier und Glitzersteinen trägt und spöttisch ›Königssohn‹ genannt wird), will in seiner Eifersucht den Prinzen töten, aber es gelingt ihm nicht. Unterdessen stirbt der Vater des Prinzen und der junge Mann wird zum König ernannt. Doch der Prinz weigert sich,