und auf dem blut- und spermatriefenden Boulevard: ihre oder die des erfolgreichen Geschäftsmanns und sorgenden Familienvaters Lambert Schulte-Bückendorf? Klar: auch ihrer, Emmas Version, würde Raum gegeben werden. Sie zu ignorieren, sie nicht mindestens für möglich halten zu wollen, sie nicht ausbreiten und durchkauen zu wollen: dafür war sie zu saftig. Und dafür war die Bereitschaft, hinter jeder noch so sauberen Fassade Schmutz zu wittern, viel zu groß. Überall. Das Internet würde sprudeln vor Geifer.
Aber wollte sie das? Wollte sie das wirklich? Sie, Emma Schneider aus Herne? Wollte sie, dass die »Teneriffa-Geschichte« – so hatte Hauke ihre traumatische Fast-Vergewaltigung doch genannt – jetzt noch einmal durch die Medienmühle gedreht würde? Denn das würde sie natürlich. Aber jetzt mit anderen Untertönen. Dafür würden LZBs Anwälte und die Instinkte der Boulevard-Kollegen schon sorgen. Von den »sozialen Medien« gar nicht zu reden. Nein, das wollte sie nicht. Bei Lichte und nüchtern betrachtet, wäre sie, Emma, darauf wahrscheinlich auch von selbst gekommen. Die Wahrheit war, dass sie noch gar keine Zeit gehabt hatte, sich zu überlegen, wie sie ihre Begegnung mit dem lüsternen Reifenhändler journalistisch verarbeiten könnte. Oder sollte, müsste? Müsste oder sollte sie nicht das wahre Gesicht des LSB vor aller Welt offenbaren, allein schon um andere Frauen davor zu bewahren, von dem Schwein zu sexuellen Gefälligkeiten genötigt zu werden?
Nein. Emma, wer hat dich dazu aufgefordert? Wer hat dich zur Staatsanwältin und Richterin zugleich ernannt? Woher kannst du wissen, dass dieser LSB wirklich ein Schwein ist? Vielleicht ist er ein liebevoller Familienvater und sorgender Chef – der einfach gerne zugreift, wenn ihm etwas angeboten wird? Hatte sie ihn nicht tatsächlich animiert, zu glauben, sie verständen einander und sie sei ganz wild darauf, an seinem Schwänzchen zu lutschen? Ja, das musste sie sich eingestehen: sie hatte sein Spiel mitgespielt. Aber sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass der Reifenhändler mehr als anzüglich flirten wollte. Und es war alles viel zu schnell passiert.
Emmas Handy piepste. Sie hatte eine Whatsapp-Mitteilung erhalten.
3
Die Nachricht kam von Paul Bärkamp. Ihrem früheren Lokalchef, bei der Halterner Post. Ihrem journalistischem Vorbild und Förderer. Nicht zuletzt: ihrem väterlichen Freund, der sie, zum ersten Mal überhaupt, aber ohne jedes Zögern, in den Arm genommen und fest gedrückt hatte, nach ihrer Rückkehr aus Teneriffa und nachdem sie ihm – nur ihm – erzählt hatte, minutiös erzählt hatte, wie sie sich gefühlt hatte auf dem Opferstein an der ominösen Geisterquelle. Bei Paul Bärkamp hatte sie sich ausgeheult, nicht bei ihren Eltern oder einer »besten Freundin«. Bei Paul, der wusste, wann es darauf ankam, nichts zu sagen. Der heilsam zu schweigen wusste. Der sie nur in den Arm nahm, minutenlang, und wiegte wie ein kleines Kind. Wie gut ihr das getan hatte!
Paul Bärkamp betrieb, seit dem Aus der Halterner Post – er war die Halterner Post gewesen, jedenfalls in den Augen seiner Leser und auch der nicht-lesenden Halterner – einen lokalen Nachrichten-Blog: halternswelt.de. Er hatte Emma, natürlich, gefragt, ob sie nicht auch mitmachen wollte. Nur leider könne er keine Honorare zahlen, oder jedenfalls nur winzig kleine. Emma war trotzdem dankbar für das Angebot, auch wenn sie es ablehnen musste. Sie war, anders als der Frührentner Paul, darauf angewiesen, mit dem Schreiben Geld zu verdienen. Paul Bärkamp wusste das natürlich. Aber er hatte ihr das Gefühl gegeben, nicht nur als Mensch, sondern auch als Journalistin geschätzt zu werden. Von einem, auf dessen Urteil und Menschenkenntnis Verlass war. Das war ihr sehr viel wert gewesen.
»Melde dich mal! Ich hätte vielleicht einen Auftrag für dich. Einen lohnenden. Herzlich, Paul.«
Paul Bärkamp. Wieder einmal. Hatte er einen fünften – oder sechsten? – Sinn? Wusste er, dass Emma jetzt, gerade jetzt, in diesem höchst konkreten Moment, nichts so sehr brauchte wie Ablenkung, Trost und eine Perspektive? Natürlich konnte er das nicht wissen. Er wusste nichts, aber auch rein gar nichts von ihrem »Abenteuer« im Reifenhaus Schulte-Bückendorf. Er hatte Emmas Arbeiten für die Revue nie kommentiert, obwohl er sie natürlich las – gelesen hatte –, da war sich Emma sicher. Paul Bärkamp und Tanja von Dückers waren einander in respektvoll-höflicher Abneigung verbunden. Emma hatte Paul nie Champagner schlürfen sehen. Bier trank er schon, lieber noch trockenen Weißwein, vorzugsweise Soave, aber nie auf irgendwelchen Empfängen – Paul Bärkamp hasste Smalltalk – und ganz sicher nie auf Kosten von Menschen, die von der Redaktion der Halterner Post etwas wollen könnten. Paul Bärkamp und Tanja von Dückers standen für zwei grundverschiedene Varianten des Journalismus – die gestrige und wahre, in Emma Sicht, und die von Internet und social media korrumpierte.
Emma tippte seine Nummer an. Paul Bärkamp reagierte sofort.
»Hallo Emma. Schön, dass du dich gleich meldest. Wo steckst du? Hast du wieder Schampus mit der Fürstin?« Paul Bärkamp liebte es, Tanja von Dückers »die Fürstin« zu rufen – und die wiederum liebte es, so zu tun, als ob ihr das unrecht wäre.
»Hab ich tatsächlich gerade. Ein letztes Glas im Stehen. Nein: im Sitzen. Und ich hab es nur halb ausgetrunken. Dann bin ich gegangen. Aber das erzähle ich dir lieber nicht am Telefon.«
»Dann komm doch vorbei! Du wirst doch den Trampelpfad zu unserer unscheinbaren Redaktionshöhle noch finden – auch wenn du jetzt mehr auf Alleen und in Palästen unterwegs bist?«
Emma war nicht danach, auf Pauls Flachsereien einzugehen. »Ich komme«, sagte sie nur. »Jetzt gleich?«
»Gerne auch gestern. Du bist hier immer willkommen. Das weißt du.«
Keine halbe Stunde später saß Emma Paul in der ehemaligen Bankfiliale gegenüber, die nun als halternswelt.de firmierte. »Schwerter zu Pflugscharen, auf unsere Art«, hatte Paul den Einzug kommentiert. Der Hauseigentümer war ein alter Freund – und treuer Leser der Halterner Post. Er hatte Paul Bärkamp und den paar Kollegen, die nicht aufhören wollten, in der Kleinstadt zwischen Ruhrgebiet und Münsterland Öffentlichkeit herzustellen, die Räume samt ausrangiertem Bankmobiliar kostenlos überlassen – »bis ihr Geld verdient; dann ändern wir den Vertrag«. Ein Mann mit Geduld.
»Du meine Güte, wie siehst du aus? Hast du etwa geheult? Und hast du nichts zu tun? Liegt kein Firmenjubi…« Paul verstummte. Er sah Emma an, dass ihr jetzt nicht an Gefrotzel lag. »Komm, erzähl! Was ist passiert?«
Und Emma erzählte. Alles. Von ihrem Auftrag. Davon, wie ungern sie solche Geschichten schrieb. Von ihrer Begegnung mit LSB. Wie sie es nicht lassen konnte, ihm auf den Zahn zu fühlen. Wie das einfach so über sie gekommen war. Von ihrer Flucht aus dem Reifenhaus. Von ihrem Gespräch mit Tanja und Hauke von Dückers. Von den Fotos, die sie nicht mehr besaß.
»Das ist, auch wenn das jetzt hart klingt, wahrscheinlich gut so. Diese Geschichte hättest du nicht durchziehen sollen, selbst wenn du sie, glaube ich, überlebt hättest. Beruflich, meine ich.« Paul Bärkamp hatte still zugehört, Emmas Redefluss durch keine Frage unterbrochen, sie nur besorgt und ernst angesehen, ein paar Sekunden nachgedacht. Und ein mentales Häkchen drangehängt.
»Du willst meinen Rat? Du bekommst ihn. Du solltest das Kapitel schließen. Das ganze Kapitel Lippe Revue. Das war ohnehin nicht deine Welt. Und von der Fürstin kannst du im Ernst nicht erwarten, dass sie auf ihre alten Tage die Alice Schwarzer gibt – die übrigens ja längst auch nicht mehr sie selbst ist. Dass unsere Fürstin ihren geliebten Hauke in die Bredouille bringt: unvorstellbar. Aber wenn du einverstanden bist, kann es vielleicht nicht schaden, LSB und das Fürstenpaar glauben zu lassen, die Fotos existierten doch noch. Ich könnte ja bei Gelegenheit mal eine Bemerkung fallen lassen, nur so, ganz nebenbei. Was ich da gesehen hätte. Was hältst du davon? Nicht um irgendwas draus zu machen, journalistisch meine ich, sondern nur als Rückversicherung. Das kann nicht schaden, finde ich.«
Emma nickte. Und staunte. Sie konnte eben immer noch etwas lernen von Paul Bärkamp, dem ausrangierten Journalisten. ›A Hund is er scho‹, sagen sie, glaubte Emma gelesen zu haben, in Bayern über einen wie ihn. »Und jetzt zum Geschäft, Frau Schneider! Können Sie sich als Ghostwriterin vorstellen? Und bist du nicht auch eigentlich schon wieder reif für die Insel?«
Und jetzt saß sie hier,