Wolkendecke entgegen. Déjà-vu.
Was empfand sie? Jedenfalls keine Angst. Das war schon mal gut. Vielleicht Wut. Einen Rest von Wut, über ihre eigene Hilflosigkeit damals. Aber auch Freude. Zu ihrer Irritation. Eine diffuse, ihr nicht ganz begreifbare Vorfreude. Auch Wiedersehensfreude. Sie winkte der Teide-Spitze zu wie einer alten Bekannten.
Vorfreude auf was? Noch wusste sie wenig über ihren möglichen Auftrag. Dafür eine ganze Menge über ihren potentiellen Auftraggeber. Das, was Paul ihr erzählt hatte. Und das, was sie dank ihrer Zeit als Lokalredakteurin in Haltern am See ohnehin wusste über Horst Hanisch. Über »Hotte« Hanisch. ›Uns Hotte‹, wie ihn viele im Kreis Recklinghausen genannt hatten, damals, als Hanisch noch einflussreich und scheinbar unaufhaltsam auf dem Weg nach oben war. Google lieferte eine schier unendliche Fülle von Artikeln, Fotos und Einträgen über Horst Hanisch: als frecher Jugendfunktionär seiner Partei, als ideenreiches, junges Kreistagsmitglied, als Parteisekretär, als Landtagsabgeordneter, dann Bundestagsabgeordneter. Vielen, jedenfalls in Herten und Umgebung, galt Horst Hanisch als ministrabel.
Dann war der Absturz gekommen. Bei der Nominierung für eine erneute Bundestagskandidatur trat wie aus dem Nichts eine junge Frau gegen den Platzhirsch an – und gewann. Horst Hanisch war abgestürzt. Knall auf Fall. Sein Amt als Parteisekretär hatte er schon nach der ersten Wahl aufgegeben. Sein Nachfolger, das vermutete Emma – und Paul schien es zu wissen – hatte keinen geringen Anteil an Hotte Hanischs Demontage. Hanisch galt jetzt als entrückt. Als jemand, der sich zu wenig zuhause sehen ließ. Zu sehr in Berlin engagiert. Viele sagten auch: zu arrogant. »Der grüßt mich nicht mehr, wenn wir uns mal auf der Straße begegnen«, hatte sich eine alte Schul- und Parteifreundin in der Hertener Zeitung zitieren lassen. Manuela May, nicht mal halb so alt wie Hanisch, galt hingegen als »eine von uns« und ließ sich im Jahr vor ihrer Nominierung und der anschließenden Wahl in jeder Vereinsversammlung sehen. Sie klopfte an nahezu jede Hertener Tür, während Hanisch in Berlin »gebunden« war. Die Bundestagswahl war für Manuela May dann reine Formsache. In der einstigen Bergbaustadt hatten andere als SPD-Kandidaten keine Chance, immer noch nicht. Obwohl Zweidrittelmehrheiten, wie sie noch Hanischs schier ewig dienender Vorgänger eingefahren hatte, auch hier schon lange Geschichte waren. Manuela May erzielte sogar das schlechteste Ergebnis der SPD im Hertener Wahlkreis seit Gründung der Bundesrepublik. Aber es war immer noch eines der besten ihrer Partei, republikweit gesehen. Bei allerdings stark gesunkener Wahlbeteiligung.
Das alles hatte Horst Hanisch nur noch aus der Ferne verfolgt. Seit seiner Nichtnominierung zum Bundestagskandidaten ließ er sich in Herten praktisch überhaupt nicht mehr blicken. Es fragte aber auch keiner mehr nach ihm. Er war verschwunden. Es hieß, er lebe jetzt ganz in Berlin.
Das stimmte nicht, wie Emma von Paul erfahren hatte. Hotte Hanisch lebte auf Teneriffa. Und er wollte seine Erinnerungen aufschreiben. Eine Autobiographie verfassen. Vermutlich: abrechnen. Mit seiner Partei, mit seinem Nachfolger als Parteisekretär, mit Manu May, mit wem auch immer, von dem er sich verraten fühlte. Das jedenfalls vermutete Paul Bärkamp. Ach was: er wusste es, nach einigen langen Telefonaten mit Hanisch. Die beiden kannten sich, naturgemäß, seit Jahrzehnten. »Sie haben wenigstens nie etwas Erfundenes über mich geschrieben«, hatte Hanisch zu Bärkamp gesagt, bei ihrem ersten Telefonat. Er wollte Bärkamp dafür gewinnen, ihm beim Sortieren und Aufschreiben seiner Erinnerungen zu helfen. »Ich brauche einen Ghostwriter. Das Schreiben war noch nie so mein Ding. Aber das wissen Sie ja.«
»Ich habe wirklich ernsthaft über Hanischs Angebot nachgedacht. Bis ich das Gerücht hörte, du hättest dich an LSB herangemacht.«
»Das hast du gehört? Wann?«
»Kurz bevor ich dir die Whatsapp-SMS geschickt habe. Ein alter Bekannter von der Recklinghäuser Zeitung rief mich an und wollte wissen, ob ich auch schon gehört hätte… Und ich würde dich doch kennen, als dein früherer Chef. Und ob ich mir so etwas vorstellen könnte.«
»So etwas?«
»Na ja. Der Kollege klopfte wohl auf den Busch. Wie man das eben so macht, wenn man nichts Genaues nicht weiß, aber ein Raunen gehört hat. Er hatte nichts Festes, kein Zitat, keine Quelle. Da hat er es, vermutlich unter anderem, eben bei mir versucht. Hätte ich ihm irgendein Zitat gegeben, hätte er am selben Tag noch einen Artikel gepostet, da bin ich ziemlich sicher. Und wenn es darin geheißen hätte: ›Ehemaliger Vorgesetzter kann sich nicht vorstellen…‹ Damit wäre die Geschichte in der Welt gewesen. Nachfragen wären legitim gewesen. So veredelt man Gerüchte zu vermeintlichen Nachrichten. Auf dem Boulevard jedenfalls. Neu ist, dank dem Internet, dass sich auch ernsthafte Blätter an diesem Wettrennen um Sensationen beteiligen. Wer weiß, vielleicht wären wir bei der Halterner Post auch noch so tief gesunken, wenn unsere sogenannten Verleger uns nicht vorher den Hals umgedreht hätten. Ich sollte ihnen dankbar sein. Jetzt sind wir tot, aber stolz.«
»Aber dieser Anruf aus der Recklinghäuser bei dir, das war doch, wenn ich richtig rechne, kaum mehr als eine Stunde, nachdem ich das Reifenhaus Schulte-Bückendorf verlassen hatte und LSB seinen Hosenschlitz wieder zugezogen hat, vermutlich.«
»Er verliert eben keine Zeit, der junge Mann. Dumm ist der nicht. Ob er selbst auf die Idee gekommen ist, dich auszukontern, bevor du überhaupt irgendein Wort über die Sache geschrieben hast, oder ob er gleich einen Anwalt angerufen hat, der ihm zur Offensive geraten hat, wer weiß? Vielleicht hat er ja auch seinen guten Freund Hauke kontaktiert. Was ich sogar für das wahrscheinlichste halte. Hauke von Dückers ist ja, das vergisst man gern, auch Jurist, und tut immer nur so, als sei er mit keinerlei Wasser gewaschen. Er gibt gern die Dumpfbacke an der Seite seiner cleveren Gattin, aber in Wahrheit ist er ein talentierter Strippenzieher. Und viel schlauer, als er tut.«
»Was genau soll ich denn nun angestellt haben, in Lambert Schulte-Bückendorfs Büro?«
»Keine Ahnung. Das ist ja das Raffinierte. Je weniger man weiß, umso blühender arbeitet die Fantasie. Der Kollege wusste nur: du hattest einen Interviewtermin bei LSB. Du solltest ein Porträt von ihm schreiben und über seine Firma. Aber dabei hättest du… was auch immer. Wozu es offenbar nicht gekommen ist, weil LSB dich rausgeworfen hat. Fang besser gar nicht erst an, darüber nachzudenken. Freue dich, dass niemand die Sache aufgegriffen hat und du bald wieder unter der kanarischen Sonne sitzen wirst! Aus den Augen, aus dem Sinn: das hat auch was Gutes.«
So hatte Paul Bärkamp gesprochen. Wie ein weiser Indianerhäuptling. Und nun würde Emma, in einigen Stunden schon, Horst Hanisch gegenübersitzen. Am Südflughafen werde ein Fahrer auf sie warten, mit einem Pappschild, auf dem »Schneider« stehen würde. Alles Weitere werde er regeln. Hanisch hatte auch den Flug für Emma gebucht. Er wolle sie kennenlernen. Zunächst ganz unverbindlich. Bärkamp habe sie zwar über den grünen Klee gelobt. Und er selber sei auch von Emma, der Redakteurin, nie »reingelegt« worden – »soviel ich weiß, aber mehr weiß ich über Sie auch nicht. Wissen Sie was: Kommen Sie einfach her! Machen Sie sich, falls wir uns darauf verständigen, uns nicht zu verständigen, ein paar schöne Tage auf der Insel, auf meine Kosten, und das ist es dann gewesen. Kennen Sie Teneriffa?« Emma hatte bestätigt, Teneriffa zu kennen. »Dann wissen Sie: vom Südflughafen nach Santa Cruz fährt das Taxi eine halbe Stunde. Sie werden am Spätnachmittag hier sein. Wir nehmen einen kleinen Imbiss in netter Umgebung und beschnuppern einander. Und dann schaumermal, was daraus werden kann. Wie der Kaiser sagen würde.«
Kannte sie Teneriffa? Jedenfalls entschieden besser als vor einem halben Jahr. Aber das Gebäude, vor dem der Taxifahrer anhielt, hatte sie bisher nicht wahrgenommen. Es wäre ihr aufgefallen. War das überhaupt ein Gebäude? Das Taxi stoppte zwischen einer mehrspurigen, aber nicht sehr dicht befahrenen, von Palmenreihen und breiten Fußwegen gesäumten Straße und dem glattblauen Meer, vor einem gewaltigen, in der Sonne glitzernden weißen Gebilde, das Emma an eine riesige Narrenkappe denken ließ, so eine, wie sie Karnevalsfunktionäre und Politiker in sogenannten Prunksitzungen tragen. Nur nicht bunt. Und das Glöckchen fehlte, am Zipfel des abenteuerlich Richtung Land gebogenen Was-auch-immers. Ein Dach? Eines, das spitz zuläuft und das über dem offenbar eigentlichen Gebäude schwebt? Emma konnte sich nicht erinnern, ein auch nur annähernd ähnliches Bauwerk jemals gesehen zu haben. »El Auditorio«, stellte der Fahrer Emma das Gebäude vor. Vom »Auditorio« hatte sie schon gehört. Das Konzerthaus, das war es also. Das Werk eines offenbar