jede übertreibende Geste vermieden. Das Hotel war alt und gefiel sich darin, aber es war frisch und gründlich renoviert. Emma vermutete hinter der Eleganz ein Programm. Vielleicht galt es ja, einen Punkt hinter die Franco-Zeit zu setzen. Kein Ausrufungszeichen, sondern einen Punkt. Allenfalls ein Semikolon.
Solche Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie die verwinkelte Lobby erforschte, die Loggia im Innenhof, das Gelände um den Pool herum. Überall standen Gruppen von Ledersesseln und Tischen. Deren schlichte Gradlinigkeit kontrastierte angenehm mit der Ornamentik einiger, offenbar gezielt platzierter alt-kanarischer Sideboards. Heller und anthrazitfarbener Marmor auf den Böden, alt-weiß gestrichene Wände, dazwischen dunkles, aber nicht zu dunkles Holz: eine gediegene Kombination, wie Emma fand. Tanja hätte sich hier einiges abgucken können, schoss ihr durch den Kopf. Sie beschloss, jeden Gedanken an Tanja von Dückers und die Revue und insbesondere an Lambert Schulte-Bückendorf sofort wieder zu verdrängen, und sah sich stattdessen die abstrakten Bilder an, die in der Lobby hingen. Vor allem eines gefiel ihr. Strahlendes Blau holte die Farbigkeit des Ozeans und des kanarischen Himmels in das kühle Schattenreich der Hotel-Lobby. Ein Blau wie bei Yves Klein. Emma musste an das riesige Wandbild im Gelsenkirchener Musiktheater denken. Dieses Bild hier wirkte, als hätte jemand in einen großen Topf voller Yves-Klein-Blau eine Schüssel Sahne eingerührt und einmal kräftig umgerührt.
Ein paar Meter weiter, und Emma stand vor einem General. Einem gemalten, ganz und gar unabstrakt gemalten General, der sie sehr an Franco erinnerte, nur dass er harmloser wirkte, kleiner, gemütlicher. Seinem Onkelgesicht haftete nichts Militärisches an. Hätte er keine Uniform in der Farbe von Babykacke getragen, eine Schärpe quer über die Brust und eine rote rund um den fülligen Bauch und sich nicht auf einen prunkenden Degen gestützt: Emma hätte vermutet, dies sei ein Porträt des Hotelgründers. Doch darunter stand »Capitán General de Canarias« und ein Name, der Emma nichts sagte. Sie fühlte sich vage an einen spanischen Fußballspieler erinnert. Eine Jahreszahl fiel ihr auf: 1950. Offenbar das Entstehungsjahr des Bildes. Es stammte also mitten aus der Franco-Zeit. Das kam ihr vor, als wenn im Berliner Ritz-Carlton ein Gemälde von Rommel hängen würde oder von Jodl. Unvorstellbar. Gottseidank.
Emma nahm sich vor, Hanisch oder wen immer nach der Geschichte des Hotels zu befragen. Und überhaupt zum Umgang der Spanier im Allgemeinen und der Tinerfeños im Besonderen mit ihrer Geschichte. Dass ein Teil der Rambla noch bis vor kurzem nach Franco benannt gewesen war, das wusste sie. Auch, dass der Generalísimo von Teneriffa aus aufgebrochen war, die Republik zu vernichten, in den 1930er Jahren. Was ihm ja dann auch gelungen war, mit Hitlers tätiger Hilfe. Im Kunstunterricht hatten sie mal das Gemälde besprochen, auf dem Pablo Picasso die Bombardierung einer kleinen spanischen Stadt durch die Legion Condor der Wehrmacht verewigt hatte: Guernica.
Mike wüsste ihr darüber bestimmt manches zu erzählen. Michael Dorenbeck. Emma hatte den Gedanken an ihn abgewimmelt wie eine lästige Fliege, wann immer er auftauchte. Und er tauchte häufig auf, nicht erst, aber insbesondere seit Emma Hanischs Einladung nach Teneriffa angenommen hatte. Gerade jetzt, in diesem Moment, kam es ihr vor, als stünde Mike leibhaftig neben ihr und machte eine spöttische Bemerkung über ihre Neugier oder eine kluge über den Umgang mit der Erinnerung als solcher. Emma musste lächeln, wider Willen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen: Da war sie auf Teneriffa, sie war zurückgekommen, und hatte sich nicht bei ihm gemeldet. Ein paar Mal in den Tagen vor dem Abflug hatte sie durchaus daran gedacht, ihn anzurufen oder ihm eine SMS oder eine Mail zu schicken. Jedes Mal hatte sie den Gedanken unwirsch verworfen.
Wollte sie Mike wiedersehen? Ja, definitiv wollte sie das. Wenn etwas gut gewesen war an ihrem letzten Inselaufenthalt, dann, gestand sie sich ein, trug das den Namen Michael Dorenbeck. Wenn sie daran dachte, wie sie neben ihm gesessen hatte in Bruno Bautenmeisters Scheune…, richteten sich ihre Nackenhärchen auf. Sonst war ja nichts passiert zwischen ihnen, aber es hätte… Wenn sie nicht den Abschiedsbrief geschrieben hätte und fluchtartig die Insel verlassen. Hätte, wäre, könnte…
Ja, sie wollte Mike wiedersehen, auf jeden Fall. Aber wie könnte sie das anstellen, ohne daraus ein großes Drama zu machen? Jetzt einfach zu simsen: Juhu, ich bin wieder da, aber nur für ein paar Tage, das erschien ihr kindisch. Jedenfalls irgendwie unangemessen. Aufdringlich? Zu viel versprechend? Oder zu läppisch? Es musste sich ein anderer Weg finden lassen. Vielleicht sollte sie sich erst einmal die aktuelle Ausgabe der Inselzeitung besorgen.
Das erwies sich als gute Idee. Denn was fand sie in dem Blatt, neben den obligatorischen Urlaubs- und Anlagetipps? Einen größeren Beitrag über ein offenbar umstrittenes Bauprojekt in Santa Cruz. Ein deutsch-spanisches Firmenkonsortium wollte dort einen spektakulären Büro- und Apartment-Turm hochziehen, mit 32 Stockwerken, gleich neben zwei anderen Türmen, die dort schon standen, landeinwärts vom Auditorio aus gesehen, und die Emma sofort aufgefallen waren, natürlich. Sie überragten alles auf der Insel sonst Gebaute bei weitem. Sie wirkten wie zwei kantige Ausrufezeichen aus Stahl und Glas inmitten eines Waldes aus Kleinbuchstaben und Kommata. Dem Artikel entnahm sie, die Türme – La Candela I und II – sollten um einen dritten ergänzt werden – La Candela III –, diesmal einen runden. Es gab Befürworter und Gegner des Baus. Vom Ausverkauf der Kulturmeile war die Rede, von einem Ghetto für Reiche, von irreversiblen Eingriffen ins Mikroklima. Was Emma aber vor allem elektrisierte, neben dem Namens des Autors, war ein anderer Name, auf den sie in dem Text stieß: Horst Hanisch. Er wurde zitiert, in doppelter Funktion. Er wohnte im Candela, und offenbar war er irgendwie an dem Bauprojekt beteiligt. Es hieß, er sei ein »Berater« der Investoren.
Der Autor des Artikels hieß Mike Dorenbeck. Jetzt hatte sie einen geradezu zwingenden, nämlich einen journalistischen Grund, sich bei ihm zu melden, rein aus professioneller Neugier heraus, natürlich.
6
Sag das jetzt nicht! Du begehst einen Fehler! Du wirst es bereuen. Emma hielt sonst nichts von inneren Stimmen. Sie hatte es nicht so mit Esoterik und ähnlichem Gedöns. Aber jetzt hörte sie es klar und deutlich: Nein! Sag es nicht!
Sie hatte es dann doch gesagt: »Willst du noch mit hochkommen?« Sie hätte auf die Stimme hören sollen.
Jetzt lag sie in ihrem extra breiten und extra hohen King-Size-Hotelbett und war allein. Sie fühlte sich alleiner – wenn es das Wort gäbe – als an irgendeinem Morgen zuvor, an den sie sich erinnern konnte. Sie fühlte sich alleingelassen. Von der ganzen Welt. Schlimmer: von sich selbst. Und von Mike. Aber dem konnte sie das am wenigsten verübeln.
Mike war gegangen. Im Dunkeln. Es mochte um drei oder vier Uhr gewesen sein. Sie hatte nicht auf die Uhr gesehen. Sie hatte nichts gesehen, nichts sehen wollen, nichts hören, nichts schmecken. Sie hätte sich wegbeamen wollen. Irgendwohin, nur weg aus diesem Bett, diesem Zimmer, dieser Situation.
Dabei hatte der Abend wunderbar begonnen. Emma hatte gedacht, sie schwebe, nach ihrem Telefonat mit Mike. Sie war stolz auf sich. Sie fühlte sich gut. Sie freute sich aufs Wiedersehen. Sie stieg unter die Dusche und trällerte, ganz gegen ihre Gewohnheit, ein Lied. War sie glücklich? Vermutlich.
»Ich hätte gern Herrn Dorenbeck gesprochen.« Sie hatte in der Redaktion der Inselzeitung angerufen. Schließlich ging’s ums Geschäft. Ein business call. »Herr Dorenbeck ist unterwegs«, meldete sich eine Frauenstimme. Sie klang jung. Emma fühlte einen imaginären Stich, empfand einen Anflug von Übelkeit. »Aber ich kann ihm gern eine Nachricht zukommen lassen, wenn Sie mir Ihr Anliegen nennen. Wie war noch gleich Ihr Name?«
Keine fünf Minuten später rief Mike Dorenbeck zurück. »Emma? Ich kann es nicht fassen. Wie oft habe ich gedacht, wenn mein Telefon klingelte, du wärst dran. Und jetzt, wo ich die Hoffnung fast aufgegeben hatte – aber nur fast –, da rufst du an. Wo bist du? Und was soll der Quatsch mit ›Candela III‹?«
Emma hatte der Zicke in der Redaktion neben ihrem Namen das Stichwort »Candela III« hinterlassen. Bei der Zicke kam das gut an. Sie wirkte beflissen: »Ach, es geht um den Artikel?«
»Genau.«
»Deine Kollegin in der Redaktion schien ganz beruhigt zu sein, dass ich nur wegen des Artikels hinter dir her bin.«
»Ach, du bist hinter