Willow kochte Tee, aß eine Scheibe Brot mit Käse, genoss etwas frisches Obst und fütterte danach seine Katze. Er sah auf die Uhr. Gerade mal achtzehn Uhr.
Er überlegte fieberhaft, wie er die junge Frau wiedersehen konnte. Es gab natürlich öffentliche Computer, doch da konnte ihm jeder über die Schulter gucken, deshalb schloss er diese Geräte für sich kategorisch aus. Er entschied sich, den altmodischen Weg zu gehen und eine Zeitungsannonce aufzugeben. Vielleicht las diese Cathy sie ja.
Doch Cathy las niemals Zeitung. Sie litt unter Legasthenie. Das jedoch konnte Jason Willow nicht ahnen.
»Ich habe dir nur ein einziges Mal in die Augen gesehen, für Sekunden,
doch du gehst mir einfach nicht mehr aus dem Sinn.
Ich würde dich sehr gern wiedersehen, bitte nimm Kontakt mit mir auf.
Du weißt ja, wo ich wohne.
Jason Willow«
Diese Anzeige gab Jason am nächsten Tag beim Berliner Tagesspiegel auf und freute sich darauf, dass Cathy vielleicht schon am Abend vor seiner Tür stehen würde. Doch ganz andere Dinge erwarteten ihn, denn er hatte mit seinem Namen unterschrieben und damit schlafende Hunde geweckt.
Cathy Winter trat morgens um sieben Uhr ihren Dienst bei der Poststelle an. Viele Mitarbeiter lasen dort den Tagesspiegel.
Plötzlich meinte ein älterer Mitarbeiter: »Ach Gott, ist das romantisch. Schau mal, Cathy«, und hielt ihr die Anzeige hin.
Doch diese sagte nur: »Ich habe gerade meine Brille nicht auf, was steht denn da?«
Der ältere Mitarbeiter las ihr die Anzeige vor, und Cathy wusste sofort, dass sie damit gemeint war. Der große Mann in dem schäbigen Haus, der suchte sie. Hatte der denn keinen Computer, wie war denn der unterwegs? Cathy grinste. Aber sie fühlte sich angemacht von den Bemühungen des Mannes, sie wiederzusehen, der einige Jahre mehr auf dem Buckel hatte als sie – sehr viel mehr Jahre. Er hatte Falten im Gesicht, doch ansonsten fand sie ihn ganz okay.
Gut, sie würde ihn noch etwas schmoren lassen, er wohnte sowieso nicht hier vor Ort – doch hingehen zu ihm würde sie auf jeden Fall. Irgendetwas sagte ihr, dass der Typ ein guter Fang sein würde.
Doch noch jemand hatte diese Anzeige gelesen und grinste vor Vergnügen. Willows Gehirn schien die neue Freiheit nicht zu bekommen. Wie sonst konnte ihm so etwas passieren? Es war ja geradezu eine Einladung, den alten Kampf wieder aufzunehmen, zu vollenden, was im Knast nicht ganz funktioniert hatte. Man würde dem Boss Willow auf einem Silbertablett servieren. Jawohl, das würde man tun.
Chicco, wie sie ihn alle nannten, murmelte sich zu: »Du bist tot, so einen Fehler verzeiht Mr. X niemals. Du hast nicht nachgedacht, Jason Willow. So etwas wird posthum bestraft. Wir finden dich, sei dir da mal ganz sicher.«
Doch soweit dachte Jason Willow eigentlich nicht. Er hatte seine Anzeige platziert, nun wartete er auf ein Lebenszeichen des Mädchens, er brauchte dringend etwas Weibliches neben sich. Gut, er hätte sich jedes beliebige Mädchen von der Straße pflücken können, doch das wollte er nicht mehr. Er suchte etwas Festes für eine enge Freundschaft und mehr – wollte das geordnete Leben eines gesetzestreuen Bürgers führen.
Hätte Chicco das vernommen, er hätte Tränen gelacht. Ausgerechnet Jason Willow.
***
Drei Monate später:
Der Hochsommer warf seine Schatten voraus und mit ihm stand ein Riesenhaufen Arbeit an. Das Grünflächenamt hatte Hochsaison und mit ihm seine Mitarbeiter.
Jason Willow musste nun nicht nur die Friedhöfe der Stadt in Schuss halten, sondern auch in Parks und Grünflächen aushelfen, denn bis jetzt war wenig Regen gefallen. Es musste gesprengt werden, die Mülleimer mussten geleert werden – alles Dinge, die die schönste Zeit des Jahres so mit sich brachte.
Jason jätete Unkraut, er wässerte Rasen, goss Blumen, überall, wo gerade Not am Mann war. Der Sommer war für die Gärtner die hektischste Zeit des Jahres. Doch auch Gärtner konnten sich nicht vierteilen. Und es war heiß in der Stadt.
Auch Cathy war bis jetzt noch nicht wieder aufgetaucht. Jason hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben. Und er hatte sich geschworen, nie wieder ein Paket anzunehmen. Niemand hatte es bei ihm abgeholt. Sooft er auch bei seinen Nachbarn geklingelt hatte, nie wie war jemand da gewesen. Letztlich hatte er es nach drei Wochen selbst entsorgt und in den Müll getan. Wer nach drei Wochen bestellte Waren nicht vermisste, der brauchte sie danach auch nicht mehr.
Mittlerweile schaute Jason jeder Frau hinterher. Sein Geschlechtsteil befand sich im Ausnahmezustand. Das viele nackte Fleisch, was man derzeitig wieder zu sehen bekam, regte seine Fantasie extrem an. Zwischenzeitlich hatte er das getan, was er nie mehr hatte tun wollen – sich eine Hure gekauft, doch es war nicht dasselbe. Er wusste ja, dass alles nur gespielt war. Bei Cathy wäre es echt, dazu war sie noch blutjung – irgendetwas zog ihn magisch zu dieser jungen Frau hin.
Jason war an diesem Tag auf dem Zentralfriedhof zugange und wollte den Blumen gerade Wasser geben, da sah er sie. Sie stand vor einem älteren Grab und hielt offenbar Zwiesprache mit den Toten.
Jason Willow trat näher und sprach sie leise an: »Cathy, erinnerst du dich noch an mich?«
Cathy wirbelte erschrocken herum und sagte etwas lauter als sonst: »Wer sind Sie?« Doch dann dämmerte es ihr: »Oh, Sie sind der Typ mit der Zeitungsanzeige, stimmt’s? Entschuldigung, aber ich habe Sie nicht gleich erkannt. Ich habe gar nicht mehr an Sie gedacht.«
Das gab Jason zwar einen Stich ins Herz, doch er räusperte sich kurz, dann meinte er: »Ach, das macht doch nichts. Jeder vergisst mal irgendetwas. Überhaupt kein Problem.«
Cathy lachte ihn an, und dieses Lächeln war es, dass Jason von nun an begleiten sollte.
»Tja«, meinte sie, »ist wohl so, aber wir haben uns ja trotzdem gefunden. Sie, sorry, du arbeitest hier. Bist Gärtner … oder was?«
Jason grinste. »Ja, ich arbeite hier, und es macht mir echt viel Spaß, ich weiß zumindest abends, was ich geschafft habe. Hast du vielleicht Lust auf einen Kaffee oder ein Eis? Wir können auch an den Wannsee fahren? Ich habe jetzt Feierabend.«
»Hoppla, nicht so hastig!«, meinte Cathy und schaute Willow von der Seite her an. Interessanter Typ – ein paar Falten im Gesicht, auch schien er nicht die frischeste Ausgabe zu sein, aber er hatte etwas in sich, was sie faszinierte. Diese Abgeklärtheit mit einer Spur Sex darin – das zog sie schon an. Vielleicht sollte sie ruhig einen Versuch wagen.
»Gut«, meinte sie, »dann aber Wannsee. Genau das Richtige für den Ausklang eines schönen Sonnentages.«
Jason lachte und beeilte sich. Wusch sich schnell übers Gesicht und unter den Achseln und nach zehn Minuten war er wieder bei Cathy und meinte: »Komm, lass uns von hier verschwinden.«
»Du hast doch einen sehr ruhigen Arbeitsplatz«, witzelte Cathy. »Bei uns, also bei der Post bin ich froh, wenn ich abends verschwinden kann. Hektik ohne Ende. Aber heute habe ich meinen freien Tag, und da besuche ich immer das Grab meiner Eltern.«
»Und ist da niemand sonst, kein Freund, keine Freundin?«, hakte Jason nach und Cathy schüttelte den Kopf.
»Nicht mehr. Er stand nicht auf mich, und da habe ich ihn ziehen lassen. War besser so.«
Jason schüttelte gespielt entrüstet den Kopf. »Könnte mir nicht passieren.«
Cathy fasste ihn bei der Hand. »Los jetzt, sonst fährt uns der Bus vor der Nase weg, und wir müssen noch eine halbe Stunde warten. Dann lohnt sich das ganze Unterfangen schon nicht mehr.«
Völlig aus der Puste bekamen sie gerade noch so eben den Bus, der sie an den Wannsee brachte. Cathy verfolgte auf ihrem Handy die Route und meinte, in fünf Minuten wären sie da.
Angekommen am See atmete Willow genüsslich die warme Luft des späten Nachmittags ein. Sein erster Sommer nach achtzehn Jahren Knastmief. Das durfte er Cathy natürlich noch nicht erzählen, doch irgendwann würde er ihr sein Leben