Will Berthold

Heißes Geld


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beim Lesen. Es wurde ihm schlecht. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen wie Fliegenschwärme. Er stand auf, ging an den Schrank und vergriff sich an der Gästeflasche Bourbon, obwohl selbst für die leitenden Angestellten der Firma während der Arbeitszeit striktes Trinkverbot herrschte. Feller trank, aber er konnte den widerlichen Geschmack nicht hinunterspülen. Der alte Roskoe würde ihm unter diesen Umständen die Alkoholfahne verzeihen.

      »Es hatte sich angehört, als wollte sich der Mann von der Dewako einen makabren Scherz leisten, aber als ich den Blick meines Bruders suchte, der mich mit den Augen und dem Gesicht meines Vaters ansah, spürte ich, daß ich unsere angetrunkenen Folterknechte unterschätzt hatte und daß Joseph mit der erbarmungslosen Todeslotterie rechnete. ›Hör zu‹, sagte er leise: ›Ich werde das übernehmen. Du mußt durchkommen.‹

      Ich wehrte mich dagegen.

      ›Denk an unsere Mutten, sagte Joseph. › Wir wollen doch keine zwei Todesfälle in der Familie haben!‹

      Er kam nicht weiter, der Posten holte uns ab. Wir wurden in getrennte Zellen geschafft, während oben das Gelage weiterging.

      Mutter litt an Herzkranzverengung. Bei der kleinsten Aufregung konnten äußerst schmerzhafte, lebensbedrohende Angina-pectoris-Anfälle auftreten. Ich spürte auf einmal groß und überwältigend die Versuchung, mich hinter dem Leiden meiner Mutter zu verstecken, um die eigene Haut auf Kosten meines Bruders zu retten.

      Er war nicht Abel, and ich wollte nicht Kain sein.

      Aber ich wollte auch nicht sterben, nicht mit 24, nicht in einer Zelle wie ein stranguliertes Tier, und nicht, ohne mich wehren zu können. Meine Gedanken rannten gegen die Wand, rannten sich den Kopf ein. Und dieser Kopf wollte überleben.

      Ein paar Stunden später wurden wir wieder in das Vernehmungszimmer geholt. Diesmal sahen wir nur Dumbsky und Eckel, Saumweber und der Chef waren weggefahren.

      ›Bedankt euch beim Sturmbannführer, sagte Eckel und grinste. ›Reif seid ihr ja beide, aber in unserer Güte begnügen wir uns mit einem. Was meinst du‹, sagte er und stieß Joseph leicht mit dem Fuß an:

      ›Willst du auf die Reise gehen? Oder sollen wir lieber ihn schicken?‹

      ›Mich‹, entschied Joseph.

      Dumbsky grinste und drehte sich um: ›Wir sollten den anderen auch noch fragen‹, sagte er. ›Er soll auch seine Chance haben. ‹

      Ich schwieg. Eckel deutete auf Joseph.

      Ich schüttelte den Kopf.

      Er deutete auf mich.

      Ich schüttelte wiederum den Kopf.

      ›Da herrschen noch Unklarheiten‹, sagte Dumbsky mit leiser Stimme. ›Ist ja auch kein Pappenstiel, diese Entscheidung. Komm, Wulf-Dieter, lassen wir die Herren Familienrat halten. ‹ Er stand auf. ›Fünf Minuten. Wir trinken noch einen, dann verkünden uns die beiden Schriftgelehrten ihren weisen und einstimmigen Entschluß. ‹

      Sie gingen hinaus. Ich überlegte, ob es einen Sinn hätte, mit einem Satz zum Fenster hinauszuspringen. Joseph zwang mich, stehenzubleiben und ihn anzusehen.

      ›Paß auf, Nathan‹, sagte er. ›Ich bin auch nicht erpicht auf das, was ich tun muß. Ich hab’s leichter als du. Ich habe keine Angst. ‹

      ›Keine Angst?‹ fragte ich und verachtete mich.

      ›Aus einem anderen Grund‹, erwiderte er und sprach so leise, daß nur ich es hören konnte: ›Ich gehörte zum Office of Strategie Service (OSS). Ich bin im Auftrag des Generals Donovan nach Frankreich gekommen. Ich habe die Maquisards aus der Luft mit Waffen und Ausrüstung versorgt, und ich hatte den Befehl, die Invasion der angloamerikanischen Streitkräfte vorzubereiten. Ich bin ein Geheimnisträger ersten Ranges. Und ich ersticke an dem Alptraum, daß sie mich zum Reden bringen könnten. ‹

      ›Dich doch nicht‹, entgegnete ich.

      ›Jeden‹, sagte Joseph: ›Sogar noch Steine. Und dann sterben vielleicht zehn, fünfzehn Mann, oder es geht eine ganze Landedivision vor die Hunde. Davor fürchte ich mich‹, gestand er, ›und vor nichts anderem.‹

      Er konnte nichts mehr sagen.

      Unsere beiden Peiniger kamen zurück.

      Dumbsky baute sich vor meinem älteren Bruder auf: ›Und?‹ fragte er genüßlich.

      ›Es bleibt dabei‹, antwortete Joseph.

      ›Und du bist damit einverstanden?‹ wandte sich Dumbsky an mich.

      Ich nickte mit einem Kopf, der so schwer war, als hätte er den ganzen Erdball zu tragen.

      ›Na, also‹, sagte Eckel. ›Dann nehmen wir ihn auch gleich mit.‹

      ›Sei nicht so roh, erwiderte Dumbsky. ›Schließlich sind sie Brüder und sollen sich voneinander verabschieden.‹

      Ich wollte ihm ins Gesicht springen, aber Josephs Blick nagelte mich fest, zwang mich, alles über mich ergehen zu lassen, zu begreifen, daß er einer Vernunft folgte, die für ihn tödlich wäre und mich – vielleicht – am Leben ließe.

      Joseph legte den Arm um mich, drückte mich an sich, wie sie es ihm befohlen hatten. Er ging, ohne sich umzudrehen – trotzdem brennt mir heute noch sein Blick im Gesicht.

      Ich sah Joseph noch einmal. Am nächsten Morgen. Als mich Eckel abholte, wußte ich, daß er an der Heizung hängen würde. Er hatte ein verschwollenes Gesicht mit blauen Lippen, vielleicht vom Todeskampf. Sein linkes Auge war geöffnet und blickte starr zur Decke, das rechte geschlossen.

      ›Dein Bruder hat sich leider aufgehängt, heute nacht‹, sagte Eckel. ›So ein blöder Kerl. Wir hätten ihm doch gar nichts getan – war doch alles nur ein fauler Witz. ‹

      Ich wußte, daß sie Joseph ermordet hatten.

      Vier Tage später erfuhr ich, daß das Geld aus New York in der Schweiz eingetroffen sei. Ich wurde gegen 400 000 Dollar freigelassen und konnte mich später von Lissabon aus in die Staaten einschiffen, wo ich mich sofort freiwillig zur US-Air Force meldete.«

      Feller stand so abrupt auf, daß sein Stuhl umstürzte. Er stürmte an verblüfften Sekretärinnen vorbei durch das Vorzimmer. Roskoe blickte auf, er wirkte ernst, würdig und nachdenklich.

      »Es tut mir leid, Henry«, sagte er, »ich habe Ihnen die Falle gestellt. Es war unfair. Ich wußte, daß Sie keine Chance hätten, ihr zu entkommen.«

      »Okay«, erwiderte der Anwalt. »Ich weiß nicht, was ich tun kann, aber ich werde etwas unternehmen.«

      »Sie haben jede Unterstützung von mir«, antwortete der Senior. »Und das heißt, daß Sie sich soviel Zeit nehmen können, wie Sie wollen, daß Ihnen jede Summe zur Verfügung steht und daß ich Ihnen meine Beziehungen –«

      Henry W. Feller nickte, ging zurück, läutete einen Kontaktmann beim Geheimdienst in Washington, D. C., an. Er bat ihn, die Akten über die deutsche Firma Dewako in Paris 41 bis 44 auszugraben.

      Kurze Zeit später erhielt der Anwalt einen Rückruf von CIA-General Lionel M. Rings: Ein eingeschlafener Fall war ins Rollen gekommen.

      Der Frühling war in den letzten Mai-Tagen wie ein Prahlhans in das Revier eingezogen. Seit Tagen öffnete ungewöhnliche Wärme Fenster und Zapfhähne. Die pralle Sonne beleuchtete eine Landschaft von verzweifelter Schönheit. Die Kühltürme schienen den Atem anzuhalten, und nichts ließ unter diesem blauen Himmel erkennen, daß in den Kohlenpott alljährlich 25000 Tonnen Ruß fallen, der 75000 Eisenbahnwaggons füllen könnte, so viel, daß die Ruhrbewohner, ein kerniger Menschenschlag, geprägt von Maloche und Mutterwitz, sagen: »Wer sich in Essen zweimal schnäuzt, hat ein Brikett im Taschentuch.«

      Sabine war nun schon fast vier Monate bei Müller & Sohn, und es schien ihr, daß an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht nur in diesen Tagen die Sonne scheine. Jedenfalls hatte sich bisher Nareike als der angenehmste Chef erwiesen, den sie je gehabt hatte,