fuhr. Das Lexikon hatte ›Tunte‹ gefunden und das thailändische Wort ›Katoeye‹ angezeigt. Jeab riss die Augen auf und saß mit offenem Mund da. Jetzt schrien beide kreischend auf. »Tun-ten-hau-sen, Katoeye baan!«, schrie Jeab laut. »Katoeye baan!«, wiederholte Muu.
Am Ortseingang fuhren sie am Rathaus vorbei. Vor dem Rathaus standen an die dreißig Menschen in bayerischen Trachten.
»A bayerische Hochzeit«, sagte die Taxifahrerin lächelnd, verlangsamte das Tempo und hupte. Muu und Jeab sahen sie fragend an. »Bavarian Wedding«, sagte sie grinsend.
Jeab und Muu gaben ein lautes »Ahh« von sich und winkten und lächelten um die Wette. Sie sahen, wie gerade zwei Männer, die mit breiten ausladenden Hüten und langen braunen Trachtenjacken mit glänzenden Silberknöpfen sowie Lederhosen bekleidet waren, das Rathaus verließen und auf die Menschenmenge zugingen. Der eine hatte sich bei dem größeren eingehängt und hielt einen Blumenstrauß in der Hand. Sofort brach Jubel aus, und das Brautpaar wurde mit Reis beworfen.
»Jetzt heiraten a schon die Schwulen in Tuntenhausen«, sagte die Taxifahrerin unter Kopfschütteln. »Eingetragene Partnerschaft heißt des jetzt«, sagte sie zu Jeab und Muu und trat aufs Gaspedal.
Muu und Jeab lachten und konnten ihr Glück kaum fassen. Sie waren außer sich vor Freude. Das musste der Ort sein, den der Guru geweissagt hatte. Sie waren felsenfest davon überzeugt, ihren vorbestimmten Ort gefunden zu haben. Der Guru hatte wie immer Recht gehabt. Jeab legte der Taxifahrerin seine Hand auf die Schulter und bat sie, weiterzufahren. Sie wollten sich den Ort ansehen. »Sightseeing … Katoeye baan«, rief Muu laut, fuchtelte mit der Hand und nickte der Fahrerin lächelnd zu. Sie nickte ebenfalls und fuhr langsam durch den Ort. Die beiden hingen mit den Köpfen aus dem Fenster und staunten über die wunderbaren Gebäude, die aufgeräumten Straßen und all diese sauberen Menschen.
Sie diskutierten aufgeregt, was sie gerade alles erlebten. Merkwürdig fanden sie, dass sie gar keine Katoeys entdeckten. Aber wahrscheinlich kleideten sie sich hier anders. Eben mit großen Hüten, langen Jacken und Hosen aus Leder, wie die beiden, die eben geheiratet hatten. Oder vielleicht waren sie alle getarnt, wenn sie ihre Häuser verließen. Sie kamen zu dem Schluss, dass sie hauptsächlich versteckt hinter den Mauern der Häuser leben würden.
Hinter der Ortschaft fuhren sie an einem großen Gasthof vorbei. ›Zur Schwemme‹ stand in altdeutschen Lettern über der Tür. Darunter ein Schild ›zu verkaufen‹.
»For sale«, übersetzte die Taxifahrerin.
»Ah, for sale«, sagte Muu zu Jeab. Muu tippte ›Schwemme‹ ein. »Djam nuuan maak«, las Muu vor.
Jeab staunte. Das Wort stand auch für Unbegrenztheit und Unendlichkeit. Das musste es sein. Sie hatten ihren heiligen Platz in einem heiligen Ort gefunden.
Sie stiegen aus, liefen um das Objekt herum, machten durch die Fenster unzählige Fotos von den Räumen und allen Schildern, auch vom Ortsschild. Dann ließen sie sich nach Prien zurückbringen, gaben der Taxifahrerin noch einmal reichlich Trinkgeld und bestiegen die Fähre. Sie umarmten sich und wussten, dass sie alles richtig gemacht hatten.
Loyalität
Nachdem Adnan Curri erneut aus seinem Dorf geflohen war, tauchte er wieder in Tirana unter. Seine Mutter hatte er nie wiedergesehen. Das Gefühl der Ungerechtigkeit und der Hass gegenüber der heimatlichen Tradition in den ›Verwunschenen Bergen‹ Albaniens brannten sich mit jedem Tag tiefer in seine Seele.
In Tirana überließ er sich vollkommen seinen Herren. Sie unterrichteten ihn darin, wie man Menschen unterdrückt, erpresst und mit Messern tötet. Sie brachten ihm Techniken bei, wie man seine Zweifel und Skrupel durch meditative Übungen überwinden kann, wie man jedes Mitgefühl ausmerzt. Sie zeigten ihm, wie man Menschen zum Reden bringt. Nach einem weiteren Jahr in Tirana war er ein entwurzelter und anderer Mensch. Sie hatten ihm dabei geholfen, seine Gewissensbisse zu verbannen, die er nach Qamils Tod mit sich herumgetragen hatte.
Einer seiner Kameraden aus Tirana hatte es nach Wien geschafft. Petrit schickte ihm irgendwann Geld und genaue Informationen, wie auch er es nach Österreich schaffen könnte. Adnan hatte über die letzten beiden Jahre Deutsch gelernt und zögerte keinen Augenblick. Er floh aus Tirana über die Berge in den Kosovo und begab sich nach Priština, wo er Anfang Mai 2014 einen Schlepperbus bestieg. Er gab sich als Kosovo-Albaner und somit als Flüchtling aus, der keine Papiere besaß.
Der Bus brachte ihn nach Serbien. Östlich von Subotica in der nördlichen Provinz Vojvodina, kurz vor der ungarischen Grenze, überließen die Schlepper die Leute aus dem Bus sich selbst. Adnan tat das einzig Richtige, er setzte sich von der Gruppe der anderen Flüchtlinge ab.
In der Abenddämmerung schlug er sich nach Osten durch, wie es ihm sein Freund Petrit detailliert aufgeschrieben hatte. Bei der ersten Gelegenheit hielt er auf einer einsamen Straße einen Radfahrer an, der ihm entgegenkam. Er fragte ihn nach dem Weg. Der Mann begann freundlich, ihm die Strecke zu erläutern. Doch dann wurde er skeptisch und fragte, was er an der Grenze zu Ungarn wolle. Ohne zu zögern, schlug Adnan Curri den Mann mit einem Hieb vom Rad. Er ließ ihn bewusstlos am Straßenrand liegen, hob das Rad auf und setzte seinen Weg mit dem Fahrrad fort.
Bald kam er ans Ufer der Theiß, die er noch in Serbien bei Novi Kneževac über die einzige Brücke überquerte. Er folgte dem Lauf des Flusses nach Norden, wo er ihr eiskaltes Wasser schließlich durchschwamm, um unbemerkt auf die ungarische Seite zu wechseln.
Nach langem Fußmarsch kam er durchfroren und entkräftet ins ungarische Szeged. Am nächsten Morgen bestieg er einen Zug, der ihn nach zweimaligem Umsteigen nach Sopron brachte. Von dort aus passierte er schließlich die offene Grenze ins Burgenland. Endlich, er war in Österreich. Aus Klingenbach, dem ersten österreichischen Ort, rief er Petrit an, der ihn eineinhalb Stunden später mit einem Mercedes abholte und ihn herzlich begrüßte.
Mit Petrits Hilfe konnte er in Wien schnell Fuß fassen. Petrit besorgte ihm immer wieder Jobs, die mit Einbruch und Diebstahl zu tun hatten. Petrit riet ihm, den Menschen gegenüber härter und kompromissloser aufzutreten. »Wenn du keine Härte zeigst, verlierst du alles. Man muss die Härte in deinen Augen sehen.« Adnan begriff, was Petrit meinte, und lernte schnell, dass die Menschen ihn umso mehr fürchteten, je gnadenloser er sie ansah und je weniger er mit ihnen sprach.
Dann hatte Petrit ihn an Heimo Cerny vermittelt. Cerny, der Juwelenhändler, mochte Adnan vom ersten Augenblick an. Er schätzte seine klugen Augen und seine schnelle Auffassungsgabe. Für Cerny war er wie ein ungeschliffener Edelstein, den es zu bearbeiten galt. Nach einem halben Jahr besorgte er ihm österreichische Papiere. Cerny wusste, dass er sich damit Adnan Curris immerwährende Loyalität gesichert hatte.
Cerny nannte Adnan nur bei seinem Nachnamen. »Curri, das klingt so wunderbar nach indischem Essen«, hatte Cerny lustvoll gesagt und sich die Hände gerieben. Gleich hatte er hinterhergeschoben, dass er, wenn er Curri sehe, sofort Appetit auf Chicken Vindaloo bekäme.
Schnell hatte Curri das Geschäftsmodell seines neuen Chefs kennengelernt. Ohne Cerny konnte man im deutschsprachigen Raum kaum Rubine verkaufen. Der Mann galt als Rubinexperte und verfügte am Markt über eine unbezahlbare Glaubwürdigkeit.
Curri hatte schnell festgestellt, dass Heimo Cerny kein sehr mutiger Mann war. Ja, arrogant war er, überheblich, geschäftstüchtig. Aber eben nicht sehr mutig. Curri erledigte jetzt für Cerny unangenehme Botendienste und andere Wege. Curri war fortan Cernys Mann für die groben Dinge. Im Herbst 2014 wurde Adnan Curri unwiderruflich Österreicher. Und ab diesem Zeitpunkt war er Cernys zuverlässigste Hand.
Thailandeiland
Als Jeab und Muu auf die Fraueninsel zurückgekehrt waren, zeigten sie vor, was sie gefunden hatten. Sie erzählten von Tuntenhausen, von der Hochzeit, von den netten Menschen dort und von der Schwemme. Sie zeigten Bilder und malten alles mit farbigen Worten und Formulierungen aus.
Der Guru lächelte. Die Blicke von Jeab und Muu hafteten an ihm. Als der Meister sie in den Arm nahm und sie herzte wie seine Kinder, lachten sie erleichtert. »Sei