Heinrich Mann

Gesammelte Werke


Скачать книгу

unserer Vergangenheit – auch wenn wir besiegt worden sind.“

      „Zweifellos“, sagte Diederich. „Und dann sind Sie immer noch der mächtigste Mann in der Stadt. Die Stadt, sagt man immer, gehört dem Herrn Buck.“

      „Das will ich aber gar nicht, ich will, daß sie sich selbst gehört.“ Er atmete tief aus. „Das ist eine weitläufige Sache, Sie werden sie allmählich kennenlernen, wenn Sie Einblick in unsere Verwaltung bekommen. Wir werden nämlich jeden Tag heftiger bedrängt von der Regierung und ihren junkerlichen Auftraggebern. Heute will man uns zwingen, den Gutsbesitzern, die uns keine Steuern zahlen, unser Licht zu geben, morgen werden wir ihnen Straßen bauen müssen. Zuletzt geht es um unsere Selbstverwaltung. Sie werden sehen, wir leben in einer belagerten Stadt.“

      Diederich lächelte überlegen. „So schlimm kann es wohl nicht sein, denn unser Kaiser ist doch eine so moderne Persönlichkeit.“

      „Nun ja“, sagte der alte Buck. Er erhob sich, wiegte den Kopf – und dann zog er es vor, zu schweigen. Er reichte Diederich die Hand.

      „Mein lieber Doktor, Ihre Freundschaft wird mir gerade so wertvoll sein, als die Ihres Vaters mir war. Nach unserer Unterredung habe ich die Hoffnung, daß wir in allem einig gehen werden.“

      Unter dem warmen blauen Blick des Alten schlug Diederich sich auf die Brust. „Ich bin ein durchaus liberaler Mann!“

      „Vor allem warne ich Sie vor dem Regierungspräsidenten von Wulckow. Er ist der Feind, der uns hier in die Stadt gesetzt worden ist. Der Magistrat unterhält nur die unumgänglichen Beziehungen zum Präsidenten. Ich selbst habe die Ehre, von dem Herrn nicht gegrüßt zu werden.“

      „Oh!“ machte Diederich, ehrlich erschüttert.

      Der alte Buck öffnete ihm schon die Tür, schien aber noch etwas zu überlegen. „Warten Sie!“ Er trat eilig zu seiner Bibliothek, bückte sich und tauchte aus einer staubigen Tiefe mit einem kleinen, fast quadratischen Buch auf. Er steckte es Diederich rasch zu, verstohlenen Glanz in seinem Gesicht, das errötet war. „Da, nehmen Sie! Es sind meine ‚Sturmglocken‘! Man war auch Dichter – damals.“ Und er schob Diederich sanft hinaus.

      Die Fleischhauergrube stieg beträchtlich an, aber Diederich schnaufte nicht nur deshalb. Nachdem er zuerst nur eine gewisse Betäubung empfunden hatte, stellte sich allmählich das Gefühl heraus, daß er sich habe verblüffen lassen. „So ein alter Schwätzer ist doch bloß noch eine Vogelscheuche, und mir imponiert er!“ Unbestimmt gedachte er der Kinderzeit, als ihm der alte Herr Buck, [pg 128]der zum Tode verurteilt worden war, ebensoviel Hochachtung und ein ähnliches Grausen einflößte wie der Polizist an der Ecke oder das Burggespenst. „Werd’ ich denn ewig so weich bleiben? Ein anderer hätte sich nicht so behandeln lassen!“ Auch konnte es peinliche Folgen haben, daß er zu so vielen kompromittierenden Reden geschwiegen oder nur matt widersprochen hatte. Er legte sich energische Antworten zurecht, für das nächste Mal. „Das Ganze war eine Falle! Er hat mich einfangen und unschädlich machen wollen ... Aber er soll sehen!“ Diederich ballte die Faust in der Tasche, indes er stramm durch die Kaiser-Wilhelm-Straße ging. „Vorläufig muß man sich noch mit ihm verhalten, aber wehe, wenn ich der Stärkere bin!“

      Das Haus des Bürgermeisters war mit Ölfarbe neu gestrichen, und die Spiegelscheiben glänzten wie je. Ein nettes Stubenmädchen empfing ihn. Über eine Treppe mit einem freundlichen Knaben aus Biskuit, der eine Lampe trug, und durch ein Vorzimmer, worin fast vor jedem Möbel ein kleiner Teppich lag, ward Diederich in das Eßzimmer geführt. Es war aus hellem Holz mit appetitlichen Bildern, zwischen denen der Bürgermeister und noch ein Herr beim zweiten Frühstück saßen. Doktor Scheffelweis reichte Diederich seine weißliche Hand hin und musterte ihn dabei über den Klemmer weg. Trotzdem wußte man nie genau, ob er einen ansah, so unbestimmt war der Blick seiner Augen, die farblos schienen wie das Gesicht und die seitwärts fliehenden, dünnen Bartkoteletts. Der Bürgermeister setzte mehrmals zum Sprechen an, bis er endlich etwas fand, das man auf alle Fälle sagen konnte. „Schöne Schmisse“, sagte er; und zu dem anderen Herrn: „Finden Sie nicht?“

      Der andere Herr legte Diederich zunächst große Zurückhaltung auf, denn er sah stark jüdisch aus. Aber der Bürgermeister stellte vor: „Herr Assessor Jadassohn, von der Staatsanwaltschaft“ – was dann allerdings eine vollwertige Begrüßung nötig machte.

      „Setzen Sie sich nur gleich,“ sagte der Bürgermeister, „wir fangen gerade an.“ Er schenkte Diederich Porter ein und legte ihm Lachsschinken vor. „Meine Frau und meine Schwiegermutter sind ausgegangen, die Kinder in der Schule, dies ist die Stunde des Junggesellen, prost!“

      Der jüdische Herr von der Staatsanwaltschaft hatte vorläufig nur für das Stubenmädchen Augen. Während sie neben ihm am Tisch zu tun hatte, war seine Hand verschwunden. Dann ging sie, und er wollte von öffentlichen Angelegenheiten beginnen, aber der Bürgermeister ließ sich nicht unterbrechen. „Die beiden Damen kommen vor dem Mittagessen nicht zurück, denn meine Schwiegermutter ist beim Zahnarzt. Ich kenne das, es kostet Mühe mit ihr, und inzwischen gehört uns das Haus.“ Er holte einen Likör aus dem Büfett, rühmte ihn, ließ sich seine Güte von den Gästen bestätigen und fuhr fort, eintönig und vom Kauen unterbrochen, das Idyll seiner Vormittage zu preisen. Allmählich ward, in allem Glück, seine Miene immer besorgter, er fühlte wohl, das Gespräch könne so nicht weitergehen; und nachdem eine Minute lang alle geschwiegen hatten, entschloß er sich.

      „Ich darf annehmen, Herr Doktor Heßling –: mein Haus liegt ja nicht in nächster Nachbarschaft des Ihren, und so würde ich es durchaus begreiflich finden, wenn Sie vor mir einige andere Herren aufgesucht hätten.“

      Diederich errötete schon für die Lüge, die er noch nicht ausgesprochen hatte. „Es würde herauskommen“, dachte [pg 130]er noch rechtzeitig, und er sagte: „Tatsächlich habe ich mir erlaubt –. Das heißt, natürlich war mein erster Weg zu Ihnen, Herr Bürgermeister. Nur im Andenken an meinen Vater, der eine so große Verehrung für den alten Herrn Buck hatte –“

      „Begreiflich, durchaus begreiflich.“ Der Bürgermeister nickte mit Nachdruck. „Herr Buck ist der älteste unter unseren verdienten Bürgern und übt daher einen zweifellos legitimen Einfluß aus.“

      „Vorläufig noch!“ sagte mit unerwartet scharfer Stimme der jüdische Herr von der Staatsanwaltschaft und sah Diederich herausfordernd an. Der Bürgermeister hatte sich über seinen Käse gebeugt, Diederich fand sich schutzlos, er blinzelte. Da der Blick des Herrn durchaus ein Bekenntnis verlangte, brachte er etwas hervor von „eingefleischtem Respekt“ und führte sogar Kindheitserinnerungen an, die es entschuldigen sollten, daß er zuerst bei Herrn Buck gewesen war. Dabei betrachtete er schreckerfüllt die ungeheuren, roten und weit abstehenden Ohren des Herrn von der Staatsanwaltschaft. Dieser ließ Diederich fertig stammeln, wie einen Angeklagten, der sich verfing; endlich versetzte er schneidend:

      „Der Respekt ist in gewissen Fällen dazu da, daß man sich ihn abgewöhnt.“

      Diederich stutzte; dann entschloß er sich zu einem verständnisvollen Gelächter. Der Bürgermeister sagte mit blassem Lächeln und einer versöhnlichen Geste:

      „Herr Assessor Doktor Jadassohn ist nun einmal gern geistreich, – was ich persönlich ganz besonders an ihm schätze. In meiner Stellung freilich bin ich genötigt, die Dinge objektiv und voraussetzungslos zu betrachten. Und da muß ich denn sagen: einerseits ...“

      „Kommen wir gleich zum Andererseits!“ verlangte Assessor Jadassohn. „Für mich als Vertreter einer staatlichen Behörde wie als überzeugten Anhänger der bestehenden Ordnung sind dieser Herr Buck und sein Genosse, der Reichstagsabgeordnete Kühlemann, nach ihrer Vergangenheit und Gesinnung einfach Umstürzler, und damit fertig. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube, ich halte das nicht für deutsch. Volksküchen gründen, meinetwegen; aber das beste Futter für das Volk ist eine gute Gesinnung. Eine Idiotenanstalt mag auch ganz nützlich sein.“

      „Aber nur eine kaisertreue!“ ergänzte Diederich. Der Bürgermeister machte beschwichtigende Zeichen. „Meine Herren!“ flehte er. „Meine Herren! Wenn wir uns denn aussprechen sollen, so ist es gewiß richtig, daß bei aller bürgerlichen Hochschätzung