Diederich begeisterten sich für die tiefe Frömmigkeit des Monarchen. Da fiel ein Schuß.
„Es hat geknallt!“ Jadassohn sprang zuerst auf, alle sahen erbleicht einander an. Vor Diederichs innerem Auge erschien blitzschnell das knochige Gesicht Napoleon Fischers, seines Maschinenmeisters, mit dem schwarzen [pg 147]Bart, durch den man die graue Haut sah, und er stammelte: „Der Umsturz! Es geht los!“ Draußen war Getrappel von Laufenden: auf einmal griffen alle nach ihren Hüten und rannten hinaus.
Die Leute, die sich schon angesammelt hatten, hielten in einem scheuen Bogen von der Ecke des Bezirkskommandos bis an die Treppe der Freimaurerloge. Drüben, wo der Kreis offen stand, lag jemand, das Gesicht nach unten, mitten auf der Straße. Und der Soldat, der vorhin so munter auf und ab gegangen war, stand jetzt unbeweglich vor seinem Schilderhaus. Der Helm hatte sich ihm verschoben, man sah, daß er bleich war, den Mund offen hatte und auf den Gefallenen hinstierte – indes er sein Gewehr beim Lauf hielt und es am Boden schleppen ließ. Im Publikum, zumeist Arbeitern und Frauen aus dem Volk, ward dumpf gemurrt. Plötzlich sagte eine Männerstimme sehr laut: „Oho!“ – und darauf trat tiefe Stille ein. Diederich und Jadassohn verständigten sich durch einen blassen Blick über das Kritische des Augenblicks.
Die Straße herunter lief ein Schutzmann und ihm voraus ein Mädchen, dessen Rock wehte und das schon von weitem rief:
„Da liegt er! Der Soldat hat geschossen!“
Sie war angelangt, sie warf sich auf die Knie, sie rüttelte den Mann. „Auf! Steh doch auf!“
Sie wartete. In seinen Füßen schien es zu zucken; aber er blieb liegen, Arme und Beine über das Pflaster gestreckt. Da schrie sie los: „Karl!“ Es gellte, daß alle auffuhren. Frauen schrien mit, mehrere Männer stürzten vor, die Fäuste geballt. Die Ansammlung war dichter geworden; zwischen den Wagen, die halten mußten, quoll Nachschub hervor; und in dem drohenden Gedränge [pg 148]arbeitete das Mädchen sich ab, unter ihren aufgelösten Haaren, die flatterten, und mit verzerrtem, nassem Gesicht, woraus wohl Geschrei kam, aber man hörte es nicht, der Lärm verschlang es.
Der einzige Schutzmann drängte mit ausgebreiteten Armen die Menge zurück, sie trat sonst auf den Liegenden. Er schrie vergebens gegen sie an, tanzte ihr auf den Füßen und sah sich, den Kopf verlierend, in der Luft nach Hilfe um.
Und sie kam. Im Regierungsgebäude ging ein Fenster auf, ein großer Bart erschien, und eine Stimme drang heraus, eine furchtbare Baßstimme, die jeder, auch wenn er sie noch nicht verstand, durch allen Aufruhr dröhnen hörte wie fernen Kanonendonner.
„Wulckow“, sagte Jadassohn. „Na endlich.“
„Ich verbitte mir das!“ tönte es herunter. „Wer erlaubt sich hier vor meinem Hause Lärm zu machen?“ Und da es schon ruhiger ward:
„Wo ist der Posten?“
Jetzt sahen die meisten erst, daß der Soldat sich in sein Schilderhaus zurückgezogen hatte: so tief wie möglich, und nur der Gewehrlauf stand hervor.
„Komm ’raus, mein Sohn!“ befahl der Baß von oben. „Du hast deine Pflicht getan. Er hat dich gereizt. Für deine Tapferkeit wird Seine Majestät dich belohnen. Verstanden?“
Alle hatten ihn verstanden und waren verstummt, sogar das Mädchen. Um so ungeheurer dröhnte er.
„Zerstreut euch sofort, sonst lass’ ich schießen!“
Eine Minute, und einige liefen schon. Gruppen von Arbeitern lösten sich los, zögerten – und gingen wieder ein Stück weiter, mit gesenkten Köpfen. Der Regierungspräsident rief noch hinunter:
„Paschke, holen Sie mal ’n Doktor!“
Dann klappte er das Fenster wieder zu. Im Eingang der Regierung aber ward es lebendig. Plötzlich waren Herren da, die kommandierten, eine Menge Schutzleute liefen von allen Seiten zusammen, knufften auf das Publikum ein, das noch übrig war, und schrien ganz allein. Diederich und seine Begleiter, die sich hinter ihre Ecke zurückgezogen hatten, sahen drüben auf der Treppe der Loge einige Herren stehen. Jetzt machte Doktor Heuteufel sich zwischen ihnen Platz. „Ich bin Arzt“, sagte er laut, ging rasch über die Straße und beugte sich zu dem Verwundeten. Er wendete ihn um, öffnete ihm die Weste und legte das Ohr an seine Brust. In diesem Augenblick waren alle still, sogar die Schutzleute schrien nicht mehr; das Mädchen aber stand da, vorwärts geneigt, die Schultern hinaufgezogen wie unter einem drohenden Schlag, und die Faust am Herzen geballt, als sei es dies Herz, das nun stillstehen sollte.
Doktor Heuteufel erhob sich. „Der Mann ist tot“, sagte er. Gleichzeitig bemerkte er das Mädchen, das schwankte. Er griff nach ihr. Aber sie stand schon wieder, sie sah auf das Gesicht des Toten nieder und sagte nur: „Karl.“ Noch leiser: „Karl.“ Doktor Heuteufel sah umher und fragte: „Was soll mit dem Mädchen geschehen?“
Da trat Jadassohn vor. „Assessor Jadassohn von der Staatsanwaltschaft“, sagte er. „Das Mädchen ist abzuführen. Da ihr Geliebter den Posten gereizt hat, liegt Verdacht vor, daß sie sich an der strafbaren Handlung beteiligt hat. Wir werden die Untersuchung einleiten.“
Zwei Schutzleute, denen er winkte, faßten das Mädchen schon an. Doktor Heuteufel erhob die Stimme: „Herr Assessor, ich erkläre als Arzt, daß der Zustand des Mädchens [pg 150]seine Verhaftung nicht zuläßt.“ Jemand sagte: „Führen Sie doch auch den Toten ab!“ Aber Jadassohn krähte: „Herr Fabrikbesitzer Lauer, ich verbitte mir jede Kritik meiner amtlichen Maßnahmen!“
Diederich inzwischen hatte Zeichen hoher Erregung von sich gegeben. „Oh!... Ah!... Aber das ist –.“ Er war ganz bleich; er setzte an: „Meine Herren ... Meine Herren, ich bin in der Lage –. Ich kenne diese Leute: jawohl, den Mann und das Mädchen. Doktor Heßling mein Name. Beide waren bis heute in meiner Fabrik beschäftigt. Ich mußte sie entlassen wegen öffentlich begangener unsittlicher Handlungen.“
„Aha!“ machte Jadassohn. Pastor Zillich rührte sich. „Das ist fürwahr der Finger Gottes“, sagte er. Der Fabrikant Lauer hatte sich in seinem grauen Spitzbart heftig gerötet, seine gedrungene Gestalt ward geschüttelt vom Zorn.
„Über den Finger Gottes läßt sich streiten. Sicher scheint nur, Herr Doktor Heßling, daß der Mann sich zu Ausschreitungen hat hinreißen lassen, weil die Entlassung ihm zu Herzen gegangen ist. Er hatte eine Frau, vielleicht auch Kinder.“
„Sie waren gar nicht verheiratet“, sagte Diederich, seinerseits entrüstet. „Ich weiß es von ihm selbst.“
„Was ändert das,“ fragte Lauer. Da erhob der Pastor die Arme. „Sind wir denn schon so weit,“ rief er, „daß es nichts ändert, ob das sittliche Gesetz Gottes befolgt wird oder nicht?“
Lauer erklärte es für unangebracht, auf der Straße und im Augenblick, wo jemand mit behördlicher Billigung totgeschossen worden sei, über sittliche Gesetze zu debattieren; und er wandte sich an das Mädchen, um ihm Arbeit in seiner Werkstatt anzubieten. Inzwischen war ein Sanitäts[pg 151]wagen angelangt; der Tote ward vom Boden aufgenommen. Wie man ihn aber hineinschob, fuhr das Mädchen aus seiner Starrheit empor, stürzte sich über die Bahre, entriß sie, ehe man es sich versah, den Männern, daß sie niederfiel – und zusammen mit dem Toten, in ihn verkrampft und unter gellendem Geschrei rollte sie auf das Pflaster. Mit großer Mühe ward sie von dem Leichnam gelöst und in eine Droschke gehoben. Der Assistenzarzt, der den Krankenwagen begleitet hatte, fuhr mit ihr fort.
Auf den Fabrikanten Lauer, der mit Heuteufel und den anderen Logenbrüdern weitergehen wollte, trat Jadassohn zu, in drohender Haltung. „Einen Augenblick, bitte. Sie äußerten da vorhin, daß hier mit behördlicher Billigung – ich nehme die Herren zu Zeugen, daß dies Ihr Ausdruck war – also mit behördlicher Billigung jemand totgeschossen sei. Ich möchte fragen, ob das von Ihrer Seite vielleicht eine Mißbilligung der Behörde bedeuten sollte.“
„Ach so“, machte Lauer und sah ihn an. „Mich möchten Sie wohl auch abführen lassen?“
„Zugleich“, fuhr Jadassohn mit hoher, schneidiger Stimme fort, „mache ich Sie darauf aufmerksam, daß das Verhalten eines Postens, der ein ihn belästigendes