Mit den Spitzen ihrer Handschuhe hob Guste einen der Fetzen vom Boden. Plötzlich hatte Diederich ihr Handgelenk gefangen und küßte es gierig, im Spalt des Handschuhs. Erschreckt sah sie sich um. „Ach so, alle Leute sind schon fort.“ Sie lachte selbstsicher. „Ich hab’ mir doch gleich gedacht, was Sie jetzt noch in der Fabrik zu tun haben.“ Diederich machte ein herausforderndes Gesicht. „Na und Sie? Warum sind Sie überhaupt gekommen heute? Sie haben wohl gemerkt, daß ich doch nicht so ohne bin? Freilich Ihr Wolfgang –. Jeder kann sich nicht so blamieren wie er, neulich vor Gericht.“ Darauf [pg 268]sagte Guste entrüstet: „Seien Sie nur ganz still, Sie werden doch nie so ein feiner Mann wie er.“ Aber ihre Augen sagten etwas anderes. Diederich sah es; erregt lachte er auf. „Wie der es eilig hat mit Ihnen! Wissen Sie auch, wofür er Sie ansieht? Für einen Kochtopf mit Wurst und Kohl, und ich soll ihn umrühren!“ – „Jetzt lügen Sie“, sagte Guste vernichtend; aber Diederich war im Zuge. „Ihm ist nämlich nicht genug Wurst und Kohl drin. – Anfangs hat er natürlich auch gedacht, Sie hätten eine Million geerbt. Aber für fünfzigtausend Mark ist solch ein feiner Mann nicht zu haben.“ Da kochte Guste auf. Diederich fuhr zurück, so gefährlich sah es aus. „Fünfzigtausend! Ihnen ist gewiß nicht wohl? Wie komme ich dazu, daß ich mir das muß sagen lassen! Wo ich bare dreihundertfünfzigtausend auf der Bank zu liegen hab’, in richtiggehenden Papieren! Fünfzigtausend! Wer so etwas Ehrenrühriges von mir herumerzählt, den kann ich überhaupt belangen!“ Sie hatte Tränen in den Augen; Diederich stammelte Entschuldigungen. „Lassen Sie nur“ – und Guste benutzte ihr Taschentuch. „Wolfgang weiß genau, woran er bei mir ist. Aber Sie selbst, Sie haben den Schwindel geglaubt. Darum waren Sie auch so frech!“ rief sie. Ihre rosigen Fettpolster zitterten vor Zorn, und die kleine eingedrückte Nase war ganz weiß geworden. Er sammelte sich. „Daran sehen Sie doch, daß Sie mir auch ohne Geld gefallen“, gab er zu bedenken. Sie biß sich auf die Lippen. „Wer weiß“, sagte sie mit einem Blick von unten, schmollend und unsicher. „Für Leute, wie Sie, sind fünfzigtausend auch schon Geld.“
Er hielt es für angezeigt, eine Pause zu machen. Sie zog aus ihrem goldenen Beutel den Puderquast, und sie setzte sich. „Ich bin wirklich ganz echauffiert von Ihrem [pg 269]Betragen!“ Aber sie lachte wieder. „Haben Sie mir vielleicht sonst noch etwas zu zeigen in Ihrer sogenannten Fabrik?“ Er nickte bedeutsam. „Wissen Sie wohl, wo Sie jetzt sitzen?“ – „Na, auf einem Lumpensack.“ – „Aber auf was für einem! In dieser Ecke, hinter den Säcken hier hab’ ich mal einen Arbeiter und ein Mädchen ertappt, wie sie gerade: Sie verstehen. Natürlich sind beide geflogen; und am Abend, jawohl, am selben Abend –“ er hob den Zeigefinger, in seinen Augen entstand ein Schauder höherer Dinge – „haben sie den Kerl totgeschossen, und das Mädchen ist verrückt geworden.“ Guste sprang auf. „War das –? Ach Gott, das war der Arbeiter, der den Wachtposten gereizt hat ...? Also hinter den Säcken haben sie –?“ Ihre Augen gingen über die Säcke, als suchte sie Blut darauf. Sie hatte sich nahe zu Diederich geflüchtet. Plötzlich sahen sie einander in die Augen: darin bewegten sich die gleichen abgründigen Schauder, des Lasters oder des Übersinnlichen. Sie atmeten hörbar einander an. Guste schloß, eine Sekunde lang, die Lider: da plumpsten sie auch schon beide auf die Säcke, rollten, ineinander verwickelt, hinab und durch den dunkeln Raum dahinter, schlugen um sich, keuchten und prusteten, als seien sie dort unten am Ertrinken.
Guste zuerst erreichte wieder das Licht. Den Fuß, an dem er sie festhalten wollte, stieß sie ihm ins Gesicht und sprang heraus, daß es krachte. Als Diederich sich glücklich ihr nachgearbeitet hatte, standen sie da und schnauften. Gustes Busen, Diederichs Bauch gingen beide im Sturm. Sie erlangte vor ihm die Sprache zurück. „Das müssen Sie mit ’ner andern versuchen! Wie komm’ ich überhaupt dazu!“ Immer erbitterter: „Ich hab’ Ihnen doch gesagt, daß es dreihundertfünfzigtausend sind!“ Diederich be[pg 270]wegte die Hand, um auszudrücken, daß er seinen Mißgriff zugebe. Aber Guste schrie auf: „Und wie ich aussehe! Soll ich so vielleicht durch die Stadt gehen?“ Er erschrak aufs neue und lachte ratlos. Sie stampfte auf. „Haben Sie denn keine Bürste?“ Gehorsam machte er sich auf den Weg; Guste rief ihm nach: „Daß gefälligst Ihre Schwestern nichts merken! Sonst reden morgen die Leute von mir!“ Er ging nur bis an das Kontor. Wie er zurückkehrte, saß Guste wieder auf dem Sack, das Gesicht in den Händen, und durch ihre lieben, dicken Finger rannen Tränen. Diederich blieb stehen, hörte ihrem Wimmern zu, und auf einmal begann er auch zu weinen. Mit tröstender Hand bürstete er sie ab. „Es ist doch nichts geschehen“, wiederholte er. Guste stand auf. „Das wäre auch noch schöner“, – und sie musterte ihn mit Ironie. Da faßte auch Diederich Mut. „Ihr Herr Bräutigam braucht es ja nicht zu wissen“, bemerkte er. Und Guste: „Wenn schon!“ – wobei sie sich auf die Lippen biß.
Betroffen durch dies Wort bürstete er schweigend weiter, zuerst sie, dann sich, indes Guste ihre Kleider glättete. „Nun los!“ sagte sie. „Eine Papierfabrik sehe ich mir so bald nicht wieder an.“ Er spähte ihr unter den Hut. „Wer weiß“, sagte er. „Denn daß Sie Ihren Buck lieben, das glaub’ ich Ihnen seit fünf Minuten nicht mehr.“ Schnell rief Guste: „O doch!“ Und ohne Pause fragte sie: „Was bedeutet denn das Zeug hier?“
Er erklärte: „Das ist der Sandfang, durch die Rinne schwemmen wir die Lumpen; Knöpfe und so weiter bleiben zurück, wie Sie sehen. Die Leute haben natürlich wieder nicht aufgeräumt.“ Mit der Schirmspitze stocherte sie in dem Haufen; er setzte hinzu: „Im Jahr behalten wir mehrere Säcke Überbleibsel!“ – „Und was ist das da?“ [pg 271]fragte Guste und griff rasch hin, nach etwas, das glänzte. Diederich riß die Augen auf. „Ein Brillantknopf!“ Sie ließ ihn funkeln. „Echt sogar! Wenn Sie öfter so was finden, ist Ihr Geschäft nicht so übel.“ Diederich sagte zweifelnd: „Den muß ich natürlich abliefern.“ Sie lachte. „An wen denn? Die Abfälle gehören doch Ihnen!“ Er lachte auch. „Na, nicht gerade die Brillanten. Wir werden schon noch ausfindig machen, wer uns das geliefert hat.“ Guste sah ihn von unten an. „Sie sind schön dumm“, sagte sie. Er erwiderte mit Überzeugung: „Nein! Sondern ich bin ein Ehrenmann!“ Darauf hob sie nur die Schultern. Langsam zog sie den linken Handschuh aus und legte sich den Brillanten auf den kleinen Finger. „Er muß als Ring gefaßt werden!“ rief sie aus, wie erleuchtet, betrachtete versunken ihre Hand und seufzte. „Na, sollen ihn andere Leute finden!“ – und unvermutet warf sie den Knopf zurück in die Lumpen. „Sind Sie verrückt?“ Diederich bückte sich, sah ihn nicht gleich und ließ sich schnaufend auf die Knie. In der Hast warf er alles durcheinander. „Gott sei Dank!“ Er hielt ihr den Brillanten hin; aber Guste nahm ihn nicht. „Ich gönne ihn dem Arbeiter, der ihn morgen zuerst sieht. Der steckt ihn ein, darauf können Sie sich verlassen, der ist nicht so dumm.“ – „Ich auch nicht“, erklärte Diederich. „Denn wahrscheinlich wäre der Stein doch weggeworfen worden. Unter solchen Umständen brauche ich es nicht für inkorrekt zu halten –.“ Er legte den Brillanten wieder auf ihren Finger. „Und wenn es auch inkorrekt wäre, er steht Ihnen so gut.“ Guste sagte überrascht: „Wieso? Wollen Sie ihn mir denn schenken?“ Er stammelte: „Sie haben ihn ja gefunden, da muß ich wohl.“ Da jubelte Guste. „Das wird mein schönster Ring!“ – „Warum?“ fragte Diederich, [pg 272]voll banger Hoffnung. Guste sagte ausweichend: „Überhaupt ...“ Und mit einem plötzlichen Blick: „Weil er nichts kostet, wissen Sie.“ Hierüber errötete Diederich, und sie sahen einander blinzelnd in die Augen.
„Ach Herr Gott!“ rief Guste plötzlich. „Es muß schrecklich spät sein. Schon sieben? Was sag’ ich nur meiner Mutter?... Ich weiß, ich sag’ ihr, ich hab’ bei einem Trödler den Brillanten entdeckt, und er hat gedacht, er ist unecht, und hat bloß fünfzig Pfennig verlangt!“ Sie öffnete ihren goldenen Sack und ließ den Knopf hineinfallen. „Also adieu ... Aber Sie sehen aus! Wenigstens müssen Sie sich die Krawatte binden.“ Im Sprechen tat sie es schon selbst. Er fühlte ihre warmen Hände unter seinem Kinn; ihre feuchten, dicken Lippen bewegten sich ganz nahe. Ihm ward heiß, er hielt den Atem zurück. „So“, machte Guste und brach ernstlich auf. „Ich drehe nur das Gas ab“, rief er ihr nach. „Warten Sie doch!“ – „Ich warte schon“, antwortete sie von draußen; – aber als er auf den Hof trat, war sie fort. Verdutzt sperrte er die Fabrik zu und redete laut dabei vor sich hin. „Nun sag’ mir einer, ist das Instinkt oder Berechnung?“ Er schüttelte sorgenvoll den