Heinrich Mann

Gesammelte Werke


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anhatte. „Vorsicht,“ sagte Diederich auf der Treppe, „sonst brechen wir ein.“ Denn die beiden dünnen Bogen der Treppe griffen durch die Luft wie zwei vom Alter abgemagerte Arme. Das braune Rosa ihres Holzes war blaß geworden. Droben aber, wo sie sich vereinigten, lächelte auf dem Geländer aus seinem blanken Marmorgesicht noch immer der bezopfte Bürgermeister, der dies alles der Stadt hinterlassen hatte und der ein Buck gewesen war. Diederich sah ungnädig an ihm vorbei.

      In der tiefen Spiegelgalerie war es ganz still; eine einzelne Dame nur hielt sich dahinten auf, sie schien durch einen Türspalt in den Festsaal zu spähen – und plötzlich wurden die Mädchen von Entsetzen ergriffen: die Vorstellung hatte begonnen! Magda stürzte durch die Galerie und brach in Weinen aus. Da drehte die Dame sich um, mit dem Finger auf den Lippen. Es war Frau von Wulckow, die Dichterin. Sie lächelte erregt und flüsterte: „Es geht gut, mein Stück gefällt. Sie kommen gerade rechtzeitig, Fräulein Heßling, gehen Sie nur und kleiden sich um.“ Ach ja! Emmi und Magda hatten erst im zweiten Akt zu tun. Auch Diederich hatte den Kopf verloren. Indes die Schwestern mit Inge Tietz, die ihnen helfen sollte, durch die Nebenräume nach der Garderobe eilten, stellte er sich der Präsidentin vor und blieb ratlos stehen. „Jetzt dürfen Sie nicht hinein, es würde stören“, sagte sie. Diederich stammelte Entschuldigungen, und dann rollte er die Augen, wobei er zwischen den gemalten Ranken der halb erblindeten Wandspiegel seinem geheimnisvoll blassen Abbild begegnete. Der zartgelbe Lack der Wände zeigte launische Sprünge, und auf den Panneaus starben die Farben der Blumen und Gesichter ... Frau von Wulckow schloß eine kleine Tür, durch die jemand einzutreten schien, eine Schäferin mit ihrem bebänderten Stab. Sie schloß die Tür ganz vorsichtig, damit nur die Vorstellung nicht gestört werde, aber es flog doch ein wenig Staub auf, als sei es Puder aus dem Haar der gemalten Schäferin.

      „Dies Haus ist so romantisch“, flüsterte Frau von Wulckow. „Finden Sie nicht auch, Herr Doktor? Wenn man sich hier im Spiegel sieht, glaubt man einen Reifrock anzuhaben“ – worauf Diederich, immer ratloser, ihr Hängekleid ansah. Die entblößten Schultern waren hohl [pg 290]und nach vorn gebogen, die Haare von slawischem Weißblond, und Frau von Wulckow trug einen Zwicker.

      „Sie passen hier glänzend herein, Frau Präsidentin ... Frau Gräfin“, verbesserte er und sah sich mit einem Lächeln belohnt für seine kühne Schmeichelei. Nicht jeder würde Frau von Wulckow so treffsicher daran erinnert haben, daß sie eine geborene Gräfin Züsewitz war!

      „Tatsächlich“, bemerkte sie, „sollte man kaum glauben, daß dies Haus seinerzeit nicht für eine wirklich vornehme Gesellschaft gebaut worden ist, sondern nur für die guten Netziger Bürger.“ Sie lächelte nachsichtig.

      „Ja, das ist komisch“, bestätigte Diederich mit einem Kratzfuß. „Aber heute können sich zweifellos nur Frau Gräfin hier ganz zu Hause fühlen.“

      „Sie haben gewiß Sinn für das Schöne“, vermutete Frau von Wulckow; und da Diederich es bestätigte, erklärte sie, dann dürfe er den ersten Akt doch nicht ganz versäumen, sondern müsse durch den Türspalt sehen. Sie selbst trat schon längst von einem Fuß auf den anderen. Sie wies mit dem Fächer nach der Bühne. „Herr Major Kunze wird gleich abgehen. Er ist ja nicht besonders gut, aber was wollen Sie, er sitzt im Vorstand der Harmonie und hat den Leuten die künstlerische Bedeutung meines Werkes erst zum Verständnis gebracht.“ Indes Diederich den Major unschwer wiedererkannte, denn er hatte sich gar nicht verändert, erläuterte die Dichterin ihm mit fliegender Geläufigkeit die Vorgänge. Das junge Bauernmädchen, mit dem Kunze sich unterhielt, war seine natürliche Tochter, also eine Grafentochter, weshalb das Stück denn auch „Die heimliche Gräfin“ hieß. Gerade klärte Kunze sie, bärbeißig wie immer, über diesen Umstand auf. Auch eröffnete er ihr, er werde sie mit einem armen Vetter verhei[pg 291]raten und ihr die Hälfte seiner Besitztümer vererben. Hierüber herrschte, als er abgegangen war, laute Freude bei dem Mädchen und ihrer Pflegemutter, der braven Pächtersfrau.

      „Wer ist denn die schreckliche Person?“ fragte Diederich, bevor er es bedacht hatte. Frau von Wulckow war erstaunt.

      „Es ist doch die komische Alte vom Stadttheater. Wir hatten sonst niemand für die Rolle; aber meine Nichte spielt ganz gern mit ihr.“

      Und Diederich erschrak; mit der schrecklichen Person hatte er die Nichte gemeint. „Das Fräulein Nichte ist ganz reizend“, beteuerte er schnell und blinzelte entzückt nach dem dicken roten Gesicht, das gleich auf den Schultern saß – und es waren Wulckows Schultern! „Talent hat sie aber auch“, setzte er der Sicherheit wegen hinzu. Frau von Wulckow wisperte: „Passen Sie nur auf“ – und da kam aus der Kulisse Assessor Jadassohn. Welch eine Überraschung! Er hatte ganz neue Bügelfalten und trug in seinem imposant geschweiften Cutaway eine riesenhafte Plastronkrawatte mit einem roten Funkelstein von entsprechendem Umfang. Aber so sehr der Stein auch funkelte, Jadassohns Ohren überstrahlten ihn. Da sein Kopf frisch geschoren und sehr platt war, standen die Ohren frei heraus und beleuchteten wie zwei Lampen seine festliche Pracht. Er spreizte die gelb behandschuhten Hände, als plädierte er für viele Jahre Zuchthaus; und tatsächlich sagte er der Nichte, die geradezu konsterniert schien, und der heulenden komischen Alten die peinlichsten Dinge ... Frau von Wulckow wisperte: „Er ist ein schlechter Charakter.“

      „Und ob“, sagte Diederich mit Überzeugung.

      „Kennen Sie denn mein Stück?“

      „Ach so. Nein. Aber ich sehe schon, was er will.“

      Nämlich Jadassohn der der Sohn und Erbe des alten Grafen Kunze war, hatte gelauscht und war durchaus nicht gesonnen, die Hälfte seiner ihm von Gott verliehenen Besitztümer an die Nichte abzutreten. Er verlangte gebieterisch, daß sie augenblicklich das Feld räume; widrigenfalls er sie als Erbschleicherin verhaften und Kunze entmündigen lassen werde.

      „Das ist eine Gemeinheit“, bemerkte Diederich. „Sie ist doch seine Schwester.“ Die Dichterin erklärte ihm:

      „Nun ja. Aber andererseits hat er recht, wenn er ein Fideikommiß aus den Gütern machen will. Er arbeitet eben für das ganze Geschlecht, mag auch der einzelne zu kurz kommen. Für die heimliche Gräfin ist das natürlich tragisch.“

      „Wenn man es recht bedenkt –“, Diederich war hocherfreut. Dieser aristokratische Gesichtspunkt kam auch ihm selbst zustatten, wenn er keine Neigung fühlte, Magda bei ihrer Verheiratung am Geschäft zu beteiligen.

      „Frau Gräfin, Ihr Stück ist erstklassig“, sagte er, durchdrungen. Aber da zog Frau von Wulckow ihn angstvoll am Arm: im Publikum entstanden Geräusche, es scharrte, schnupfte sich aus und kicherte. „Er übertreibt“, stöhnte die Dichterin. „Ich habe es ihm immer gesagt.“

      Denn Jadassohn führte sich wirklich unerhört auf. Die Nichte samt der komischen Alten klemmte er hinter den Tisch ein und füllte mit den tobenden Bekundungen seiner gräflichen Persönlichkeit die ganze Bühne. Je mehr das Haus ihn mißbilligte, desto herausfordernder lebte er dort oben sich aus. Jetzt zischte man sogar; ja, mehrere wandten sich nach der Tür um, hinter der Frau von Wulckow bebte, und zischten. Vielleicht geschah es nur, weil die Tür kreischte – aber die Dichterin fuhr zurück, sie verlor den Zwicker und tastete in hilflosem Entsetzen durch die Luft, [pg 293]bis Diederich ihn ihr zurückbrachte. Er versuchte, sie zu trösten. „Es hat nichts zu sagen, Jadassohn geht doch hoffentlich bald ab?“ Sie horchte durch die geschlossene Tür. „Ja, Gott sei Dank“, plapperte sie, und die Zähne schlugen ihr aufeinander. „Jetzt ist er fertig, jetzt flieht meine Nichte mit der komischen Alten, und dann kommt Kunze wieder mit dem Leutnant, wissen Sie.“

      „Ein Leutnant spielt auch mit?“ fragte Diederich achtungsvoll.

      „Ja, das heißt, er ist noch auf dem Gymnasium, er ist ein Sohn des Herrn Landgerichtsdirektors Sprezius: der arme Verwandte, wissen Sie, den der alte Graf seiner Tochter zum Mann geben will. Er verspricht dem Alten, daß er die heimliche Gräfin in der ganzen Welt suchen wird.“

      „Sehr begreiflich“, sagte Diederich. „Es liegt in seinem eigenen Interesse.“

      „Sie werden sehen, er ist ein edler Mensch.“

      „Aber Jadassohn, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Frau Gräfin, den hätten