„die Stelle ist mir gelungen.“
„Das ist Kunst, die zum Herzen spricht“, stellte Diederich fest. Da Magda und Emmi das Klavier und die Türen zuschlugen, ergänzte er: „Und hochdramatisch.“ Hierauf nach der anderen Seite:
„Nächste Woche werden zwei Stadtverordnete gewählt für Lauer und Buck junior. Gut, daß der von selbst geht.“ Wulckow sagte: „Dann sorgen Sie nur dafür, daß an[pg 309]ständige Leute ’reinkommen. Sie sollen ja mit der ‚Netziger Zeitung‘ gut stehen.“
Diederich dämpfte vertraulich die Stimme. „Ich halte mich vorläufig noch zurück, Herr Präsident. Für die nationale Sache ist es besser.“
„Sieh mal an“, sagte Wulckow; und wirklich sah er Diederich durchdringend an. „Sie möchten sich wohl selbst wählen lassen?“ fragte er.
„Ich würde das Opfer bringen. Unsere städtischen Körperschaften haben zu wenig Mitglieder, die in nationaler Beziehung zuverlässig sind.“
„Und was wollen Sie machen, wenn Sie drin sind?“
„Dafür sorgen, daß der Arbeitsnachweis aufhört.“
„Na ja,“ sagte Wulckow, „als nationaler Mann.“
„Ich als Offizier,“ sagte auf der Bühne der Leutnant, „kann nicht dulden, liebe Magda, daß dieses Mädchen, wenn es auch nur eine arme Dienstmagd ist, irgendwie mißhandelt wird.“
Der Leutnant aus dem ersten Akt, der arme Vetter, der die heimliche Gräfin hätte heiraten sollen, er war Magdas Verlobter! Man fühlte die Zuschauer vor Spannung beben. Die Dichterin bemerkte es selbst. „Die Erfindung ist aber auch meine starke Seite“, sagte sie zu Diederich, der tatsächlich verblüfft war. Doktor Scheffelweis hatte keine Zeit, sich den Emotionen der dramatischen Dichtung zu überlassen; er sah sich gefährdet.
„Niemand“, beteuerte er, „würde freudiger einen Geist –“ Wulckow unterbrach ihn.
„Kennen wir, Bürgermeisterchen. Freudig begrüßen können Sie, wenn’s nichts kostet.“
Diederich setzte hinzu: „Aber einen glatten Strich ziehen zwischen Kaisertreuen und Umsturz!“
Der Bürgermeister hob flehend die Arme. „Meine Herren! Verkennen Sie mich nicht, ich bin zu allem bereit. Aber mit dem Strich ist nicht geholfen, denn bei uns hier bedeutet er bloß, daß fast alle, die nicht freisinnig wählen, sozialdemokratisch wählen.“
Wulckow stieß ein wütendes Grunzen aus, worauf er sich eine Wurst vom Büfett langte. Diederich war es, der eiserne Zuversicht bekundete.
„Wenn die guten Wahlen nicht von selbst kommen, müssen sie eben gemacht werden!“
„Aber womit?“ sagte Wulckow.
Die Wulckowsche Nichte ihrerseits rief ins Publikum:
„Er muß doch sehen, daß ich eine Gräfin bin, er, der demselben edlen Stamme entsprossen ist!“
„Oh! Frau Gräfin!“ sagte Diederich. „Jetzt bin ich wirklich neugierig, ob er es sieht.“
„Selbstverständlich“, erwiderte die Dichterin. „Sie erkennen einander doch schon an den besseren Manieren.“
In der Tat warfen der Leutnant und die Nichte sich Blicke zu, weil Emmi und Magda samt Frau Heßling einen Käse mit dem Messer aßen. Diederich behielt den Mund offen. Im Publikum bewirkte das ungebildete Betragen der Fabrikantenfamilie die freudigste Stimmung. Die Töchter Buck, Frau Cohn und Guste Daimchen, alle jubelten. Auch Wulckow ward aufmerksam; er sog sich das Fett von den Fingern und sagte:
„Frieda, du bist fein ’raus, sie lachen.“
Wirklich blühte die Dichterin erstaunlich auf. Ihre Augen hinter dem Zwicker glänzten wirr, sie seufzte, ihr Busen wallte, es hielt sie nicht länger auf ihrem Stuhl. Sie wagte sich halb heraus aus dem Büfettzimmer; sofort wandten viele sich nach ihr um, mit neugierigen Gesichtern, [pg 311]und die Schwiegermutter des Bürgermeisters gab ihr Zeichen. Frau von Wulckow rief fieberhaft über die Schulter:
„Meine Herren, die Schlacht ist gewonnen!“
„Wenn es bei uns auch so schnell ginge“, sagte ihr Gatte. „Na, also, Doktor, wie wollen Sie den Netzigern die Kandare anlegen?“
„Herr Präsident!“ Diederich drückte die Hand aufs Herz. „Netzig wird kaisertreu, dafür bürge ich Ihnen mit allem, was ich bin und habe!“
„Schön“, sagte Wulckow.
„Denn“, fuhr Diederich fort, „wir haben einen Agitator, den ich als erstklassig bezeichnen möchte: jawohl, erstklassig“, wiederholte er und umfaßte mit dem Wort alles Große; „und das ist Seine Majestät selbst!“
Doktor Scheffelweis sammelte sich eilig. „Die persönlichste Persönlichkeit“, brachte er hervor. „Originell. Impulsiv.“
„Na ja“, sagte Wulckow. Er stemmte die Fäuste auf die Knie und glotzte dazwischen auf den Boden, in der Haltung eines sorgenvollen Menschenfressers. Auf einmal merkten die beiden anderen, daß er sie von unten schief ansah.
„Meine Herren“ – er stockte wieder – „na, ich will Ihnen mal was sagen. Ich glaube, der Reichstag wird aufgelöst.“
Diederich und Doktor Scheffelweis streckten die Köpfe vor, sie wisperten. „Herr Präsident wissen –?“
„Der Kriegsminister war neulich mit mir auf der Jagd, bei meinem Vetter Herrn von Quitzin.“
Diederich machte einen Kratzfuß. Er stammelte, er wußte selbst nicht was. Er hatte es vorausgesagt! Schon bei seiner Aufnahme in den Kriegerverein hatte er eine Rede Seiner Majestät wiedergegeben, – und hatte er [pg 312]sie nur wiedergegeben? Darin kam ausdrücklich vor: „Ich räume die ganze Bude aus!“ Und nun sollte es geschehen, ganz so, als handelte er selbst. Es überlief ihn mystisch ... Wulckow sagte inzwischen:
„Die Herren Eugen Richter und Konsorten passen uns nicht mehr. Wenn sie die Militärvorlage nicht schlucken, ist Schluß“; – und Wulckow strich sich mit der Faust über den Mund, als beginne das Fressen.
Diederich faßte sich. „Das ist – das ist großzügig! Das ist ganz sicher die persönliche Initiative Seiner Majestät!“ Doktor Scheffelweis war erbleicht. „Dann sind schon wieder Reichstagswahlen? Und ich war so froh, daß wir unseren bewährten Abgeordneten hatten ...“ Er erschrak noch mehr. „Das heißt, natürlich, Kühlemann ist auch ein Freund des Herrn Richter ...“
„Ein Nörgler!“ schnaubte Diederich. „Ein vaterlandsloser Geselle!“ Er rollte die Augen. „Herr Präsident! Diesmal ist es aus in Netzig mit den Leuten. Lassen Sie mich nur erst Stadtverordneter sein, Herr Bürgermeister!“ „Was dann?“ fragte Wulckow. Diederich wußte es nicht. Glücklicherweise entstand im Saal ein Zwischenfall; Stühle wurden gerückt, und jemand ließ sich die große Tür öffnen: Kühlemann selbst war es. Der Greis schleppte seine schwere kranke Masse eilig durch die Spiegelgalerie. Am Büfett fand man, seit dem Prozeß sei er noch mehr verfallen.
„Er hätte Lauer lieber freigesprochen, die anderen Richter haben ihn überstimmt“, sagte Diederich. Doktor Scheffelweis meinte: „Nierensteine führen wohl schließlich zur Auflösung.“ Worauf Wulckow humoristisch: „Na, und im Reichstag sind wir seine Nierensteine.“
Der Bürgermeister lachte gefällig. Aber Diederich riß [pg 313]die Augen auf. Er näherte sich dem Ohr des Präsidenten und raunte:
„Sein Testament!“
„Was ist damit?“
„Er hat die Stadt zum Erben eingesetzt“, erklärte Doktor Scheffelweis wichtig. „Wahrscheinlich bauen wir von dem Geld ein Säuglingsheim.“
„Bauen Sie?“ Diederich feixte verachtungsvoll. „Einen nationaleren Zweck können Sie sich wohl nicht denken?“
„Ach so.“ Wulckow nickte Diederich anerkennend zu. „Wieviel Pinke