sind sämtlich Originalarbeiten. Die Herren –“ sie musterte den Kreis – „wollen böswilligen Gerüchten entgegentreten.“
Damit war Kühnchen entlassen, trat ab und schnappte nach Luft. Diederich erinnerte ihn, im Ton eines geringschätzigen Erbarmens, an Nothgroschen, der mit seiner gefährlichen Information schon von dannen war; und Kühnchen stürzte hinterdrein, um das Schlimmste zu verhüten.
Wie Diederich den Kopf wandte, hatte im Saal das Bild sich verändert: nicht nur die Präsidentin, auch der alte Buck hielt Cercle. Es war erstaunlich, aber man lernte die Menschen kennen. Sie ertrugen es nicht, daß sie vorhin ihren Instinkten freien Lauf gelassen hatten; mit beteuerndem Gesicht machte einer nach dem anderen sich an den Alten heran und wollte es nicht gewesen sein. So groß war, noch nach schweren Erschütterungen, die [pg 319]Macht des Bestehenden, von alters her Anerkannten! Diederich selbst fand es angezeigt, nicht in auffälliger Weise hinter der Mehrheit zurückzubleiben. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß Wulckow schon fort war, machte er seine Aufwartung. Der Alte saß eben allein in dem Polstersessel, der für ihn ganz vorn bei der Bühne stand; er ließ seine weiße Hand merkwürdig zart über die Lehne hängen und blickte zu Diederich hinauf.
„Da sind Sie, mein lieber Heßling. Ich habe es oft bedauert, daß Sie nicht kamen“ – ganz schlicht und nachsichtig. Diederich fühlte sofort wieder Tränen heraufsteigen. Er gab ihm die Hand hin, freute sich, daß der Herr Buck sie ein wenig länger in der seinen behielt, und stammelte etwas von Geschäften, Sorgen und „um ehrlich zu sein“ – denn ein jähes Bedürfnis nach Ehrlichkeit erfaßte ihn – von Bedenken und Hemmungen.
„Es ist schön von Ihnen,“ sagte darauf der Alte, „daß Sie mich das nicht nur erraten lassen, sondern es mir eingestehen. Sie sind jung und handeln wohl unter den Antrieben, denen die Geister heute gehorchen. In die Unduldsamkeit des Alters will ich nicht verfallen.“
Da schlug Diederich die Augen nieder. Er hatte verstanden: dies war die Verzeihung für den Prozeß, der dem Schwiegersohn des Alten die bürgerliche Ehre gekostet hatte; und ihm ward schwül unter so viel Milde – und so viel Nichtachtung. Der Alte freilich sagte:
„Ich achte den Kampf und kenne ihn zu gut, um jemand zu hassen, der gegen die Meinen kämpft.“ Worauf Diederich, von Furcht ergriffen, dies möchte zu weit führen, sich aufs Leugnen verlegte. Er wisse selbst nicht –. Man komme in Sachen hinein –. Der Alte erleichterte es ihm. „Ich weiß: Sie suchen und haben sich selbst noch nicht gefunden.“
Er tauchte seinen weißen Knebelbart in die seidene Halsbinde. Als er ihn wieder hervorholte, begriff Diederich, daß etwas Neues kam.
„Sie haben das Haus hinter dem Ihren nun doch nicht gekauft“, sagte der Herr Buck. „Ihre Pläne haben sich wohl geändert?“
Diederich dachte: „Er weiß alles“, und sah schon seine heimlichsten Berechnungen enthüllt.
Der Alte lächelte schlau und gütig. „Sollten Sie etwa Ihre Fabrik zunächst verlegen und erst dann erweitern wollen? Ich könnte mir denken, daß Sie Ihr Grundstück zu verkaufen wünschen und nur auf eine gewisse Gelegenheit warten – die auch ich in Betracht ziehe“, setzte er hinzu, und mit einem Blick: „Die Stadt hat vor, ein Säuglingsheim zu errichten.“
„Alter Hund!“ dachte Diederich. „Er spekuliert auf den Tod seines besten Freundes!“ Gleichzeitig aber kam ihm die Erleuchtung, was er Wulckow vorzuschlagen habe, um Netzig zu erobern!... Er schnaufte.
„Durchaus nicht, Herr Buck. Mein väterliches Erbstück geb’ ich nicht her!“
Da nahm der Alte nochmals seine Hand. „Ich bin kein Versucher“, sagte er. „Ihre Pietät ehrt Sie.“
„Esel“, dachte Diederich.
„So werden wir uns eben ein anderes Terrain suchen. Ja, vielleicht werden Sie dabei mitwirken. Uneigennützigen Gemeinsinn, lieber Heßling, lassen wir uns nicht entgehen – auch nicht, wenn er einen Augenblick in falscher Richtung zu wirken scheint.“
Er stand auf.
„Wollen Sie Stadtverordneter werden, so haben Sie meine Unterstützung.“
Diederich starrte, ohne zu begreifen. Die Augen des Alten waren blau und tief, und er bot Diederich eben das Ehrenamt an, um das Diederich seinen Schwiegersohn gebracht hatte. Sollte man nun ausspucken oder sich verkriechen? Diederich zog es vor, die Absätze zusammenzuschlagen und korrekt seinen Dank abzustatten.
„Sie sehen,“ erwiderte der Alte, „der Gemeinsinn schlägt Brücken von jung und alt und sogar bis zu denen, die nicht mehr da sind.“
Er führte die Hand im Halbkreis über die Wände und über das Geschlecht von einst, das verblichen und heiter aus ihrer gemalten Tiefe trat. Er lächelte den jungen Mädchen in Reifröcken zu und zugleich auch einer seiner Nichten und Meta Harnisch, die vorübergingen. Als er das Gesicht dem alten Bürgermeister zuwendete, der zwischen Blumen und Kindern aus dem Stadttor schritt, bemerkte Diederich die große Ähnlichkeit der beiden. Der alte Buck wies auf den und jenen aus der gemalten Versammlung.
„Von dem da hab’ ich viel gehört. Diese Dame kannte ich noch. Sieht der Geistliche nicht aus wie Pastor Zillich? Nein, unter uns kann es keine ernstliche Entfremdung geben, wir sind einander seit langem verpflichtet zum guten Willen und gemeinsamen Fortschritt, schon durch jene da, die uns die ‚Harmonie‘ hinterließen.“
„Nette Harmonie“, dachte Diederich und sah umher, wie er fortgelange. Der Alte hatte sich, nach seiner Gewohnheit, einen Übergang gemacht von den Geschäften zum sentimentalen Schwatz. „Immer kommt der Literat heraus“, dachte Diederich.
Gerade gingen Guste Daimchen und Inge Tietz vorbei. Guste hatte sich eingehängt, und Inge prahlte mit dem, was sie hinter den Kulissen erlebt hatte. „Unsere Angst, [pg 322]als sie immer sagten: Tee, Kaffee, Kaffee, Tee.“ Guste behauptete: „Das nächste Mal schreibt Wolfgang ein viel schöneres Stück, und ich spiele mit.“ Da machte Inge sich los, sie bekam eine scheu ablehnende Miene. „So?“ sagte sie; und Gustes dickes Gesicht verlor plötzlich seinen harmlosen Eifer. „Warum etwa nicht?“ fragte sie, weinerlich empört. „Was hast du nun wieder?“
Diederich, der es ihr hätte sagen können, wandte sich schleunig zum alten Buck zurück. Der schwatzte weiter.
„Dieselben Freunde, damals wie jetzt; und auch die Feinde sind da. Schon recht verwischt, der eiserne Ritter, der Kinderschreck dort in seiner Nische am Tor. Don Antonio Manrique, grausamer Reitergeneral, der du im Dreißigjährigen Krieg unser armes Netzig gebrandschatzt hast: wenn nun nicht die Riekestraße nach dir hieße, wohin wäre dann selbst der letzte Klang von dir verweht?... Auch einer, dem unser Freisinn nicht gefiel und der uns zu vertilgen dachte.“
Plötzlich schüttelte den Alten ein stilles Kichern. Er nahm Diederich bei der Hand.
„Hat er nicht Ähnlichkeit mit unserem Herrn von Wulckow?“
Diederichs Miene ward hierauf noch korrekter, aber der Alte bemerkte es nicht, er war nun einmal aufgeräumt, ihm fiel noch etwas ein. Er winkte Diederich hinter eine Pflanzengruppe und zeigte ihm an der Wand zwei Figuren, einen jungen Schäfer, der sehnsüchtig die Arme öffnete, und jenseits eines Baches eine Schäferin, die sich anschickte, hinüberzuspringen. Der Alte wisperte: „Was meinen Sie, werden die beiden zueinander kommen? Das wissen nicht viele mehr. Ich weiß es noch.“ Er sah sich um, ob niemand ihn beachte, und plötzlich öff[pg 323]nete er eine kleine Tür, die man nie gefunden haben würde. Die Schäferin auf der Tür bewegte sich dem Liebenden entgegen. Noch ein wenig, und hinter der Tür im Dunkeln mußte sie ihm wohl in den Armen liegen ... Der Alte wies in das Zimmer, das er aufgedeckt hatte. „Es heißt das Liebeskabinett.“ Laternenschein von irgendeinem Hof fiel durch das Fenster ohne Vorhang; er beglänzte den Spiegel und das dünnbeinige Kanapee. Der Alte zog die dumpfe Luft ein, die nach wer weiß wie langer Zeit herausströmte, er lächelte verloren. Und dann schloß er die kleine Tür.
Aber Diederich, den dies nur mäßig interessierte, sah etwas kommen, das weit mehr Anregung versprach. Es war der Landgerichtsrat Fritzsche: denn er war da. Sein Urlaub war wohl zu