Diederich machte seine korrekteste Verbeugung vor Magda und schritt mit ihr zum Tanz, triumphierend, gleich nach dem Major Kunze, der führte. So zogen sie an Guste Daimchen vorüber, die saß. Sie saß neben dem verwachsenen Fräulein Kühnchen und sah ihnen nach, als habe sie Prügel bekommen. Ihr Anblick berührte Diederich fast so unheimlich, wie der des Herrn Lauer in der Vogtei.
„Die arme Guste!“ sagte Magda. Diederich runzelte die Brauen. „Ja ja, das kommt davon.“
„Aber eigentlich“ – und Magda blinzelte von unten, „woher kommt es denn?“
„Das ist gleich, mein Kind, jetzt ist es mal so.“
„Diedel, du solltest sie nachher doch zum Walzer bitten.“
„Das darf ich nicht. Man muß wissen, was man sich selbst schuldet.“
Dann verließ er sogleich den Saal. Soeben holte der [pg 334]junge Sprezius, der jetzt nicht mehr Leutnant, sondern wieder Primaner war, das verwachsene Fräulein Kühnchen von der Wand weg. Er nahm wohl Rücksicht auf ihren Vater. Guste Daimchen blieb sitzen ... Diederich machte einen Gang durch die Seitenzimmer, wo ältere Herren Karten spielten, bekam eine lange Nase von Käthchen Zillich, die er hinter einer Tür mit einem Schauspieler überraschte, und gelangte zum Büfett. Dort saß an einem Tischchen Wolfgang Buck und zeichnete in sein Notizbuch die Mütter, die um den Saal herum warteten.
„Sehr talentvoll“, sagte Diederich. „Haben Sie auch schon Ihr Fräulein Braut porträtiert?“
„In der Beziehung interessiert sie mich nicht,“ erwiderte Buck, so phlegmatisch, daß Diederich Zweifel kamen, ob seine Erlebnisse mit Guste im Liebeskabinett ihren Verlobten interessiert haben würden.
„Mit Ihnen weiß man überhaupt nicht“, sagte er enttäuscht.
„Mit Ihnen weiß man immer“, sagte Buck. „Damals vor Gericht, während Ihres großen Monologes, hätte ich Sie zeichnen mögen.“
„Ihr Plädoyer hat mir genügt; es war ein Versuch, wenn auch glücklicherweise ein mißlungener, meine Person und mein Wirken vor der breitesten Öffentlichkeit in Mißkredit zu bringen und verächtlich zu machen!“
Diederich blitzte, Buck bemerkte es erstaunt. „Mir scheint, Sie sind beleidigt. Und ich habe es doch so gut gesagt.“ Er bewegte den Kopf und lächelte, grüblerisch und entzückt. „Wollen wir nicht ’ne Flasche Sekt zusammen trinken?“ fragte er.
Diederich meinte: „Ob ich nun gerade mit Ihnen –.“ Aber er gab nach. „Das Gericht hat durch sein Urteil [pg 335]festgestellt, daß Ihre Vorwürfe sich nicht allein gegen mich, sondern gegen alle national gesinnten Männer richteten. Damit sehe ich die Sache als erledigt an.“
„Dann also Heidsieck?“ fragte Buck. Er nötigte Diederich, mit ihm anzustoßen. „Das werden Sie doch zugeben, bester Heßling, so eingehend wie ich, hat sich mit Ihnen überhaupt noch niemand beschäftigt ... Jetzt kann ich es Ihnen sagen: Ihre Rolle vor Gericht hat mich mehr interessiert als meine eigene. Später, zu Hause vor meinem Spiegel, habe ich sie Ihnen nachgespielt.“
„Meine Rolle? Sie wollen wohl sagen, meine Überzeugung. Freilich, für Sie ist der repräsentative Typus von heute der Schauspieler.“
„Das sagte ich mit Beziehung auf – einen anderen. Aber Sie sehen, wieviel näher ich es habe zu der Beobachtung ... Wenn ich morgen nicht die Waschfrau zu verteidigen hätte, die bei Wulckows Unterhosen gestohlen haben soll, vielleicht würde ich den Hamlet spielen. Prost!“
„Prost. Dazu brauchen Sie allerdings keine Überzeugungen!“
„Gott, ich habe auch welche. Aber immer dieselben?... Sie würden mir also das Theater anraten?“ fragte Buck. Diederich hatte schon den Mund geöffnet, um es ihm anzuraten, da trat Guste ein, und Diederich errötete, denn er hatte bei Bucks Frage an sie gedacht. Buck sagte träumerisch: „Inzwischen würde mein Topf mit Wurst und Kohl mir überkochen, und es ist doch ein so gutes Gericht.“ Aber Guste, auf leisen Sohlen, legte ihm von rückwärts die Hände auf die Augen und fragte: „Wer ist das?“ – „Da ist er ja,“ sagte Buck und gab ihr einen Klaps.
„Die Herren unterhalten sich wohl gut? Soll ich wieder gehen?“ fragte Guste. Diederich beeilte sich, ihr einen [pg 336]Stuhl zu holen; aber in Wirklichkeit wäre er lieber mit Buck allein gewesen; der fiebrige Glanz in Gustes Augen versprach nichts Gutes. Sie redete geläufiger als sonst.
„Ihr paßt eigentlich großartig zueinander, bloß daß ihr so förmlich tut.“
Buck sagte: „Das ist die gegenseitige Achtung.“ Diederich stutzte, und dann machte er eine Bemerkung, die ihn selbst in Erstaunen setzte. „Eigentlich – sooft ich mich von Ihrem Herrn Bräutigam trenne, hab’ ich Wut auf ihn; beim nächsten Wiedersehen aber freu’ ich mich.“ Er richtete sich auf. „Wenn ich nämlich noch kein national gesinnter Mann wäre, würde er mich dazu machen.“
„Und wenn ich es wäre,“ sagte Buck, weich lächelnd, „würde er es mir abgewöhnen. Das ist der Reiz.“
Aber Guste hatte sichtlich andere Sorgen; sie war erbleicht und schluckte hinunter.
„Jetzt sag’ ich dir was, Wolfgang. Wetten, daß du umfällst?“
„Herr Rose, Ihren Hennessy!“ rief Buck. Während er Kognak mit Sekt mischte, umklammerte Diederich Gustes Arm; und da die Ballmusik gerade sehr laut war, flüsterte er beschwörend: „Sie werden doch keine Dummheiten machen?“ Sie lachte wegwerfend. „Doktor Heßling hat Angst! Er findet die Geschichte zu gemein, ich finde sie bloß ulkig.“ Und laut lachend: „Was sagst du? Dein Vater soll mit meiner Mutter: du verstehst. Und infolgedessen sollen wir: du verstehst?“
Buck bewegte langsam den Kopf; und dann verzog er den Mund. „Wenn schon.“ Da lachte Guste nicht mehr.
„Wieso, wenn schon?“
„Nun, wenn die Netziger an so etwas glauben, muß es bei ihnen wohl alle Tage vorkommen, tut also nichts.“
„Redensarten machen den Kohl nicht fett“, entschied Guste. Diederich glaubte sich denn doch verwahren zu müssen.
„Überall können Fehltritte vorkommen. Aber über die Meinung seiner Mitmenschen setzt niemand sich ungestraft hinweg.“
Guste bemerkte: „Er glaubt immer, er ist zu gut für diese Welt.“ Und Diederich: „Dies ist eine harte Zeit. Wer sich nicht wehrt, muß dran glauben.“ Da rief Guste voll schmerzlicher Begeisterung:
„Doktor Heßling ist nicht wie du! Er hat mich verteidigt! Ich hab’ den Beweis, daß ich es weiß, von Meta Harnisch, weil sie schließlich hat müssen den Mund auftun. Er war überhaupt der einzige, der mich hat verteidigt. Er an deiner Stelle täte sich die Leute kaufen, die sich unterstehen und verklatschen mich!“
Diederich bestätigte es durch Nicken. Buck drehte immerfort sein Glas und spiegelte sich darin. Plötzlich ließ er es los.
„Wer sagt euch denn, daß ich mir nicht auch ganz gern einmal einen kaufen würde – einen herausgreifen, ohne besondere Auswahl, weil doch alle so ziemlich gleich dumm und gemein sind?“ Dabei kniff er die Augen zu. Guste hob die nackten Schultern.
„So was sagt man, aber sie sind gar nicht so dumm, sie wissen, was sie wollen ... Der Dümmere ist der Klügere“, schloß sie herausfordernd, und Diederich nickte mit Ironie. Da sah Buck ihn an, aus Augen, die auf einmal wie irrsinnig waren. Die Fäuste bewegte er mit krampfigem Zittern um seinen Hals her. „Wenn ich aber –“ er war plötzlich ganz heiser – „wenn ich den einen am Kragen hätte, von dem ich wüßte, er zettelt alles an, er faßt in [pg 338]seiner Person zusammen, was an allen häßlich und schlecht ist: ihn am Kragen hätte, der das Gesamtbild wäre alles Unmenschlichen, alles Untermenschlichen –.“ Diederich, weiß wie sein Frackhemd, drückte sich seitwärts vom Stuhl herunter und wich schrittweise zurück. Guste schrie auf, sie stob panikartig nach der Wand. „Es ist der Kognak!“ rief Diederich ihr zu ... Aber Bucks Blicke, die zwischen ihnen beiden, voll des gräßlichsten Unheils, umherrollten, packten unvermittelt ein.