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Wenn lange Schatten dich begleiten
»Oh, Entschuldigung«, sagte Antonia Laurin, als sie das Büro ihres Mannes in der Kayser-Klinik betrat und sah, dass er nicht allein war. »Dein Vorzimmer war leer, ich ahnte nicht, dass du noch Besuch hast.«
Leon Laurin sprang auf, die Frau, mit der er sich bei Antonias Eintreten unterhalten hatte, blieb lächelnd sitzen. Sie war nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Antonia schätzte, dass sie über fünfzig war. Sie hatte ein schmales, apartes Gesicht, in ihre schwarzen Haare hatte sich eine einzelne weiße Strähne gemischt, vorne, über der Stirn. Auch ihre Augen waren beinahe schwarz und jetzt forschend auf Antonia gerichtet.
»Es passt sehr gut, dass du kommst, so kann ich dich gleich mit einer neuen Kollegin bekanntmachen«, sagte Leon Laurin. »Frau Erdem, das ist meine Frau Antonia.«
Nun erhob sich die Frau doch und reichte Antonia die Hand. »Ich bin Linda Erdem«, sagte sie mit angenehm dunkler, weicher Stimme. »Ich werde zunächst für ein halbes Jahr als Neurochirurgin hier an der Klinik arbeiten.«
»Für ein halbes Jahr?«, fragte Antonia. »Soll das die Probezeit sein oder wie ist das zu verstehen?« Sie hatte die Frage an ihren Mann gerichtet, doch der wies auf Dr. Erdem, als sei sie es, die sie beantworten müsse.
»Ich kann mich im Augenblick nicht länger festlegen«, erwiderte Linda Erdem denn auch. »Mein Mann ist vor knapp zwei Jahren gestorben, jetzt sind meine Kinder aus dem Haus, ich muss mich neu orientieren, weiß aber noch nicht genau, wohin die Reise gehen soll. Eigentlich wollte ich nach Afrika, wenigstens für ein Jahr, aber nun habe ich das Gefühl, dass es für eine solche Entscheidung zu früh ist. So lange ich keine klaren Vorstellungen davon habe, was ich mit meinem zukünftigen Leben anfangen will, halte ich es für das Beste, einfach weiter zu arbeiten, aber an neuer Stelle.«
»Wir kennen uns von früher«, sagte Leon. »Lindas Bruder und ich hatten während des Studiums miteinander zu tun, ich kannte auch ihren Mann. Und taucht sie plötzlich hier auf und fragt mich, ob sie hier arbeiten kann. Ich dachte zuerst, sie macht einen Scherz. Abgesehen davon, dass ich sie auf den ersten Blick nicht einmal erkannt habe.«
»Es ist ja auch schon sehr lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben.« Linda Erdem wandte sich Antonia zu. »Ich habe bald nach der Geburt meines jüngsten Kindes wieder angefangen zu arbeiten. Das war hart, aber heute bin ich froh darüber. Ich weiß nicht, wie ich nach dem Tod meines Mannes zurechtgekommen wäre ohne die Arbeit. Sie und die Kinder haben mich gezwungen, weiter zu funktionieren.«
»Sie sind für meinen Mann und die Klinik ein Geschenk des Himmels«, sagte Antonia. »Erst kürzlich hat er endlich einen Unfallchirurgen für die Notaufnahme gefunden. Sie ahnen nicht, wie lange er gesucht hat.«
»Doch, das ahne ich schon. Als ich an meiner bisherigen Klinik gekündigt habe, wollten sie mir mein Gehalt beinahe verdoppeln, nur damit ich blieb. Aber es ging nicht, ich brauche eine neue Umgebung, neue Herausforderungen. Nur, wie gesagt, für längere Zeit festlegen möchte ich mich noch nicht. Wenn es mich in einem halben Jahr nach Afrika zieht, werde ich gehen.«
»Das ist der einzige Punkt, mit dem ich nicht ganz zufrieden bin«, gestand Leon. »Ich plane gerne langfristig, und die Vorstellung, in einem halben Jahr erneut auf die Suche gehen zu müssen, behagt mir nicht sonderlich. Aber ich bin trotzdem froh, dass du bei uns nachgefragt hast, Linda. Du hättest dir ja auch wieder eine große Universitätsklinik aussuchen können.«
»Vielen Dank, da war ich nun lange genug«, bemerkte Linda Erdem trocken. Sie lächelte Antonia an. »Ich habe gehört, dass Sie noch einmal in den Beruf eingestiegen sind und praktisch die Klinik hier um eine Kinderarztpraxis erweitern. Das gefällt mir, das ist ein sehr guter Ansatz.«
»Mir gefällt es auch, aber wir stehen ja noch ganz am Anfang, noch weiß ich nicht, ob es wirklich eine gute Idee war. Ich wollte es nur sehr, sehr gern.«
»Wenn die innere Stimme ruft, sollte man ihr folgen. Und ich verabschiede mich jetzt. Es war schön, Sie kennenzulernen, Frau Laurin.«
»Kinder, Kinder«, sagte Leon, »nun mal nicht so steif. Wir sind schließlich alte Bekannte, Linda, da wirst du dich doch mit meiner Frau duzen können?«
Beide Frauen lachten. »Von mir aus gern«, sagte Antonia, Linda nickte nur.
»Bis morgen also«, sagte sie dann und verabschiedete sich.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du ihren Bruder jemals erwähnt hast«, sagte Antonia, als sie gegangen war.
»Abdul Özer«, erwiderte Leon. »Er hatte es richtig schwer an der Uni. Zwar war er hier aufgewachsen, aber seine Eltern sprachen schlecht Deutsch, sie konnten ihm und Linda in der Schule nicht helfen. Aber beide Kinder waren hochbegabt, sie haben Stipendien bekommen und konnten so studieren.«
»Abdul Özer«, wiederholte Antonia nachdenklich. »Der bekannte Krebsforscher?«
»Der bekannte Krebsforscher«, bestätigte Leon. »Wir haben uns aus den Augen verloren, weil er zwischendurch auch länger in den USA war. Und von Linda habe ich dann auch nichts mehr gehört. Ich glaube, sie hatte es nicht ganz leicht in ihrer Ehe, sie hat das eben in unserem Gespräch nur angedeutet. Aber das geht mich ja auch nichts an. Wie du schon gesagt hast: Sie ist für uns ein Geschenk des Himmels. Ein halbes Jahr ist nicht viel, aber immerhin besteht ja die Möglichkeit, dass es ihr bei uns so gut gefällt, dass sie bleibt.«
»Sie war vorher nicht in München?«
»Nein, die Familie hat in Heidelberg gelebt, auch ihr Bruder ist jetzt dort und forscht weiter.«
»Dann wirst du den Kontakt zu ihm also auch wieder aufnehmen können.«
»Mal sehen, eins nach dem anderen. Wollen wir gehen?«
»Und zwar zügig, du weißt, dass wir noch eine Verabredung haben.«
Er sah sie verdutzt an. »Mit wem denn?«
»Mit dem jungen Mann, den unsere Kinder sich als Haushälter wünschen. Leon, das kannst du doch nicht vergessen haben!«
»Doch«, gestand er. »Heute Morgen wusste ich es noch, aber Lindas überraschendes Auftauchen hat alles durcheinandergebracht. Wieviel Zeit haben wir noch?«
»Eine Stunde.«
»Dann mal los. Und wie verhalten wir uns?«
»Wir sehen ihn uns unvoreingenommen an. Er ist offenbar nett, sonst wären sich die Kinder nicht so einig in ihrem Wunsch, ihn einzustellen. Und er kann kochen, das hat er bewiesen. Zwei Pluspunkte.«
»Minuspunkte: Er ist erst zweiundzwanzig und hat keinerlei Referenzen.«
»Pluspunkt: Er kümmert sich seit dem Tod seiner Eltern um die beiden jüngeren Schwestern und hat das bis jetzt offenbar gut hinbekommen.«
»Minuspunkt: Er muss sich auch weiterhin um sie kümmern, wird also nur stundenweise arbeiten können.«
Sie sahen einander an und brachen gleichzeitig in Gelächter aus. »Wir werden sehen«, seufzte Leon. »Und was gibt es