Ricarda Huch

Michael Unger


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       Ricarda Huch

      Michael Unger

       Vita Somnium Breve

      e-artnow, 2021

       Kontakt: [email protected]

      EAN: 4064066388799

      Inhaltsverzeichnis

       Cover

       Titelblatt

       Text

      Dies also, dies ist das Leben, Michael Unger? Dies sind die süßen und tödlichen Früchte, die du von seinem Baume zu pflücken gedachtest? Nichts anderes als dies bedeutete das Rätsellied, das die Glücksfee sang, als sie mit glänzendem Leib und stolzem Auge an deiner Wiege stand und Blumen und Verheißungen auf die feine Decke schüttete, unter der du träumtest? Während am unendlichen Himmel eine göttliche Sonne schwebt, von heiteren Herzen unter Gesängen angebetet, trägst du wie ein Esel Tag für Tag deine Säcke voll Arbeit zur Pflichtmühle, auf ödem Futterwege alternd. Darum die Hoffnungen! Darum die unendlichen Wünsche!

      Jahr um Jahr ging er denselben Weg, vom Wohnhause ins Geschäftshaus und zurück, die langen, geraden, reinlichen Straßen und die gepflegte Kastanienallee bis zu dem stattlichsten Bau in der Reihe, allein oder an der Seite seines Vaters, Geschäfte und Tagesangelegenheiten besprechend oder ein gelesenes Buch bedenkend, zufrieden im gleichmütigen Genusse der behaglichen Gegenwart. Heute, an dem warmen Vorfrühlingstage, der an sich nicht ereignisreicher war als ein beliebiger anderer, erhoben plötzlich Gedanken, die seit längerer Zeit unterirdisch in ihm gepocht und gewühlt hatten, laut ihre fremde Stimme, gerade in dem Augenblicke, als er aus dem Kontor auf die Straße trat und mit sonst nicht empfundenem Widerwillen die bekannten Gesichter von Ladenmädchen, Arbeitern, Angestellten sah, die täglich um diese Stunde vorüberkamen und heute flüchtig nach dem blauen Sonnenhimmel hinaufschauten.

      Wenn ich sterbe, fragte er sich, werde ich mehr oder etwas anderes gewonnen und zugenommen haben, als äußeren Besitz und etwa Geschick und Kenntnisse in Handel und Wandel? Man kann einen Ball einmal oder tausendmal in die Höhe werfen und wieder auffangen, ohne daß es einen anderen Unterschied machte, als daß er mehr oder weniger abgenützt wird; ebenso bleibt es sich gleich, ob ich heute oder in zehn oder in fünfzig Jahren sterbe. Es ist wahr, daß auch mein Vater nichts anderes mit Arbeit und Sorge erreicht hat, als Geld, eine schöne Frau, die allen lächelt und für ihn nur kühle Blicke hat, und Söhne, auf die er seine Hoffnungen überträgt und die ihm nicht einmal für das danken, was er für sie getan hat. Ich bin nicht mehr als er, und kann nicht mehr als er erwarten. O Bitterkeit, daß ich nichts anderes habe und nichts anderes bin, als diese Kaufleute mit den rötlichen Backenbärten und den nackten leeren Augen, auf die ich mitleidig herabzusehen pflegte, die auch mit Arbeit und Sorge Geld errungen haben, eine schöne Frau und hochmütige Kinder! Die vor mir die Überzeugung voraus haben, daß dies das Wichtigste und Größte ist, was man dem Leben abgewinnen kann.

      Er war inzwischen auf die Allee gekommen, wo weniger Menschen gingen und wo seine Gedanken sich allmählich beschwichtigten. Wenn der Rosenschleier der Jugend zerreißt, sagte er sich, erkennt man, daß die Wolkenschlösser und die Duftinseln am Horizonte Luftspiegelungen der sehnsüchtigen Phantasie waren. Wehe dem, der aus solchen träumerischen Gespinsten das Gewand seines Lebens weben will! Das eben ist die Kunst des Lebens, zur rechten Zeit zu erwachen und die Träume abzuschütteln!

      Es fiel ihm ein, gehört zu haben, daß er sich langsam entwickelt habe und lange Kind geblieben sei, und nun glaubte er sich auf einer jugendlichen Schwäche ertappt zu haben, die seinem Alter, da er fast dreißig Jahre alt war, bei weitem nicht mehr gemäß schien. Jetzt erst werde ich gewahr, fuhr er fort, daß der bunte Flor vor meinen Augen fehlt, und es widert mich an, was mich umgibt, Menschen und Sachen. Selbst diese braunglänzenden Kastanienknospen, die mir einst ein Frühlingswunder bedeuteten, erregen mir den Ekel sinnloser Langeweile, aus keinem anderen Grunde, als weil mein Auge trocken geworden ist.

      Indem das breite, feste Haus mit dem großen Garten dahinter sichtbar wurde, aus dem die noch kahlen Zweige hoher Bäume starrten, wo sein ganzes Leben sich abgespielt hatte, fühlte er seine Anhänglichkeit daran zugleich mit der Zuversicht, daß er die häßliche Stimmung, die ihn seit einiger Zeit drückte, überwinden würde.

      Als ich klein war, dachte er, glaubte ich, wenn an Frühlingsabenden die Pappeln vor dem Hause rauschten, sie sängen einen Gesang, der hieße: »O Leben, o Schönheit! O Leben, o Schönheit!«, und mein kindliches Herz sang diese beiden Worte unersättlich mit, in stiller Verzückung nach einer wilden Melodie, womit, meinem Gefühle nach, die Seele aller Poesie von meinen Lippen strömte. Das war ja Leben und Glück, wenn ich es auch nicht wußte. Und daß jetzt die Frau, die ich liebe, mit meinem Söhnchen, das mein ganzes Herz erfüllt, unter denselben Bäumen wandelt, ist das nicht schönste Erfüllung? Wird auch die schwärmende Liebe zu der Frau, die wir wie eine Göttin umwarben, gedämpft, ehren wir sie dafür um so mehr als Mutter unserer Kinder, die der Mittelpunkt unseres Lebens werden. Es ist das allgemeine Menschenlos, daß wir unsere liebsten Träume auf unsere Kinder übertragen, und hoffen, daß das Wunder, auf das wir verzichteten, an ihnen wahr wird. Vielleicht ist anderen anderes beschieden, und der schaffende Geist schöpft Märchenzauber in die Wirklichkeit aus einer Schatztiefe, die dem gemeinen Menschen verschlossen ist. Wer zu diesen Seltenen nicht gehört, muß sich begnügen, aus dem, was sie dachten und bildeten, einen Strahl in sein Leben zu leiten, damit es im Staube des Alltags und im Dienste der Notdurft doch nicht gemein werde.

      Mit dem Gedanken an sein Kind war ein Lächeln in Michaels Gesicht aufgegangen, aber der Druck war, obwohl er es sich vorredete, durchaus nicht von seinem Gemüte gewichen. Als er in den Garten eintrat, wo seine Frau mit einer Freundin stand, die ihn, wie viele andere Mädchen, heimlich hoffnungslos geliebt hatte, fühlte er sich, ohne zu wissen warum, gestört, nahm sich aber zusammen und ging den beiden zu freundlicher Begrüßung entgegen. Seine Frau, die auf ihn hatte zueilen wollen, tat, wie sie die Verstimmung in seinem Gesichte bemerkte, die letzten Schritte langsamer und berührte mit ihrer langen, schmalen Hand seine ausgestreckte nur scheinbar. Indessen betrachtete die Freundin Michael verstohlen und dachte: Der Erzengel bist du! Dein sind die Töchter der Erde! Du schreitest über dem Staube, dein flüchtigster Blick versetzt unter die Sterne! und dergleichen mehr, was Michael außerordentlich komisch vorgekommen sein würde, wenn er es geahnt hätte. In völliger Unbefangenheit dachte er nur daran, in diesem Augenblick ein Alleinsein mit Verena, seiner Frau, zu vermeiden, deren frostiges Gesicht verriet, daß sie gekränkt war, und knüpfte ein Gespräch mit dem jungen Mädchen an, das sich aber doch, verlegen und aufgeregt, bald entfernte. Kamen ihm nun auch seine Eltern, die im Garten auf und ab gegangen waren, und später das Mittagessen zu Hilfe, so blieb die Auseinandersetzung doch nicht aus; denn Verena konnte nicht leicht vergessen, am wenigsten, wenn sie sich durch Kälte von demjenigen, den sie am meisten, ja einzig auf der Welt liebte, beleidigt glaubte. Es war in der letzten Zeit nicht selten vorgekommen, daß Verena ihm Mangel an Innigkeit, Vertrauen und Feuer vorgeworfen hatte, was Michael besonders peinlich und ärgerlich war, da er durch keinen guten Willen etwas daran ändern zu können glaubte und ihr vielmehr schuld gab, daß sie sich an eine gewisse Schlichtheit und Mittelmäßigkeit, die der Alltag mit sich bringe und dem Menschen auch nützlich, ja notwendig sei, nicht gewöhnen wolle.

      »Sieh«, sagte er, während sie zusammen am Fenster standen, »wenn wir alle Tage aus dem Tiefsten unseres Herzens heraus lebten, würden wir bald erschöpft und aufgerieben sein. Auch darin, daß wir uns vielleicht einmal kaum bemerken, daß uns das Herz nicht höher schlägt, wenn unsere Hände sich berühren, liegt ein Reiz, so wie das stille Ruhenkönnen in der leisen, unbekümmerten Natur ihr Schönstes und Göttlichstes ist. Laß es dir doch genug sein an dem bescheidenen Gange des Lebens und erwarte keine Wunder, am allerwenigsten aber von mir, den du vielmehr ganz und gar, in jedem Zusammenhange