worden.
1990, fünfundvierzig Jahre später, hätten die Senioren dann allerdings ausziehen müssen, da auf private Initiative dort eine Nervenheilanstalt errichtet worden sei. Offiziell sei es noch weiter ein Altersheim gewesen, und es seien sogar Feste wie ein Hochzeitsmarkt veranstaltet worden. Nach und nach seien die Alten und die Feste verschwunden, gleichzeitig wurde die Heilstätte zu einem festen Bestandteil der Gegend. Darüber sprechen wolle jedoch niemand.
Vom einstigen Klarissenkloster sei außer der Westwand des Schlosses, an der sich noch ein gotisches Maßwerkfenster befand, nichts mehr erhalten. Und vom Verbleib der einstigen siebzehn Dörfer, die an den Klarissenorden übertragen worden waren, sei auch nichts mehr bekannt.
»Dies war immer schon ein besonderer Ort«, sagte Carlotta. Sie blieb vor der alten Mauer des Schlosses stehen und sah auf das große Fenster, das darin eingelassen war. Es zeigte eine Art Blume, die aus geometrischen Figuren geformt war, die geschickte Steinmetze in filigraner Handarbeit in den Stein geschlagen hatten.
»Hier war das Kloster. Diese Wand ist das Einzige, was noch übrig ist. Wenn die Sonne im Frühjahr tief über der Elbe steht, hat man den Eindruck, noch die alten Fresken erkennen zu können. Ich liebe diesen Ort. Er hat mich magisch angezogen. Gleich vom ersten Moment an. Durch dieses Fenster dort haben schon vor vielen hundert Jahren die Nonnen in den Himmel geschaut. Was haben sie gedacht? Was hat sie bedrückt? Hat sie der Blick durch dieses Fenster geheilt?«
Ich suchte auf der Fassade nach alten Fresken, fand aber außer Schatten und Rissen nichts. Carlotta sprach weiter und erzählte, dass sich unter den Schreien der Falken, die hoch über den Hügeln durch die Winde gezogen waren, auch das Klarissenkloster mit dem Wahnsinn befasst hatte. Es hatte sogar historische Berühmtheit erlangt. Denn es hieß, dass die letzte Babenbergerin, Gertrud von Babenberg, im Jahre 1288 hier am Wahnsinn gestorben sei. Carlotta erzählte mir, dass die Babenbergerin in der größten Schlacht des Mittelalters in Dürnkrut im heutigen Niederösterreich gegen die Habsburger gekämpft hatte. Allein. Gegen die größten Armeen der Welt. Ihr Schicksal war stark mit dem Schicksal Österreichs verknüpft gewesen. Durch ihren Tod seien die Habsburger an die Macht gelangt, deren Herrschaft siebenhundert Jahre angehalten habe und nur durch die Wirren des Ersten Weltkriegs fortgespült worden sei.
Vor meiner Ankunft hatte ich noch nie von dieser geheimnisvollen Babenbergerin gehört. Sie war aber anscheinend das genaue Gegenteil von mir gewesen. Sie war eine Monarchin gewesen, stark, selbstbewusst und mutig. Ich hingegen war eine Bäuerin, unnütz, schwach und feige. Und doch verband uns an diesem Ort etwas – der Wahnsinn –, dachte ich und starrte auf die steinerne Blume, die ich auf dem Fenster immer deutlicher erkannte.
»Diese Babenbergerin. Woran hat sie gelitten? Weiß man das?«, fragte ich Carlotta, die wie ich auf die Blume aus Stein blickte.
»Es soll hier ein Archiv geben. Wenn es Sie – dich – interessiert, kann ich sicher einiges über diese Zeit in Erfahrung bringen. Doch soweit ich weiß, hat die Babenbergerin geglaubt, dass sie die Welt in den Abgrund reißen würde …«
Ich erstarrte. Die Welt in den Abgrund reißen?
»Ich weiß nicht viel darüber. Die Leiterin hat mir bei meinem Bewerbungsgespräch davon erzählt. Ich weiß nicht mehr genau, wie sie es genannt hat … Sie hatte eine eigene Form der Epilepsie, den ›krummen Ton‹ oder so ähnlich … Mehr weiß ich leider nicht.«
»Den krummen Ton?«, fragte ich Carlotta, und mit einem Mal fühlte es sich an, als würde ich meine Zunge in Hafer tauchen.
Als Carlotta mich ansah, spürte ich, dass sie innerlich auf Distanz zu mir ging.
»Hatte sie auch die Bilder von Medora im Kopf? Diese Stimme, die ihr immer und immer wieder sagte, sie habe die große Krankheit in die Welt gebracht?«, fragte ich so leise, so zitternd, so unhörbar, dass Carlotta mich unmöglich verstehen konnte.
»Wir sollten jetzt zurückgehen. Dann verrate ich dir noch mehr über unseren Tagesablauf. Über das Sehen und Lernen. Über das Siegen will unsere Leiterin heute Abend selbst einige Worte verlieren. Sie passt das Siegen immer an. Verfeinert es. Du hast Glück: Sie wird uns heute eine neue, verbesserte Therapie vorstellen«, sagte Carlotta und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, als wollte sie sie hochstecken.
»Wir alle besitzen Fähigkeiten, die uns stark machen.« Wir hatten uns damals vor der Westwand der Schlosskirche versammelt und folgten den Worten der Leiterin. Ich fühlte mich wie eine neu einberufene Soldatin, als wäre ich auserwählt gewesen, in einen Kampf zu ziehen. Wenn ich mich allerdings umsah und in all die verwirrten, leeren, verlorenen Gesichter der Menschen blickte, die vor der Leiterin standen, wusste ich, dass wir keine Soldaten waren.
»Selbstbewusstsein braucht Stärke. Selbstbewusstsein muss Schwäche akzeptieren sowie Stärke erkennen und aufbauen. Jeder von uns hat eine Stärke. Und ich meine damit keine im Geiste. Auch keine der Seele. Dafür ist das Sehen da – und das Lernen. Ich meine den Körper. Das Siegen soll diese Stärke in unserem Körper finden und zur Geltung bringen.«
»Nur in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist!«, rief Walter plötzlich, der Mann mit der Wolldecke, und unterbrach damit die Leiterin. Sie klatschte darauf in die Hände, beugte sich übertrieben nach hinten und ging fröhlich, fast hüpfend zu Walter, der sich sogleich für seine vorlauten Worte schämte und seinen Kopf zurückzog.
»Was ist Ihre Stärke?«, fragte ihn die Leiterin.
»Meine Mutter. Sie ist aus Österreich. Ich bin eigentlich aus Italien …«
»Und Ihr Großvater hat gegen uns Deutsche gekämpft?«
Die Leiterin fasste Walters Hand und führte sie zu ihrem Mund. Dann deutete sie einen Handkuss an und machte einen Knicks vor dem Mann.
»Und dafür bedanke ich mich, dass uns Ihr Großvater von der Tyrannei befreit hat. Das war seine Stärke. Was ist Ihre?«
Ein Raunen ging durch die Reihen vor der Mauer. Und ich spürte, wie jeder in sich kramte und sich dieselbe Frage stellte wie Walter, der leise begann, nach Hilfe zu rufen.
»Ich liebe den Tanz!«, rief Marie und trat mit einer sanften Bewegung nach vorn.
»Den Tanz«, sagte die Leiterin und klatschte in die Hände und sprang in einem Dreiviertelrhythmus zur schüchternen Frau mit den langen grauen Haaren.
»Es gibt eine Kampfkunst, in welcher der Körper den Fluss der Bewegungen nachahmt. Wie bei einem Tanz. Tanzen wie eine Kriegerin: Ist das Ihre Stärke, Frau Marie?«
Frau Marie stand wie erstarrt vor der Leiterin und nickte, und ich sah, wie eine Träne über ihre Wange floss.
»Das Schießen. Ich habe als Kind mit einem Bogen geschossen«, rief plötzlich Walter und trat wieder aus der Reihe.
»Ihre Stärke ist also, den Fokus auf das Wesentliche zu lenken. Sie treffen den Stein, der alles ins Rollen bringt und die stärkste Armee unter sich begräbt.«
»Wie mein Großvater, ja, das ist meine Stärke.«
»Und Sie, Greta? Die anderen sind schon viel länger hier und konnten sich schon an alles gewöhnen. Deshalb fällt es ihnen auch leichter, ihre Stärken zu nennen. Aber dennoch, auch wenn es Ihr erster Tag ist: Was ist Ihre Stärke, die Sie über all Ihre Schwächen hinweghebt?«
Ich bin wertlos. Eine Weggeworfene. Eine Krumme. Ich habe keine Stärke.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich leise und blickte zu Boden. Meine Schuhe waren voller Erde. Es war mir nicht gelungen, sie vollständig zu reinigen.
»Sie sehen zu Boden, auf den Schmutz Ihrer Füße. Vielleicht sollten Sie lieber nach oben blicken. Als Sie dort gelegen haben, tief unten in diesem Erdloch Ihrer Kindheit und Jugend: Was war dort oben, was Ihnen Kraft gegeben hat?«
Ich schloss die Augen. Das Erdloch. Natürlich. Sie kannte meine Geschichte. Sie wusste alles. Ich konnte nichts vor ihr verbergen.
»Ein Falke. Er war oben. Er hat auf mich