Bernhard Hofer

Tannenfall. Das andere Licht


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wie kein anderes Tier auf dieser Welt. Sie sind Ihre Stärke. Die Falken, die Verbindung zu Ihnen. Ihre Waffen. Trainieren Sie sie.«

      Falken. Ich dachte an früher. An meine langen, immer wiederkehrenden Blicke in den Himmel. Die Falken über mir: Sie hatten über mich gewacht. Hatten mir Halt gegeben. Und jetzt? Ich hob den Kopf und sah in den Abendhimmel. Es roch nach feuchtem Herbstlaub. Ich glaubte, über mir einen Falken entdeckt zu haben. Er flog auf den Schlossturm. Ein Weibchen. Es versorgte in einem verborgenen Nest seine Jungen. Mein Blick fiel tiefer, auf die Westwand, die Steinblume, die verschwundenen Fresken. Meine Vertrauten und ich warfen durch das Licht des Schlosshofes Schatten auf die alte Wand.

      Dann sah ich sie. Ihren Schatten. Aber sie war kleiner. Bewegte sich anders als die Leute in der Heilstätte. Mein Körper begann zu zittern. Es war sie. Sie war wieder hier. Medora. Ich erkannte sie an ihren kleinen Schritten. Das Bild aus meinem Kopf: Es war wieder hier, und ich hörte sie sprechen. Sie sprach in ihrer Sprache. Der Sprache des Mittelalters.

      Du wirst die große Krankheit bringen wie sie. Du wirst es nicht aufhalten können – so, wie sie einst die Pest nicht aufhalten konnte.

      Ich fuhr herum. Die Leiterin hatte mir die Hand auf die Schulter gelegt.

      »Die Pest? Mit wem sprechen Sie? Ist sie da? Ihre Halluzination?«

      Ich schüttelte den Kopf, suchte den Boden.

      »Der Schriftsteller Albert Camus sagte einst: ›Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.‹ Denken Sie darüber nach!«

      Meine Welt begann, sich zu drehen. Der Falke verließ den Turm. Ich fand Carlottas Hand. Sie war warm.

      »Es wird langsam Zeit für das Bett.«

      »Es ist meine Schuld.«

      »Das ist es nicht.«

      »Doch. Das ist es. Das war es immer.«

      DIE KRANKHEIT, SIE ERHEBT SICH

      Es war ein viel zu warmer Oktobermorgen. Nebel hing zwischen den wuchtigen Eichen vor meiner Terrasse. Ein Schwarm früher Gänse zog über den feuchten Himmel. Ich war wie jeden Tag sehr zeitig aufgestanden, jetzt saß ich mit meiner hellgrauen Wolldecke auf einem weißen Klappstuhl und wartete auf den Sonnenaufgang. Ich sah auf meine zitternden Hände. Sie waren alt geworden. Meine Gedanken und Erinnerungen hatten meinen Körper verändert. Sie hatten ihn zu einer zitternden Hülle gemacht, unter der ein wütender Sturm tobte, der nicht zur Ruhe kam und mich mit seinen strengen Böen immer wieder auf dem Boden krümmte.

      Der entschlossene Flügelschlag eines Falken erschreckte mich. Ich folgte ihm mit meinen Blicken, wie er über den französischen Park hinauf zum Gartenhaus flog. Ich hielt den Atem an. Stand dort oben jemand? Eine Pflegerin mit ihrer Patientin? Um diese Uhrzeit? In den vielen Jahren, in denen ich hier lebte, begann das Sehen nie in den Morgenstunden. Die Amsel wagte sich mit drei leisen Tönen aus der Stille, und ich blies die Luft aus meiner Lunge. Doch! Dort oben steht jemand. Es war sie. Ich war mir sicher.

      Ich erhob mich und ging zum Terrassengeländer aus mattem, geschwungenem Schmiedeeisen. Vorsichtig beugte ich mich vor und trat dabei auf die wackelige Steinplatte. Ich biss die Lippen zusammen, da ich nicht wollte, dass jemand meine Neugier entlarvte. Ich sah zu dem zweistöckigen Gebäude, das oberhalb von vier Stufenterrassen lag. Die Reste des Nachtnebels zogen darüber hinweg. Es war tatsächlich sie. Ich erkannte sie an ihrem luftigen, faltigen Rock mit den großen Schmetterlingen und Vögeln und ihren Stöckelschuhen aus blauem Leder mit Blumenmuster und einer kleinen roten Rose an der Schnalle. Sie hatte sie getragen, als ich sie zum ersten Mal getroffen und sie sich mir persönlich vorgestellt hatte.

      Ich wollte ihr zurufen und ihr mit einem ausgestreckten Arm zuwinken. Aber ich hatte Angst, dass mich eine der Pflegerinnen sehen konnte, wie ich wie eine Verrückte mit meinem blassen Arm hin- und herwedelte. Das Gefühl in meinem Magen riet mir, dass ich sehr leise sein, mich wieder zurück auf meinen Stuhl setzen und warten sollte. Warten auf den Aufgang der Sonne. Wie jeden Tag. Jahr für Jahr.

      Ich setzte mich auf meinen Platz zurück und faltete meine Hände. Doch meine Neugier kitzelte mich, also streckte ich, so gut ich konnte, den Hals durch das Terrassengeländer in Richtung des Gartenhauses. Sie musste wie alle anderen über den Pfad im Wald gelaufen sein, um zum Haus zu gelangen. Wäre sie über den sauber geschnittenen Park gekommen, hätte ich sie bemerkt.

      Von hier sahen die Stufenterrassen aus wie eine Pyramide, auf deren Gipfel sie jetzt stand. Leiser Wind griff vom Wald her nach ihrem Rock und ließ die Schmetterlinge auf ihm tanzen. Eine Schwere verengte meine Brust, als ich erkannte, dass sie mit jemandem sprach. Sie schien wütend zu sein und fuchtelte mit ihren Armen. Ich streckte meinen Hals noch weiter vor, um zu erkennen, mit wem sie im Streit lag. Ich erkannte den Schatten einer Person, die sich über die Wand des Gartenhauses legte. Es war ein Mann. Ein großer, vielleicht alter Mann.

      Ich hielt den Atem an. Konnte ich etwas hören? Ja: ihre Stimme. Sie war lauter. Und tatsächlich die eines Mannes. Sie schrie, und er – mir stockte der Atem – stieß sie mit einem Mal so kräftig von sich, dass sie auf den Rücken fiel. Ich wollte ihr schon zu Hilfe eilen, aber bevor ich mich’s versah, stand sie wieder auf den Beinen, und der Mann schien verschwunden zu sein. Während sie mit einer Hand ihr Kleid säuberte, bemerkte ich, wie sie darum kämpfte, ihre Fassung zurückzugewinnen. Und da: Sah sie zu mir? Hatte sie mich entdeckt?

      Ich zog den Kopf zurück und richtete meinen Blick wieder brav zu Boden. Es tat mir leid, ich hatte sie nicht beobachten wollen. Ich dachte, ich wollte …

      Schritte. Sie kam vom Hügel herunter. Auf mich zu. Vorsichtig schielte ich nach vorn. Konnte ich jetzt noch zurück in mein Zimmer? Sie würde es bemerken, sie würde den Schatten auf der Terrasse sehen. Nein, ich musste sitzen bleiben und auf die Sonne warten. Wie jeden Tag. Jahr für Jahr. Ich schloss die Augen. Ihre Schritte. Ihr Atem. Ihr Husten. Sie hustete? Ich riss die Augen auf. Mein Herz schlug wie wild. War sie krank?

      »Du hast sie gesehen?«, fragte Carlotta und zog die Wolldecke über meine Schulter, damit mich der heimtückische Oktoberwind nicht erkälten würde.

      Ich schwieg und blickte ertappt zu Boden. Ich hatte Angst davor, Menschen in die Augen zu sehen. Ich blickte immer auf den Mund, wie er sich bewegte, aber in die Augen zu sehen, wagte ich nicht. Ich wollte weder in mein Gegenüber eindringen noch ihr oder ihm das Gefühl geben, von mir angestarrt zu werden wie von einer Schlange, die jeden Moment angreifen konnte.

      »Weißt du, ob es ihr gut geht?«

      »Wieso soll es ihr nicht gut gehen?«

      Sollte ich Carlotta erzählen, dass ich sie husten gehört hatte? Oder von dem Streit?

      »Unsere Leiterin ist eine starke Frau. Wir müssen uns nicht um sie sorgen.«

      »Aber wenn sie morgen nicht mehr kommt, was soll dann aus uns werden?«, fragte ich Carlotta und ertappte mich dabei, dass ich kurz meinen Blick hob, als wollte ich nach ihr greifen wie eine Ertrinkende.

      »Sieh dir unsere Falken an! Wir verhauben sie, damit sie glauben, es wäre Nacht. Unsere Falkner tauchen sie in eine dunkle Umgebung. Da Falken Taggreifvögel sind, gehen sie nicht auf die Jagd, solange sie die Haube tragen. Sie sind ruhig. Wie wir. Und unsere Leiterin ist wie die Haube. Wenn sie plötzlich weg wäre, müssten wir alle auf die Jagd gehen. Denn plötzlich würde der Tag anbrechen. Doch dazu wird es nie kommen. Aber du weißt das doch alles besser als ich.«

      »Auf uns allein gestellt? Lässt du mich allein?« Ich suchte nach ihrer Hand.

      »Hab keine Angst, ich denke, das war auch kein gutes Beispiel.«

      Ich spürte, dass Carlotta lächelte, und meine Schultern gaben sich genussvoll ihren knetenden Fingern hin.

      »Ich könnte das nicht. Allein zurechtkommen. Ich bin nicht mutig«, sagte ich und klang dabei wie ein schüchternes Kind, das mit fast fünfzig Jahren immer noch zur Schule ging.

      »Aber wenn sie nicht wiederkommt: Wer übernimmt dann