Klara, natürlich! Sie hätte sehen müssen, was dort oben im Gartenhaus passiert war. Sie hätte den Mann, der mit der Leiterin gestritten hatte, sehen müssen. Ich setzte mich an meinen Tisch und säuberte an der rot-weiß karierten Tischdecke meine Hände, bevor ich die Gabel und das Messer aus Plastik in die Hände nahm, um das Spiegelei, das auf dem Teller lag, in zwei Teile zu schneiden.
Herr Walter saß mir gegenüber und starrte mich erwartungsvoll an. »Meine Mutter, weißt du, die kommt aus Österreich. Ich bin eigentlich aus Italien. Mein Großvater hat dort gekämpft. Gegen die Deutschen.« Dann blickte er sich verstohlen um, als hätte er Angst, dass ihm bei den Worten »die Deutschen« Konsequenzen drohten.
»Hast du Klara gesehen?«
»Klara. Sie hat auch jemanden in Österreich.«
Ich sah auf den Platz neben Walter. Er war leer. Die Frau, die jeden Tag oben beim Gartenhaus an der Tür stand, fehlte.
»Sie fühlt sich nicht gut«, sagte Marie und sah mich mit einem breiten Lächeln an.
»Bitte um Ruhe. Bereitet euch auf das Lernen vor!«, rief einer der Aufseher. Er hatte die Arme auf dem Rücken gekreuzt und ging zwischen den Tischen auf und ab. Im Speisesaal fanden hundert Menschen Platz. Doch auch wenn alle hier waren, war es meist so still, dass man gehört hätte, wenn ein Plastikmesser zu Boden fiel. Carlotta stand mit ihrer gelben Dienstkleidung hinter mir. Sie berührte meinen Rücken, um mich aufzufordern, meine Unterhaltung einzustellen oder zumindest leiser zu reden. Ich nickte kaum sichtbar und suchte mit meinen Blicken nach Marie, die neben mir mit dem Eigelb Kreise malte.
»Was hat sie? Klara. Ist sie krank? Hat sie Husten?«
Carlottas Finger bohrte sich immer tiefer in meinen Rücken. Wieder nickte ich und blickte zu den Ärzten, die an der Eingangstür des Speisesaals miteinander sprachen. Sie wirkten aufgeregter als sonst. Etwas war anders. Bestimmt machten sie sich Sorgen um die Leiterin. Sie wussten etwas.
Die Uhr schlug. Acht Uhr. Zeit für das Lernen. Alle Patienten standen gleichzeitig auf, und die Pfleger, die hinter ihnen standen, legten einem unsichtbaren Zeichen folgend ihre rechte Hand auf die Schulter ihrer Wirte.
Wir waren ihre Wirte und sie unsere Diener, denn nach der Überzeugung der Leiterin der Heilstätte musste das gewöhnliche Bild des Kranken, der von einem Pfleger betreut wurde, gedreht werden. Da unsere Welt verdreht war, müsste man sie nur wieder zurechtrücken, um wieder den Normalzustand herzustellen. Also sollten nicht die Kranken von den Gesunden lernen, wie man die Klarheit in seinen Gedanken wiederherstellte, sondern die Gesunden sollten von den Kranken lernen, wie diese dachten. Dadurch entstand ein gemeinsames Verständnis, das vom Bild des Kranken bestimmt wurde und nicht von dem der gesunden Menschen. Dabei war es wichtig, dass in der Zeit des Lernens nicht gesprochen wurde. Es ging darum, die Klarheit zurück in das Denken zu bringen. Erst wenn diese Klarheit bestand, konnte man mit der eigentlichen Behandlung beginnen. Carlotta hatte mir das damals so erklärt, dass das Lernen ähnlich war wie Meditieren. Nur dass man dabei nicht allein auf dem Boden saß, sondern gemeinsam mit den anderen Wirten. Dahinter standen unsere Diener und versuchten, ebenfalls in absoluter Stille in unsere Welt vorzudringen.
In einer langen, schweigenden Schlange gingen wir zur Schlosskirche, wo wir uns in zehn Zehnerreihen auf unsere Kissen vor dem Altar knieten. Ich erinnerte mich noch an das erste Mal, als ich die Anwesenheit Gottes in der Kirche so stark gespürt hatte, dass ich mich übergeben musste. Mein Verhältnis zu Gott war seit meiner Kindheit und Jugend gestört, und ich hatte Mühe, das Kreuz anzusehen. Ich wusste noch, dass ich die Nächte durchgeweint hatte, und glaubte, auch geschrien zu haben. Dann aber, als eines Tages alle Kreuze entfernt worden waren, war es besser geworden. Ich hatte gespürt, dass nicht nur ich erleichtert gewesen war, dass Gott diesen Raum verlassen hatte. Mit einem Mal waren auch die Gesichter der anderen Wirte weicher.
»Zuerst stirbt Gott, dann stirbt der Mensch.« Es war die verspielte Stimme der Leiterin, die damals plötzlich hinter mir aufgetaucht war und mir liebevoll diese Worte ins Ohr geflüstert hatte. »Jetzt ist alles gut. Er beobachtet dich nicht mehr. Niemand beobachtet dich jetzt noch. Du kannst loslassen.« Dann hatte sie mir über die Wange gestrichen, und ich – daran erinnerte ich mich noch immer genau – hatte sie dankbar angelächelt.
Das Lernen dauerte stets von zehn bis zwölf Uhr. In diesen zwei Stunden leerten wir unsere Köpfe und versanken in einer stillen Welt. Hinter uns legten unsere Diener die Hände auf unsere Schultern und glichen ihren Atem an unseren an. War es in den ersten Monaten schwer gewesen, Stille zu finden, da immer wieder ein vereinzeltes Lachen oder Kreischen oder sogar ein Erbrechen unsere Andacht gestört hatte, so war es mit der Zeit immer besser gelungen. Ich war überrascht gewesen, wie einfach mir das Lernen fiel. Vielleicht lag es daran, dass ich Stille gewohnt war. Immerhin hatte ich Stunden, Tage und Wochen in der Stille eines Erdloches zugebracht.
Nach dem Lernen gingen wir zurück in den Speisesaal, wo wir nach einem festgelegten Speiseplan wieder schweig- und achtsam unsere Teller leer aßen. Ich liebte den Donnerstag, denn dann gab es immer Erbsensuppe mit Thunfisch. Wieder war Klaras Platz leer.
Um dreizehn Uhr begann das Sehen. Oder wie Carlotta es nannte: das Umherwandern. Es gab so viele wunderbare Wege am Seußlitzer Grund. Die Wege führten durch die Wälder, aus denen Schatten rieselten und Wasser flüsterte. Oder sie schlichen über satte Felder mit weitem Blick und hinauf zu kleinen Hügeln, die nach Wein rochen und geschützt waren mit Dächern aus Blättern. Hätte man diese Wege von oben gesehen, vom Himmel, von dort, wo der Mond in der Nacht auf alles herabschaute, dann hätte man ein verspieltes Labyrinth gesehen, das sich im Seußlitzer Grund verbarg wie ein Geheimnis. Und auch wenn es seltsam klang, dachte ich, dass sich in diesen vielen Jahren des Umherwanderns die Wege verändert hatten. Wie eine verschlungene Welt, die immer mehr Weg gebar.
»Umherwandern heißt sehen. Achtsam wahrnehmen. Die Sprache ist beim Flanieren eine andere. Ebenso wie unsere Gedanken. Und unser Atem. Heilung ist ohne das Sehen nicht denkbar«, hatte mir Carlotta erzählt, als wir zum ersten Mal oben auf dem Gartenhaus gestanden und über das ganze Land gesehen hatten wie ein heimlicher Herrscher über seine Ländereien, die im Gold der Sonne funkelten.
Ich hatte immer das Gefühl, dass Carlotta mit dem Sehen einen anderen Plan verfolgte. Als hätte sie mich beobachtet, wenn ich in die Ferne blickte oder in die Wälder. Als hätte sie erwartet, dass die Bilder in meinem Kopf sich hier auf den Wegen zeigten und sie daraus einen tiefen Blick in meine wahre Seele erhielt. Aber ich wollte das nicht. Niemand durfte in meine Seele blicken. Es gab dort nach dem Tod meiner beiden Kinder auch nichts mehr zu sehen. Carlotta war all die Jahre immer so behutsam gewesen. Sie hatte sich wie ein sanfter Frühlingswind an den Ort meiner größten Wunde herangetastet und mir von dem Duft des Grases und den Gesängen der Bienen erzählt, bevor sie mit einer winzigen Frage, oft nur einem Wort oder einer Geste, ein Seil in meine Dunkelheit geworfen hatte.
»Diese wunderbare Welt der Natur: wie alles funktioniert, ineinanderpasst! Das Schöne, das Zauberhafte, das sich immer wieder neu Erschaffende, das Leben … das Sterben.«
Das Sterben.
Es beginnt immer gleich. Zuerst Husten. Dann das Blut. Und mit dem Fieber kommt die Atemnot. Als hätte jemand die Zahl der Luftzüge begrenzt.
»Du bist nicht schuld. Sie waren krank«, hatte Carlotta einmal gesagt.
Und ich hatte geschwiegen. Ich war schuld. Es war meine Schuld. Ich hatte ihnen die Krankheit gebracht, ich hatte der Welt die Krankheit gebracht, die große Krankheit.
In der Ferne schlugen Glocken. Es war sechzehn Uhr.
»Zuerst stirbt Gott, dann stirbt der Mensch«, antwortete ich meiner Dienerin, die mit der Hand eine Mücke aus ihrem Gesicht wedelte.
»Warum sagst du das?«
»Sie hat das gesagt, als sie die Kreuze entfernen ließ«, sagte ich und ging zurück zum Schloss, da nach dem Abendessen das Siegen auf uns wartete.
Ich weiß nicht, woher das Geschrei kam, aber als ich mit Carlotta den Hof betrat, stand Walter mit gezücktem Bogen vor seinem Diener. Der Pfeil war mit einer stumpfen Spitze ausgestattet