Bernhard Hofer

Tannenfall. Das andere Licht


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mich. Ich ging durch einen dunklen Flur nach rechts und setzte mich an den Tisch, wo sonst mein Vater gesessen hatte. Ich nahm seine Körperhaltung ein. Nach vorne gebückt, den Kopf gesenkt, mit dem Blick nach unten, wo die gefalteten Hände lagen. Ich saß so lange in dieser Position und wartete, bis die Nacht kam. Dabei versuchte ich, Abschied von ihm zu nehmen. Ihn irgendwie zu verstehen.

      Nach dem frühen Tod meiner Mutter hatte mein Vater mich immer in die Kirche mitgenommen, wo ich mit kerzengeradem Rücken neben ihm sitzen musste. Ich durfte meinen Blick nicht von dem großen Kreuz hinter dem Altar nehmen. Sobald ich es doch tat oder meine Augen vor lauter Müdigkeit zufielen, stieß er mir mit dem Fuß in die Wade. Und zwar so, dass es niemand bemerkte. In der Schule wurde ich dafür gehänselt. Dass ich mit meiner roten, gewalkten Jacke und meinen schmutzigen Händen immer still neben meinem Vater saß. Ich war das schmutzige Mädchen, das aussah wie ein blonder Junge und Angst hatte zu sprechen, da es den Gürtel seines Vaters fürchtete.

      Vater gab mir damals die Schuld am Tod meiner Mutter. Eine fleißige Bäuerin mit kleinen, wachen Augen und ordentlichen Bewegungen. Ich erinnerte mich noch an die Zeit, als unter ihren Händen der Hof erblüht war. Überall hatten Blumen gestanden, und es hatte geduftet und in allen Farben geleuchtet. Sie hatte ein besonders Geschick gehabt, Dinge in Position zu rücken und Wärme an Orte zu bringen, an denen sonst die Kälte gewohnt hätte. Früher hatten wir Pferde gehabt, und viele Leute waren von Dresden gekommen, um zu reiten. Und wir besaßen Kühe und sogar Falken, die von den Kindern, die ich ganz selten mit nach Hause brachte, mit großen, ängstlichen, aber neugierigen Augen bestaunt wurden.

      Auch meine Mutter war sehr plötzlich gestorben. Zuerst war es nur ein Verdacht in seinem Herzen gewesen, dass ich die Schuld an ihrem Tod trug, aber je tiefer er in seinem Glauben nach Trost suchte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass nur der Teufel ihm seine Frau hatte nehmen können. Der Teufel – seine Tochter.

      Bei meinem ersten Anfall hatte ich gehört, wie er mit einem hohen Pfeifen den Gürtel aus seiner Hose zog, um ihn mir mit voller Wucht in mein verzerrtes Gesicht zu schlagen. Als sich mein Körper zum ersten Mal verkrampft hatte, hatte ich noch gedacht, dass es die verborgene Trauer um meine tote Mutter wäre. Doch der Arzt, ein alter Trunkenbold aus Heyda, wurde Zeuge, wie das zuckende Bündel Mensch auf dem Küchenboden mit verkrampften Zügen herumbrüllte, und nannte meinem Vater den Namen meiner Krankheit: Epilepsie.

      Die eindeutige Diagnose konnte meinen Vater jedoch nicht umstimmen. Für ihn war ich ein krummer Mensch gewesen, der von dunklen Mächten besessen war. Und wann immer der Geschmack von Hafer meinen Mund berührte und ich deshalb wusste, dass die Krämpfe bald wieder nach meinen Armen und Beinen fassen würden, machte ich mich gleichzeitig darauf gefasst, dass er mich an den Haaren nach draußen zerren, mich schlagen und in das Erdloch ziehen würde, das er für mich ausgehoben hatte. Ich sollte darin Buße tun. So lange, bis das Krumme aus mir verschwunden wäre und ich nicht mehr den Tod über die Menschen brächte.

      Ich war acht Jahre alt, als meine Mutter starb und das Krumme kam. Nachdem das Zittern in meinen Gliedern verschwunden war, schob sich das schwitzende Gesicht des Dorfarztes vor meine Augen, bevor seine Hand mein rechtes Lid nach oben zog. Der Arzt roch nach warmem Alkohol und dem süßen Rauch einer Pfeife. Auf seiner geschwollenen roten Nase stand ein dickes, langes schwarzes Haar senkrecht empor.

      »Fallsucht«, sagte er und sah zu meinem Vater, der mit verschränkten Armen aus dem Fenster blickte. Ich sah an seinem Kiefer, dass er seine Backenzähne aneinanderrieb. Er wiederholte immer wieder die Worte des Arztes. Fallsucht. Epilepsie. Aber für ihn waren es nur Worte, denn insgeheim war ich für ihn von diesem Zeitpunkt an nur noch »die Krumme«.

      Nach meinem ersten Anfall brachte mich der Arzt in mein Bett und befahl mir, vorerst Ruhe zu finden. Obwohl ich ihn abstoßend fand, fasste ich nach seiner Hand, da ich Angst vor dem hatte, was passieren würde, wenn er uns verließ. Angst vor meinem Vater.

      Kaum war der Dorfarzt weg, kam mein Vater zu mir ins Zimmer und befahl mir, aufzustehen und mit nach draußen zu gehen. Er hatte eine Schaufel in der Hand. Ich hatte Angst, ihn zu fragen, wohin wir gingen. Meine Beine schmerzten von den Krämpfen. Ich hatte solche Angst, dass das Krampfen und Krallen und Schreien in mir wiederkommen würde. Aber der Schatten hinter mir trieb mich weiter nach draußen. In den Regen. Über den schmutzigen Weg zu den zwei Bäumen, von denen der größere mit dichtem Laub im Schwarz der Nacht auf mich wartete.

      Mein Vater befahl mir, mich an den Baum zu stellen und ruhig zu sein, bis er mit der Arbeit fertig war. Ich gehorchte und stellte mich mit dem Rücken zum Baum. Lange noch spürte ich die raue Rinde auf meiner Haut. Ich zitterte am ganzen Leib, und der Regen lief mir über das Gesicht und fraß meine Tränen.

      »Du hast den krummen Ton«, sagte er immer wieder und fluchte. »Du bist schuld, dass die große Krankheit uns findet. Sie wird uns am Ende alle töten.« Wütend stieß er die Schaufel in die Erde. Tiefer und tiefer. Bis endlich das Erdloch ausgehoben war. Mein Vater war ein großer Mann, doch hätte ihn jemand mit der Schaufel von hinten auf den Kopf geschlagen und wäre er in das Loch gefallen, dann wäre er darin verschwunden, und man hätte ihn nicht mehr gesehen. Aber da war niemand, der ihn schlug. Da war niemand außer dem Regen. Und mir.

      Als Achtjährige stieg ich zum ersten Mal in das Erdloch. Die Erde unter meinen Füßen war nass, weich und klebrig. Ich spürte kleine Wurzeln zwischen meinen Zehen. Dann befahl er mir, mich hinzulegen. Mit dem Kopf nach unten. Ich kniete mich hin und schob den Oberkörper so lange nach vorne, bis mein Gesicht die kalte Erde berührte. Der Geruch der Erde berührte meine Lippen. Ich schloss die Augen und fror. Ich hörte meinen Vater, wie er begann, mich zu verfluchen, wie er immer wieder sagte, dass ich den krummen Ton hätte und dass ich so lange in der Erde bleiben müsste, bis das Krumme aus mir verschwunden wäre. Aus krummen Wurzeln wüchsen krumme Bäume.

      Und dann begann er mit den Psalmen. Mit den Gebeten. Ich musste sie wiederholen. Jedes einzelne. Es waren wirre Worte. Zornige Worte. Ich versuchte, jedes einzelne von mir zu stoßen, nur eines nicht. Poenitentia. Es drang in mich ein wie ein heißer Dolch. Poenitentia. Immer wieder. Poenitentia. Ich musste das Wort immer wieder sagen. Als ich zum ersten Mal in meinem Erdloch lag, musste ich das Wort so lange wiederholen, bis die Sonne den Himmel verfärbte. Dann erlaubte mir mein Vater, aufzustehen und mit ihm zurück ins Haus zu gehen. Mein Kleid war schmutzig und roch nach Urin, da ich mich im Loch hatte erleichtern müssen.

      Zu Hause angekommen, strich mir mein Vater über die Wange und erlaubte mir, mich auszuruhen. Denn das Krumme sei nun fort, und die Menschen in meinem Umfeld würden aufhören zu sterben. Doch mein Vater hatte sich geirrt. Das Krumme kehrte zurück. Diesmal war der Anfall stärker, und ich blutete sogar an der Zunge, da ich sie beinahe abgebissen hatte. Wieder trieb mich mein Vater in die Dunkelheit und zwang mich in das Erdloch. Er stand hinter mir, und ich begann erneut, zu beten und um Buße zu bitten: »Poenitentia.« Immer wieder. Ich blieb die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag im Loch und rührte mich nicht, sondern wiederholte nur immer wieder dieses eine Wort. Ich hatte Hunger und Durst, und ich kniff die Beine zusammen, bis ich es nicht mehr aushielt und das angestaute Wasser einfach laufen ließ.

      Manchmal, wenn Menschen mit Traktoren vorbeifuhren und sich wunderten, was mein Vater vor dem Loch trieb, sagte er, dass er auf der Jagd nach Wühlmäusen sei, Mäusen, die an den Wurzeln nagten. An den krummen Wurzeln.

      Seit meinem ersten Anfall betete mein Vater jeden Tag in seinem kleinen Zimmer über der steilen Treppe, die von der Küche in den ersten Stock unseres Hofes führte, dass das Krumme in mir verschwinden möge. Aber es verschwand nicht. Es begleitete mich mein ganzes Leben. Zu Hause, in der Schule, draußen auf dem Feld, wenn ich meinem Vater half. Das Krumme war immer da. Und mit ihm meine Buße. Poenitentia.

      Als mein Vater erkannte, dass er nicht mit Geld umgehen konnte und die Reiter aus der Stadt ausblieben, schmiedete er einen Plan. Er wollte mich mit einem Bauern verheiraten, der einer Kolchose nach sowjetischem Vorbild vorstand und dem ich bereits als Kind gut gefallen hatte.

      Ich war sechzehn Jahre alt, als ich Dimitri heiratete. Im Grunde war die Ehe illegal, da ich das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Aber damals wusste ich es nicht, und niemand hatte es mir verraten. Warum auch? Ich war wertlos, und