Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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einzig psychologischen Wert als Selbstdarstellung. Denn wer sonst sein Leben erzählt, tut es fast immer zweckhaft und gewissermaßen amphitheatralisch; er stellt sich auf eine Bühne, der Zuschauer gewiß, übt sich unbewußt eine besondere Haltung, einen interessanten Charakter ein. Berühmte Männer sind niemals bedenkenfrei in ihrer Selbstdarstellung, denn ihr Lebensbild ist von vorneweg schon konfrontiert mit einem bereits in der Phantasie oder dem Erlebnis zahlloser Menschen vorhandenen; so sind sie wider ihren Willen gezwungen, ihre eigene Darstellung heranzustilisieren an die schon ausgeformte Legende. Sie müssen, die Berühmten, um ihres Ruhmes willen Rücksicht nehmen auf ihr Land, ihre Kinder, auf die Moral, Ehrfurcht und Ehre – immer ist darum, wer vielen schon angehört, vielfach gebunden. Casanova aber darf sich den Luxus radikalster Hemmungslosigkeit leisten, ihn besorgen keine familiären, keine ethischen, keine sachlichen Bedenken. Seine Kinder hat er als Kuckuckseier in fremde Nester gesteckt, die Frauen, mit denen er schlief, faulen längst unter italienischer, spanischer, englischer, deutscher Erde, ihn selbst beengt kein Vaterland, keine Heimat, keine Religion – zum Teufel, wen sollte er da schonen: am wenigsten sich selbst! Was er erzählt, kann ihm nichts mehr nützen, kann ihm nichts mehr schaden. »Warum«, fragt er sich darum, »sollte ich nicht wahr sein? Sich selbst täuscht man niemals, und ich schreibe nur für mich selber.«

      Wahr sein, das heißt aber für Casanova nicht etwa tiefwühlend und selbstgrüblerisch sich gebärden, sondern ganz einfach: hemmungslos, rücksichtslos, schamlos sein. Er zieht die Kleider aus, macht sich behaglich und nackt, taucht den abgestorbenen Leib noch einmal ins warme Geström der Sinnlichkeit, klatscht und platscht munter und frech in seinen Erinnerungen, höchst gleichgültig um vorhandene oder imaginäre Zuschauer. Nicht wie ein Literat, ein Feldherr, ein Dichter erzählt er seine Abenteuer sich selber zur Ehre, sondern wie ein Strolch seine Messerstechereien, eine wehmütig alternde Kokotte ihre Liebesstunden, also vollkommen ohne Schamhemmung und Bedenken. »Non erubesco evangelium«, ich erröte nicht über mein Bekenntnis, steht als Motto unter seinen »Précis de ma vie«, er bläst weder die Backen auf, noch schielt er reumütig in die Zukunft: er erzählt direkt und gerade aus dem Mund heraus. Kein Wunder darum, daß sein Buch eins der nacktesten und natürlichsten der Weltgeschichte wurde, von einer geradezu wahrhaft antikischen Offenheit im Amoralischen. Aber mag es grobsinnlich wirken und für zartsinnige Gemüter manchmal allzu sichtbar phallische Muskeln mit der Eitelkeit eines selbstzufriedenen Athleten spielen lassen – tausendmal besser doch dieses unverschämte Paradieren als ein feiges Weg-Eskamotieren oder eine lendenlahme Galanterie in eroticis. Man vergleiche doch einmal die andern erotischen Traktate seiner Zeit, die rosenfarbenen, moschussüßlichen Frivolitäten eines Grécourt, Crébillon oder den Faublas, wo der Eros ein bettelhaftes Schäferkleidchen trägt und Liebe als lüsternes Chassé-Croisé erscheint, ein galantes Spielchen, bei dem man weder Kinder noch die Syphilis kriegt, mit diesen geraden, exakten, von gesunder und üppiger Genußfreude überschwellenden Schilderungen, um ihre Menschlichkeit und elementare Natürlichkeit ganz einwerten zu können. Bei Casanova erscheint die männliche Liebe nicht als zartblaues Wässerchen, in dem Nymphen ihre Füße spielend kühlen, sondern als ungeheuer naturhafter Strom, der die Welt spiegelt auf seiner Fläche und gleichzeitig in seinem Grund allen Schlamm und Schmutz der Erde mitschleppt – wie kein anderer Selbstdarsteller zeigt er das Panische und Wildüberschwellende des männlichen Geschlechtstriebs. Hier kommt endlich einer, der den Mut hatte, die Vermengtheit von Fleisch und Geist in der männlichen Liebe aufzuzeigen, nicht nur die sentimentalischen Affären, die zimmerreinen Liebschaften zu erzählen, sondern auch die Abenteuer der Hurengassen, die nackten und bloß hauthaften Geschlechtlichkeiten, das ganze Labyrinth des Sexus, das jeder wirkliche Mann durchschreitet. Nicht daß die andern großen Autobiographen, daß Goethe oder Rousseau in ihren Selbstdarstellungen geradewegs unwahrhaftig wären, aber es gibt auch eine Unwahrhaftigkeit durch Halberzählen und Verschweigen, und die beiden schweigen mit bewußter oder wegschielender Vergeßlichkeit sorgfältig die minder appetitlichen, die rein sexuellen Episoden ihres Liebeslebens tot, um sich einzig über die seelisch durchfärbten, die sentimentalen oder leidenschaftlichen Liebeleien mit den Klärchen und Gretchen zu verbreiten. Damit sublimieren sie aber unbewußt das lebensechte Bildnis der männlichen Erotik: Goethe, Tolstoi, selbst der sonst nicht prüde Stendhal gleiten rasch und mit schlechtem Gewissen hinweg über unzählige bloße Bettabenteuer und die Begegnungen mit der venus vulgivaga, der irdischen, allzu irdischen Liebe, und hätte man nicht diesen frech-aufrichtigen, herrlich-schamlosen Kerl Casanova, der hier allerhand Vorhänge hebt, so fehlte der Weltliteratur ein vollkommen ehrliches und durchaus komplexes Bild der männlichen Geschlechtlichkeit. Bei ihm sieht man endlich einmal das ganze sexuelle Triebwerk der Sinnlichkeit in Funktion, die Welt im Fleische auch dort, wo sie schmierig, schlammig, sumpfig wird. Casanova sagt in sexualibus nicht nur die Wahrheit, sondern – unausmeßbarer Unterschied! die ganze Wahrheit seiner Liebeswelt allein ist wahr wie die Wirklichkeit.

      Casanova wahr? – ich höre die Philologen entrüstet aufrücken von ihren Stühlen, haben sie doch in den letzten fünfzig Jahren Maschinengewehrfeuer nach seinen historischen Böcken geschossen und manche fette Lüge zur Strecke gebracht. Aber gemach nur, gemach! Zweifellos hat der gerissene Falschspieler, dieser berufsmäßige Lügenpeter und Radamonteur auch in seinen Memoiren die Karten etwas künstlich gemischt, il corrige la fortune, und gibt dem oft schwerfälligen Zufall geschwindere Beine. Er schmückt, garniert, pfeffert und würzt sein aphrodisisches Ragout mit allen Ingredienzien einer durch Entbehrung aufgepulverten Phantasie, vielleicht sogar, ohne es immer selbst zu wissen. Nein – einen Fanatiker der Einzelwahrheit, einen verläßlichen Historiker darf man in ihm nicht suchen, und je genauer die Wissenschaft unserm guten Casanova auf die Finger paßt, um so tiefer kommt er in die Kreide. Aber alle diese kleinen Schwindeleien, chronologischen Irrtümer, Mystifikationen und Windbeuteleien, diese willkürlichen und oft sehr begründeten Vergeßlichkeiten zählen nichts gegen die ungeheure und geradezu einzige Wahrhaftigkeit der Lebenstotalität in diesen Memoiren. Zweifellos hat Casanova von dem unbestreitbaren Recht des Künstlers, Zeitliches und Räumliches zusammenzuziehen und Geschehnisse sinnlicher zu machen, im einzelnen reichlich Gebrauch gemacht – aber was tut’s gegen die ehrliche, offene, augenklare Art, mit der er sein Leben und seine Zeit als Ganzes ansieht. Nicht er allein, sondern ein Jahrhundert steht plötzlich springlebendig auf der Bühne, wirbelt in dramatischen, von Kontrasten knisternden, elektrisch geladenen Episoden alle Schichten und Stände der Gesellschaft, der Nationen, alle Landschaften und Sphären kunterbunt durcheinander, ein Sittenbild und Unsittenbild ohnegleichen. Denn der scheinbare Defekt, daß er nicht profund in die Tiefe hinablotet, macht seine Schauart so dokumentarisch für das Kulturelle; Casanova zieht nicht aus der Fülle begrifflich die Wurzel und entsinnlicht dadurch die Summe der Erscheinungen, nein, er läßt alles locker, ungeordnet, in dem lebensechten Nebeneinander des Zufalls, ohne zu sortieren, zu kristallisieren. Alles liegt bei ihm auf der einen und gleichen Linie der Wichtigkeit, sobald es ihn nur amüsiert – das einzige Werturteil seiner Welt! – er kennt kein Groß und Klein, weder im Moralischen noch im Wirklichen, kein Gut und Böse. Darum wird er das Gespräch mit Friedrich dem Großen nicht um ein Haar ausführlicher oder ergriffener schildern als zehn Seiten vorher das Gespräch mit einer kleinen Hure, mit gleicher Sachlichkeit und Gründlichkeit das Bordell in Paris beschreiben wie den Winterpalast der Kaiserin Katharina. Ihm erscheint ebenso belangreich, wieviel hundert Dukaten er im Pharao gewonnen oder wie oft er in einer Nacht mit seiner Dubois oder Helene Sieger blieb, als die Konversation mit Herrn Voltaire der Literaturgeschichte zu bewahren – keinem Ding der Welt hängt er moralische oder ästhetische Gewichte an, und darum bleibt sie dermaßen herrlich im natürlichen Äquilibrium. Gerade, daß Casanovas Memoiren intellektuell nicht viel mehr sind als die Notizen eines klugen Durchschnittsreisenden durch die interessantesten Landschaften des Lebens, macht zwar kein Philosophikum aus ihnen, aber zugleich einen historischen Baedeker, einen Cortigiano des 18. Jahrhunderts und eine amüsante Chronique scandaleuse, einen vollkommenen Querschnitt durch den Alltag eines Weltalters. Durch niemand besser als durch Casanova kennt man das Tägliche und damit Kulturelle des 18. Jahrhunderts, seine Bälle, Theater, Kaffeehäuser, Feste, Gasthöfe, Spielsäle, Bordelle, Jagden, Klöster und Festungen. Man weiß durch ihn, wie man reiste, speiste, spielte, tanzte, wohnte, liebte, sich amüsierte, die Sitten, die Manieren, die Sprechart und Lebensweise. Und zu dieser unerhörten Fülle der Tatsachen, der praktisch sachlichen Realitäten tritt dann noch dieser ganze wirbelnde Tumult von Menschenfiguren, genug, um zwanzig Romane zu füllen und eine, nein zehn