Stefan Zweig

Gesammelte Werke von Stefan Zweig


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erwacht war.

      Auch der alte Maler fühlte, daß ihn ein voreiliges Vertrauen betrogen hatte, aber es war nicht die erste Enttäuschung seines langen suchenden Lebens, das nur Treue und Vertrauen war. So kam ihn kein Schmerz an, sondern nur Erstaunen und dann wieder fast Freude über ihre rasche Beschämung. Sanft faßte er ihre beiden schmalen Kinderhände, in denen noch das Fieber glühte. »Esther, du hast mich beinahe erschreckt mit deiner jähen Aufwallung. Ich meine es doch nicht schlecht mit dir. Oder denkst du das?«

      Sie schüttelte beschämt ihren Kopf, um sich im nächsten Momente wieder aufzurichten. Und ihre Worte wurden beinah wieder trotzig:

      »Aber ich will keine Christin sein. Ich will nicht. Ich« – sie würgte an dem Worte lange, ehe sie es mit gedämpfter Stimme sagte – »Ich… Ich hasse die Christen. Ich kenne sie nicht, aber ich hasse sie. Was Ihr mir gesagt habt von der Liebe, die alle umfaßt, ist schöner, als jedes Wort, das ich in meinem Leben je erhört. Aber die Menschen um mich sagen auch, daß sie Christen sind, aber sie sind roh und gewalttätig. Und… ich weiß nicht mehr alles klar, es ist schon zu lange her… aber wenn wir zu Hause von den Christen sprachen, so war eine Angst und ein Haß in den Worten… Alle haßten sie… Und ich auch… Denn wenn ich mit meinem Vater ging, so schrieen sie uns nach und einmal warfen sie Steine nach uns… Mich selbst hat einer getroffen, daß ich blutete und weinte, aber mein Vater zog mich ängstlich fort, als ich nach Hilfe schrie… Mehr weiß ich nicht von ihnen… Doch, ich weiß noch… Unsere Gassen waren dunkel und eng, wie die hier, wo ich wohne. Und nur Juden wohnten darin… Aber drüben die Stadt war schön. Ich habe sie einmal hoch von einem Hause gesehn… Ein Fluß war darin, der so blau und klar vorüberfloß und drüben eine breite Brücke, auf der Menschen in hellen Gewandungen gingen, wie ihr mir sie auf den Bildern gezeigt habt. Und die Häuser waren mit künstlichen Figuren geschmückt und mit Gold und Giebeln verziert. Dazwischen standen hohe, ach, so hohe Türme, in denen die Glocken sangen, und die Sonne kam herab bis in die Straßen. Es war alles so schön… Als ich aber meinem Vater sagte, er möge hinübergehn mit mir in die helle Stadt, da wurde er ernst und sagte: ›Nein, Esther, die Christen würden uns töten‹… Ich erschrak bei dem Wort… Und seitdem haßte ich die Christen…«

      Sie hielt inne in ihren Träumen, denn es ward wieder alles licht in ihr. Was sie längst vergessen hatte, was verstaubt und verschleiert in ihrer Seele gelegen, funkelte wieder auf. Sie ging wieder die dunklen Ghettogassen entlang bis zu dem Hause. Und mit einem Male waren Zusammenhänge da, alles wurde so klar, und sie erfaßte, daß was sie manchmal für einen Traum hielt, Wirklichkeit und vergangenes Leben war. Mühsam hasteten die Worte den klaren vorübereilenden Bildern nach.

      »Und damals dieser Abend… Plötzlich riß man mich aus dem Bett… ich erkannte meinen Großvater, der mich in den Armen hielt, mit bleichem zitternden Gesicht… das ganze Haus brauste und zitterte, die Luft war voll Schreien und Lärmen… Aber jetzt dämmert es mir auf, ich höre wieder, was sie schrieen: die Fremden, die Christen… Mein Vater schrie es oder meine Mutter… Ich weiß nicht mehr… Mein Großvater trug mich hinab in die Dunkelheit durch schwarze Gassen und Straßen… Und immer das Lärmen und derselbe Schrei: die Fremden, die Christen… Wie hab’ ich das vergessen können!?… Und dann ein Mann, mit dem wir gehen… Ich weiß nicht mehr, ich glaube, ich schlief… Als ich erwachte, waren wir tief im Land, mein Großvater und der Mann, bei dem ich lebe… Die Stadt sah ich nicht mehr, aber der Himmel war sehr rot, dort, von wo wir gekommen… Und wir reisten weiter…«

      Wieder hielt sie inne. Die Bilder schienen sich zu verlieren, langsamer dunkler zu werden.

      »Ich hatte drei Schwestern… Sie waren sehr schön, und jeden Abend kamen sie an mein Bett und küßten mich… Und mein Vater war groß, ich reichte nicht hinauf zu ihm, und so trug er mich oft in seinen Armen… Und meine Mutter… Ich habe sie nie mehr gesehen… Ich weiß nicht, was mit ihnen ist, denn mein Großvater sah weg, wenn ich ihn fragte und schwieg… Und als er starb, wagte ich niemanden zu fragen…«

      Und wieder hielt sie inne. Ein Schluchzen brach aus ihrer Kehle mit weher Gewalt. Ganz leise fügte sie bei:

      »Jetzt weiß ich alles… Wie konnte das alles so dunkel sein für mich? Mir ist, als stände mein Vater neben mir und spräche das Wort, das er damals mir zur Antwort gesagt – so deutlich klingt es in meinen Ohren… Nun frage ich niemanden mehr…«

      Ihre Worte wurden Schluchzen, stummes trostloses Weinen, das in ein tiefes trauriges Schweigen verklang. Das Leben, dessen helles Bild sie noch vor wenigen Minuten verführt, gähnte ihr nun wieder dumpf und dunkel entgegen. Und der alte Mann hatte längst Absicht und Ziel vergessen über der hingegebenen Betrachtung dieses Schmerzes. Stumm stand er vor ihr, und ihm war so weh, als müßte er sich zu ihr setzen, um mit ihr zu weinen, was er nicht in Worten sagen konnte: daß seine große Menschenliebe diesen Schmerz in ihr, den er unbewußt erweckt, fühlte als eine Schuld. Erschauernd spürte er die Fülle von Segen und lastender Schwere, die in einer Stunde sich die Hände reichten, und die schweren Wogen, die sich auf und nieder senkten, und von denen er nicht wußte, ob sie sein Leben erheben wollten oder in die drohenden Tiefen ziehen. Aber er fühlte sich matt und stumpf gegen Furcht wie Hoffnung; nur Mitleid für dieses junge Leben erfüllte ihn, vor dem noch so viel Wege und Ziele sich breiteten. Vergebens suchte er nach Worten: sie waren alle so schwer wie Blei und klangen wie falsches Metall. Was wog ihre Fülle gegen den Schmerz einer einzigen Erinnerung?

      Traurig strich seine Hand über ihr zitterndes Haar. Sie schaute auf, verwirrt und zerfahren; mit mechanischer Gebärde ordnete sie sich ihre Haare und erhob sich mit umherirrenden Augen, als müßte sie sich wieder zurechtfinden in der Wirklichkeit. Schlaffer und müder wurden ihre Züge und nur in den Augen flackerte noch der dunkle Schein. Brüsk raffte sie sich zusammen und stieß die Worte rasch hervor, um zu verbergen, daß noch das Schluchzen in ihnen vibrierte. »Ich muß jetzt gehn. Es ist spät. Und mein Vater erwartet mich.«

      Mit harter Gebärde schüttelte sie grüßend den Kopf, raffte ihre Sachen zusammen und wandte sich zum Gehen. Aber der alte Mann, der sie mit seinen sicheren verstehenden Blicken beobachtet hatte, rief sie noch einmal zurück. Mühsam wandte sie sich um, denn in den Augen leuchtete ein feuchter Schimmer von Tränen. Und wieder faßte der alte Mann mit seiner bezwingenden innigen Gebärde ihre beiden Hände und sah sie an. »Esther, ich weiß, du willst jetzt gehen und nicht mehr wiederkommen. Du glaubst mir und glaubst mir nicht, denn eine geheime Angst betrügt dich.«

      Er fühlte, wie ihre Hände sich sanfter und vertrauender in den seinen lösten. Und er fuhr zuversichtlicher fort. »Komm aber wieder, Esther! Wir wollen alle Dinge ruhen lassen, die hellen und die traurigen. Morgen werden wir mit dem Bilde beginnen und mir ist, als wollte es gelingen. Und sei nicht traurig mehr, laß das Vergangene schlafen und rüttle nicht daran. Morgen wollen wir mit neuer Arbeit beginnen und mit neuer Hoffnung. Nicht wahr, Esther?«

      Sie nickte unter Tränen. Und sie trug die Ungewißheit und Bangigkeit vor ihrem Leben wieder nach Hause zurück, wie vordem, nur mit dem Bewußtsein tieferer Fülle und vielfacheren Inhalts, als sie bisher gemeint.

      Der alte Mann blieb in tiefem Sinnen zurück. Der Glaube an das Wunder war ihm nicht fremd geworden, aber das Wunder war ihm viel feierlicher und göttlicher erschienen, da es ihm nur ein Spiel des Lebens von göttlicher Hand dünkte. Und er entsagte dem Gedanken, Glauben an mystische Verheißungen in einem Antlitz aufleuchten zu lassen, dessen Seele vielleicht schon zu verzagt war, um noch zu glauben. Nicht mehr überheben wollte er sich und Mittler Gottes sein, sondern nur schlichter Diener, der ein Bild nach bestem Mühen schafft und es demütig am Altare niederlegt, sowie ein andrer eine Gabe. Er fühlte den Fehler, den Zeichen nachzugehen und sie zu suchen, statt zu warten, bis ihre Stunde käme und sie sich ihm offenbarten…

      Tiefer und tiefer neigte sich sein demütiges Herz. Warum hatte er Wunder wirken wollen an diesem Kinde, die ihm niemand geheißen? War es nicht genug Gnade, daß in sein Leben, das schon leer und kahl wurzelte wie ein alter Stamm, der nur noch mit den Ästen sehnsüchtig ins Blau aufgriff, ein andres junges Leben getreten war, das sich ängstlich und vertrauensvoll an ihn schmiegte? Ein Wunder des Lebens war ihm geschehen, das fühlte er; die Gnade war ihm geworden, die Liebe, die seine späten Tage noch überflammte, geben und lehren zu dürfen,