Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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dieses, sein Kind war nicht blind, es war auf eine andere, geheimnisvollere Art sehend als die gewöhnlichen Menschen. Wir schauen mit Hilfe der Dinge in die Welt, in diesen Augen schimmerte klar das Licht, das wir anderen mühsam und dunkel durch die Formen der Wesen ahnen. Je länger sich Andreas in sie versenkte, desto mehr wurde er von ihnen gefesselt. Sie entrückten ihn in eine andere Welt, und endlich ertrug er es nicht mehr, in sie zu schauen. Es geschah ihm, was er an Johanna nicht begriffen hatte: er mußte die Hand über sie decken. Dann litt es ihn nicht mehr in der Stube und im Hofe. Geräuschlos und mit fliegenden Händen kleidete er sich an und rettete sich weit ins Feld hinaus.

      Als nach dem Erwachen sein Weib das Lager neben sich leer und schon fast ausgekühlt fand, glaubte sie nichts anderes, Andreas sei von dem Unglück des Kindes vor Anbruch des Tages aus dem Bett gerissen und zum Haus hinaus auf eine neue Wanderung von Schenke zu Schenke getrieben worden.

      So rückte der Tag bis hinter den Mittag. Da entschloß sie sich endlich, den alten Knecht ins Mitwissen zu ziehen. Der tröstete sie mit einem spöttischen Lächeln und meinte, es sei nicht schlimm, er habe den Bauer in der ersten Frühe den Hügel in der Richtung nach dem Walde hinuntergehen und vom Dachfenster aus, wo er gestanden und sich angezogen habe, im Felde verschwinden sehen. Vielleicht, wie er grinsend hinzufügte, sei wieder das Treiben über ihn gekommen, und da würde weiter nichts Schlimmes heraushängen. Seine Treue und sein natürlicher Takt hinderten den Menschen, nach dem Grunde des Wirbels zu fragen, der über seinen Herrn gekommen war. Er schlug seine Mütze spaßend aufs Knie, daß eine dicke Wolke Staub herausplatzte, und machte sich ohne Umstände auf die Suche. Er war an den fünf Gebreiten, die sich von der Brindeisenerschen Grenze quer hinzogen, vorübergegangen und hatte die letzte Bodenwelle, die Hohe Kippe, erreicht, von der aus er die große, muldige Wiese übersehen konnte, die sich am Walde hinzog, nur vom Hemsterhuser Wege durchschnürt. Da bemerkte er einen Mann in dem herbstkurzen Grase, nicht allzuweit von dem Saum des Waldes. Er lag hingestreckt und sah, den Oberkörper auf die Ellbogen gestützt, unverwandt und regungslos in den blaßblauen Himmel hinauf, an dem in unendlicher Höhe fortwährend einige weiße Wölkchen träumend zergingen und wieder entstanden. Vorsichtig, immer den Mann im Auge behaltend, stieg er den sanften Abhang auf den Hemsterhuser Weg hinunter, der hier die Höhe erklomm und durch den Wald dem Rheine zu zog. »Heda!« schrie er endlich dem Unbekannten zu und winkte freundlich mit seiner Mütze. Der Ruf traf den Liegenden wie ein Stoß, rollte ihn zusammen und warf ihn dann in ein paar flüchtigen Sätzen durch das Buschwerk in den Wald, aus dem er nicht wieder zum Vorschein kam. Der Knecht streifte wohl eine Stunde unter den Stämmen umher, spähte fleißig aus und rief, wenn er irgendwo ein verdächtiges Geräusch hörte, den Namen des Bauern. Doch als er auf dem Rückwege wieder den Hemsterhuser Weg überschritten hatte und auf der Hohen Kippe sich umdrehte, sah er den Unbekannten in derselben Stellung im Grase liegen und versunken gegen den Himmel starren, als habe er sich nicht vom Flecke gerührt, sondern, unsichtbar gemacht, in diesem närrischen Treiben fortwährend verharrt. Nun kam es ihm vor, als sei der seltsame Mann wirklich niemand als der Sintlinger, aber eine unerklärliche Scheu, fast ein ehrfürchtiger Schauer hielt ihn ab, noch einmal mit lautem Rufen gegen ihn loszufahren. Zu Hause angekommen, verschwieg er, auch der Bäuerin gegenüber, das Erlebnis, sprach nur von seinem zwecklosen Umherstreifen und trödelte sich mit Gemurmel, das den Ton von Trost und Entschuldigung hatte, von Johanna weg zu seiner Arbeit. Das arme Weib beendete nun kummervoll den Tag und gab sich redlich Mühe, wieder einmal mit der Unabänderlichkeit ihres Geschicks fertig zu werden, ohne das Bild Andreas' durch Vorwürfe oder Klagen zu versehren. Doch als sie endlich im Bett lag, glaubte sie in hoher Ferne schwach und dumpf die mitleidslosen Stöße eines Webstuhls zu vernehmen. Mit jedem dieser brummenden, zerflossenen Laute schien die Finsternis um sie schwärzer und dichter zu werden. In ihrer Beklemmung tastete sie nach der Wiege, schwang sie vorsichtig und begann ganz leise und hoch ein Schlummerlied zu singen. Dabei dachte sie fortwährend: Mein Kind ist blind, mein Kind ist blind, und konnte ihre Tränen nicht mehr erhalten.

      Der letzte Ton des Liedes schwebte noch zwischen ihren bebenden Lippen wie der Stiel einer blassen Blume, die sie im Begriff stand fallen zu lassen, da hörte sie ihren Mann heimkehren. Wenn es ihr Herz nicht erlauscht hätte, ihr Ohr würde es nicht erraten haben. So achtsam wurde die Tür bewegt, so gleichmäßig, fast schonend strichen lange Schritte durch den Flur. Nun trat er in die Wohnstube und ging leise bis in deren Mitte. Dort blieb er stehen. Sie hörte ihn laut und stürmisch ein paarmal atmen, wie es jemand vor einem bedeutsamen Vorhaben befällt. Obwohl Johanna nun wußte, daß er nicht trunken sei, ging ihr Herz plötzlich wie ein fallendes Blatt vor der tieferen Sorge, den Mann regiere die wache Wut. Und wirklich. Schon ging die Tür lautlos, stand lauernd still, und vor der Öffnung, die als finstere Schlucht sich aus der Nacht heranschob, sah sie langsam das blasse Gesicht ihres Mannes auftauchen und witternd, wie vor dem Anspringen, eine Weile stillhalten. Sie kam entsetzt in die Höh und mußte ihren erschlaffenden Körper mit versteiften Armen stützen. Da, wie wußte sie nicht, lag der Sintlinger an ihrer Brust und schnürte seine Arme wie Seile um sie und atmete erstickt und kochendheiß an ihrem Halse hin. Er sprach stoßend und endlos, aber sie verstand nichts als den seligen Wirbel, von dem sie durch seine Worte aus ihrem Verzagen emporgerissen und fortgetragen wurde. Auf einmal löste er die Arme, bettete sein Weib behutsam aufs Lager, entkleidete sich schweigend und legte sich nieder. Obwohl Johanna nicht nach ihm hinsah, spürte sie doch, daß er auf dem Rücken lag und mit weiten Augen in die Nacht starrte. Nach langem sagte er erschüttert und fast unhörbar: »Ich habe kein Kind, ich habe einen Engel.« Dann drehte er sich um und schlief ein.

      Fünftes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Von nun an betrugen sich die beiden Menschen nicht anders, als seien sie von einem tiefen Strom ergriffen und weit von ihrem alten Leben in ein neues Dasein getragen worden. Besonders der Sintlinger ging wie von schwerem Segen durchglänzt dahin. Er hütete das Geheimnis, von dem sein Kind eingesponnen war, als sorge er, daß der Zauber ihres Lebens von dem Wissen und den Worten der Menschen gestört werden könne. Die Umgebung erfuhr nichts von dem Zustande der kleinen Helene als die große Milde, die nach dieser Fügung sich des Sintlingers bemächtigte, den heiteren Ernst seines Fleißes und die fast scheue Zärtlichkeit, mit der er seine Frau umgab. Er bewegte sich in den Gesetzen der neuen Erde, die das Schicksal seines Kindes ihm unter die Füße geschoben hatte, als sei neben seinen Schritten nie ein Halm Taumellolch oder ein Stengel Bocksbart gewachsen, sondern als hätten sogar jene Steine noch ein tröstliches Lied gesungen, über die er gestolpert war. Allerhand Gerüchte brauten durch das Dorf, die, bald in Bosheit, bald in Schadenfreude, an dem Grunde herumtasteten, durch den sein Leben aus den alten Brauseangeln gehoben worden war. Man redete von einem blutigen Streit, in den er von der Trunkenheit gerissen worden war; von einem Vergehen an einem zarten Mädchen; einem wucherischen Geschäft, dessen verderbliche Folgen er hart vor der Gefängnistür unter einem Sack voll Gold begraben habe, und wollte gar von ehelichem Streit und einem nächtlichen Entweichen der entsetzten Bäuerin wissen.

      Der Sintlinger ließ diese schmutzigen Wolken des Argwohns ruhig um seinen Hof spielen, ging sicher und voll freundlicher Würde seinem Geschäft nach und gab sich dem Zuge seines neuen Wesens hin. Alte, gebrechliche Leute, Kinder, die zu schwere Lasten trugen, lud er von der Straße auf seinen Wagen und fuhr sie wohl gar, oft genug auf Umwegen, bis vor die Türen ihrer Häuser.

      Selbst dem Glöckchenhorcher aus Hemsterhus, jenem einfältigen Menschen, der durch die Geschwätzigkeit über unirdische Gesichte, die er gehabt haben wollte, so viel zur Schädigung des Sintlingerschen Rufes beigetragen hatte, erwies er ohne einen Schatten von Überwindung Gutes. Ja, als an einem regnerischen Herbsttage der halbsinnige Mensch, in zerschlissener Kleidung, frierend vom langen Bettelgange auf grundlosen Wegen, ermattet an das Hoftor klopfte, wies er ihn nicht ab, sondern schob den alten Knecht unsanft zur Seite, der eben darüber her war, den ärgerlichen Trottel mit einem kräftigen Schupfer über den Hügel hinunter neben die Kropfweiden zu spedieren. Liebevoll zog er den furchtsam Ächzenden ins Haus, stopfte ihm eine tüchtige, warme Mahlzeit in den Leib und ließ ihm außerdem aus einem alten Anzuge und allerhand Wäsche ein gewichtiges Bündel schnüren. Kein Bittender, und mochten es notorische Trinker oder professionelle Sonnenbrüder sein, ging unbeschenkt