Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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Johanna konnte ohne Empfindung eines gewissen Grauens nicht auf ihn sehen. Er kam ihr unheimlich, fremd vor, fast wie einer, der seine Seele gewaltsam aus sich herausgedrängt hat und nun erstorben hinter ihr herjagt, sie wieder einzuholen, koste es, was es wolle.

      Nach zweistündiger scharfer Fahrt hatte man den Bahnstrang erreicht, der von Bocholt herunterkommt. Schweigsam wurde die Übersiedlung auf den Zug bewerkstelligt. Dann trat der Bauer noch einmal rasch an den Knecht heran, der auf dem Bock Platz genommen hatte und sich eben nach der Peitsche neigte, um zurückzufahren. »Du weißt noch alles, was ich dir gesagt habe?« fragte er und sah ihn drohend an. Der Alte nickte nur, lüftete den Hut und ließ die Pferde traben. Andreas sprang auf den Zug und zog sich sogleich wieder in seine innere Ferne zurück, in der er fast auf der ganzen Fahrt verweilte. Kein Disput über die Wahl des Arztes, über dessen mutmaßliche Diagnose und die sich daranschließenden möglichen Maßnahmen, kein Versuch, einander wenigstens durch den Klang der Worte zu Hilfe zu kommen. Johanna machte ein paarmal einen Anlauf, durch Reden der Beklommenheit ihres Herzens zu entrinnen. Der Sintlinger schloß jedesmal als Antwort nur die Augen, lehnte sich zurück und schüttelte abwehrend dm Kopf. Wie man ein gespanntes Pistol, immer den Finger am Abzug, mit sich herumträgt, so verwahrte er seinen unabwendbaren Vorsatz hinter einem Schweigen, das auch ohne jede Freundlichkeit gegen sich war. Ein kühles, mitleidsloses Warten war es, das ihn mitten im Licht in Dunkel und Drohen einhüllte, aber ein Drohen nur gegen ein Unbegreifliches, das im Leeren, wie hinter dem Himmel, auf ihn lauerte. Gegen sein Weib hin wirkte die verfinsterte Abgeschlossenheit als unausgesprochene Versicherung tiefer Liebe.

      Nur der Bahnhofstrubel erst in Wesel und dann in Dorsten vermochte auf Augenblicke dem Sintlinger etwas von dem alten Wesen zurückzugeben. Dann lief er mitten in den Strom der ab- und zuhastenden Reisenden, schob sich absichtlich in zusammenballende Knäuel, teilte mit den Ellenbogen Püffe und Stöße aus, schreckte Andringende durch das Lodern seiner Augen aus dem Wege und sog aus den Gesichtern der Entgegenkommenden so viel von unruhiger Hoffnung, lachender Entschlossenheit und sorglosen Übermutes, daß seine Wangen sich röteten. Johanna saß mit Helene auf der Bank vor dem Wartesaal und sah dem Treiben ihres Mannes leidvoll zu. Er beruhigte sie zwar bei der Rückkehr mit der Ausrede, daß er sich habe nach der Abfahrt des Zuges erkundigen müssen, verlor aber schon beim Sprechen jeden Anflug erborgter Fröhlichkeit, und als sie im Zuge saßen, kroch er wieder ganz in seine innere Ferne zurück.

      Einmal nur während der Fahrt wurde er aus dieser Vertriebenheit ins Dunkel herausgelockt. Hinter Haltern war es. Der Zug schien, knatternd und keuchend, in der eintönigen Ebene auf derselben Stelle stehenzubleiben, als fresse er sich mit seinen Rädern in den Boden. Hügel tauchten in großer Ferne auf. Erst schielten sie, klein und furchtsam, über den Horizont, als wagten sie sich wegen des Räderlärmes nicht heran. Auf einmal jedoch setzten sie sich alle in Bewegung und wanderten ruckend, aber lautlos, immer näher heran. Jeder schwenkte auf seinem Rücken einzelne Bäume gleich grünen Fahnen, und endlich war der Zug von ihnen umringt. Sein Brausen, das ihn ganz einhüllte, klaffte auch manchmal im Winde auseinander, und man hörte, daß die ganze Maienluft da draußen zum Bersten mit Lerchenliedern gefüllt war. Krähen gingen durch die junge Saat. Doch man sah nur ihre Köpfe wie kleine, schwarze Kugeln wackelnd über die grüne Fläche rollen. Hoch am Himmel stand ein Schwarm weißer Wölkchen, die unbeweglich auf die Erde herunterlauschten.

      Die Umgebung trug so ganz die Züge seiner Hemsterhuser Heimat, daß Andreas einen Augenblick seiner inneren Finsternis entzogen wurde. Er machte Johanna darauf aufmerksam. Sie sahen beide hinaus, und während sie schauten, kam ein glühendes Fieber über die hohen Wölkchen. Sie begannen reißend schnell in den Himmel zurückzufallen, wurden kleiner und kleiner und waren spurlos verschwunden, ehe die beiden ein zweites Mal mit den Augen gezwinkt hatten. Dieser Vorgang ereignete sich so unvermutet, daß der Bauer und die Bäuerin tief Atem holten. Johanna lächelte unwillkürlich. Der Sintlinger aber saß mit traumdunklen Augen da, und als sein Weib ihn fragte, was es gäbe, antwortete er, sich vergessend: »So wie die Wolken ... wenn's schon sein müßte, das Sterben wäre schön.«

      Da erkannte sein Weib, an welchem Abgrund ihr Mann mit sehenden Augen stand, beherrschte sich aber und gab sich den Anschein, als ahne sie noch immer nichts von seiner inneren Verfassung. Sie bat nur in eindringlicher Güte, ihr mit solchen Worten nicht mehr wehe zu tun. Dabei legte sie nach ihrer Gewohnheit die Hand auf seine und sagte: »Nicht wahr, Andreas, so was sagst du nie mehr? Denn wer die Nacht durchaus will, den überfällt sie unvermutet mitten im hellen Tage.«

      Im stillen nahm sie sich vor, ihren Mann nicht mehr aus den Augen zu lassen.

      Nun rollte der Zug durch die langweilige Münstersche Fruchtebene. Sümpfe mit ihrem dichten Buschwerk traten bis hart an den Bahnstrang, und endlich erschien am fernen Horizont die alte Bischofsstadt. Als der Sintlinger sie schwarz und zackig aus der rötlichen Abendluft auftauchen sah, flog ein Zug grimmiger Feindseligkeit über sein Gesicht. Er murmelte etwas und sah zur Seite. Sie nahmen nicht weit vom Romberger Hof in einem kleinen Hotel Wohnung, in dem die Bauern bei ihrem Besuch der Hauptstadt abzusteigen pflegten und dessen Name dem Sintlinger von seinem Vater her bekannt war. Wie der Bauer während der ganzen Fahrt an seinem Weib und Kinde vorübergesehen hatte, wohl um durch den Anblick seiner liebsten Menschen nicht von dem verborgenen Entschluß abgebracht zu werden, so behandelte er sie auch jetzt gelassen, aber aus der Ferne, führte sie nach einem einfachen Imbiß auf das angewiesene Zimmer und ging dann, um einen Arzt ausfindig zu machen, der vertrauenswürdig genug war, über den Zustand seines Kindes und damit über sein eigenes Leben zu entscheiden. Das Glück führte ihn günstig, und nach manchem Hin- und Widerlaufen stand er in der Ägidistraße vor dem hohen, prächtigen Hause jenes großen Doktors, der nach seiner gewalttätigen Einbildung in der alten Bischofsstadt leben mußte. Das vornehme Gebäude gehörte dem Doktor Flöreck, einem in jener Zeit weit über Westfalen hinaus berühmten Augenarzt, der von einem thüringischen Fürsten wegen einer beispiellos kühnen Operation an einer Prinzessin den Professorentitel erhalten hatte. Der Sintlinger drang mit dem Ungestüm seines leidenschaftlichen Naturells an den letzten Patienten vorbei durch das Wartezimmer in den Sprechraum des Professors und brachte, plötzlich von tiefem Bangen erfaßt, sein Anliegen in einer Art schmerzlichen Trotzes vor. Doktor Flöreck, ein überaus schlanker, schweigsamer Mensch, nickte nachsichtig lächelnd über das Betragen und die Weise der Erzählung Andreas', und als der Bauer geendet hatte und nun bebend mit verdunkelten Augen in dem bleichen Gesicht dastand, schaute er ernst über den kleinen, sehnigen Mann hin, trat an ein Fenster und sah hinaus auf das abendliche Treiben der Straße. Dann ging er an seinen Schreibtisch, nahm einige Zettel auf, las sie gedankenvoll und händigte dem Sintlinger endlich eine Karte mit dem Bemerken aus, sich morgen früh um acht Uhr mit der Kranken hier einzufinden und das Kärtchen dem Fräulein am kleinen Tisch im Vorzimmer zu übergeben.

      Als Andreas nach Hause kam, saß Johanna, die fortwährend in Unruhe nach ihm ausgeschaut hatte, mit Helene in der dunkeln Stube am Fenster. Das Kind horchte mit großen, ängstlichen Augen in den Lärm, der von überallher um das Haus wogte, und da nun die Glocken alle zu läuten anfingen, grub es sich weinend in die Mutter hinein.

      Am andern Morgen überfielen den Sintlinger im Wartezimmer des Doktors seine Verfinsterungen wieder tiefer. Denn als er ankam, war der lange, schmale Raum, der nur durch ein einziges, wenn auch hohes Fenster Licht erhielt, von Menschen fast voll, und es herrschte eine beklemmende Stille, wie sie das schmerzvolle Hoffen vieler Halbverzagten hervorbringt. Der Sintlinger wurde mit den Seinen ziemlich weitab vom Eingang zum Ordinationszimmer gewiesen und nahm sein Kind wie schützend zwischen sich und seine Frau: Er verhielt sich den Anwesenden gegenüber in einer Art feindseliger Ablehnung und saß mit zur Erde gekehrtem Gesicht da. Doch wenn er sich aufrichtete, kam es immerhin vor, daß er wider Willen auf die Umhersitzenden einen Blick werfen mußte.

      Manche saßen, wie zum Aufspringen bereit, zusammengebogen auf der äußersten Stuhlkante und tasteten mit zitternder Hand von Zeit zu Zeit an der schwarzen Binde umher, die über ihren Augen lag. Andre hielten sich unbeweglich in der steifen Haltung der schon völlig Erblindeten auf ihrem Sitz und fühlten manchmal, von plötzlicher Furcht überfallen, nach ihrem Begleiter, der gleichgültig neben ihnen Platz genommen hatte. Er sah in Augen, die wie tote Milchkugeln in den Höhlen standen, und wieder andere hingen gleich blutigen Blasen zwischen den Lidern. Am liebsten hätte er das Gesicht seines Kindes