Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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war die Finsternis vor seinen Augen ganz rot vom Zorn der Seele. Die Gestalten seines Handels mit dem Freirichter liefen auf und ab vor ihm, und er redete zu ihnen von der Kommission, die in den nächsten Tagen eintreffen und die Begrenzung untersuchen sollte. Er redete zu ihnen kochende Worte, wilde, haßerfüllte Laute. Allmählich kam ein Schaukeln über ihn, aus dessen Stößen Schatten quollen, die langsam alles verhüllten. So schlief er ein. Da war es ihm, als nähere sich von ferne das satte Rauschen, das dem Regen vorhergeht, und es kam näher und hörte sich an, als sei manchmal das Klatschen fallender Tropfen darunter. Er tat das Ohr seines Traumes ganz weit auf und überzeugte sich, daß er sich nicht getäuscht habe. Ganz deutlich rieselte das Rauschen über sein Dach, und die Tropfen sielen durch das trockene Geblätter, erst einzeln, dann schneller und häufiger, bis sie jenes Summen hervorbrachten, mit dem ein gut eingerichteter Landregen herniedergeht. Und wie er voll Glück doch zweifelte, um wieder eigen hinhören zu können, vernahm er langgedehntes Klagen, wie es dem Munde von Kindern entströmt, die schon müde vom Weinen sind. Es wandelte wohl jenseits der Mauer auf und nieder, manchmal von den Stößen des wuchtenden Windes verschlungen, manchmal deutlich vernehmbar, wenn auch nicht stärker.

      Der Instinkt der Furcht riß den Halbwachen in die Höhe und setzte ihn aufrecht ins Bett. Gespannt, eine halbe, betäubende Ahnung in der Seele, lauschte er hinaus.

      Alles vollständig still. Kein Regensummen, kein Tropfenfall, kein Rauschen über dem Dachfirst. Es war alles Täuschung gewesen.

      Exner schüttelte verwundert den Kopf darüber, daß der Mensch so deutlich träumen könne, und war eben im Begriff, sich wieder in die Kissen zu legen, als dieses eigentümliche Klagen wieder begann: wie verschmachtend, im Zittern großer Angst verloren, dann schluchzend, als schlürfe ein Ertrinkender Wasser, und dann in wirren Lauten der Verzweiflung hinbrodelnd. Wahrhaftig ... nun stand es gar unter seinem Fenster, und die seltsamen Töne strebten an den Scheiben empor wie vibrierende blasse Geistersinger.

      Darauf entfernte es sich.

      Nun wimmerte es in der Stube, nun auf der Stiege zur Sommerstube, nun über ihm auf dem Boden. Dabei war es, als schlürften weichsohlige Schritte auf und nieder. Dem Lahmen pochte das Herz. Er sank um, vergrub das Haupt in den Kissen, drückte die absterbenden Fäuste an die Schläfe und murmelte in kalter Angst: »'s Klagemütterla. Das is 's Klagemütterla. Was wird's och bloß noch alles haben ei meim Hause.«

      Der graue, rätselhafte Geist, an dessen Dasein noch so viele Grafschafter glauben, hatte sich bei ihm eingestellt. Sein Wimmern verkündet Verlust, Krankheit, Tod, alles Elend. Mit langen Gewändern angetan, das Gesicht verhüllt, schlürft es auf und ab. In die Höhen, aus denen es stieg, entschwebt es wie ein Schatten, der entsteht und vergeht, und läßt nichts zurück als unsichtbare Gleise, denen das verfemte Menschenleben zur Qual unrettbar verfällt.

      Lange lag der Lahme in eisiger Betäubung, über seinen Körper liefen Schauer.

      Ein milder Laut, der aus der Wohnstube drang, brachte ihn jäh zur Besinnung. Ohne sich anzukleiden, sprang er auf und riß die Tür auf. Die Petroleumlampe war ausgelöscht, dafür brannte das Ampelchen vor dem Muttergottesbilde in der Ecke. Sein rötlicher Schein floß nieder und breitete sich wie erstes Morgenglühen über sein Weib hin, das auf den Knien davor lag und die Hände zum Gebet erhoben hatte.

      Sie kehrte ihm ihr bleiches Antlitz zu und sah ihn mit schimmernden Augen fragend an.

      Der Klumpen bot einen wilden Anblick: seine Haare hingen wirr in das Gesicht, das noch entstellt war von dem Schrecken; sein Auge stammte. Marie konnte den Anblick nicht ertragen und wandte ihr Gesicht ab.

      »Hast du's gehört?« fragte er bebend.

      »Was denn?«

      »Du willst noch streiten!«

      »Ich weeß vo nischt; ich hab' gebet't, du siehst ja.«

      »Du – du – erst steckste mit'm Freirichter unter eener Decke, danach –«

      »Ich!«

      »Ja, du! Was brauchst du vorm Freirichter Angst zu haben wegen den Pappeln, und solche Zettel schreibste!«

      »Ich, een Zettel schreiben!«

      »Du hast den Zettel geschrieben: ›Zum Freirichter Exner‹, du, sonst niemand.«

      Da sprang das junge Weib auf und trat vor ihn hin.

      »Du bist mei Mann, und ich sollte dich schlecht machen?«

      »Dei Mann? Der Klumpen bin ich dr, über den du dich immer lustig gemacht hast. Ich bin kee Zaunpfahl, wenn de mich geschnitten hast, ich hab' wohl geblut't.«

      Nun sagte er den Grund seines Mißtrauens gegen Marie. Diese senkte schuldbelastet ihr Auge.

      Das stumme Geständnis eiferte den Zornigen noch mehr an.

      »Das haste all's getan!« schrie er. »Und jetze knieste hin und betest mir's Klagemütterla of a Hals! Runter mit der Tocke vom Brette, runter, bale räumste alles naus!«

      »Das bleit, das is mei Gott!«

      Marie trat dem Wütenden fest entgegen und breitete ihre Arme schützend aus.

      »Dei Teufel is!«

      Er stieß sie zur Seite, daß sie gegen den Ofen taumelte.

      »Ich bin Mutter, Karl«!« schrie sie und raffte sich von dem Falle wieder auf.

      Der Lahme aber ließ sich nicht hindern, ergriff seinen Knotenstock, sprang in die Ecke und hieb mit einem Schlage Eckbrett, Muttergottes, Engel und Lämpchen unter den Tisch.

      Nachdem er so die Mächte in Trümmer geschlagen hatte, mit denen sein Weib im stillen gegen ihn im Bunde war, redete er auf das leise Schluchzen in die Nacht hin: »Und daß ich das nich mehr seh' ei meiner Stube!« und kehrte in die Schlafkammer zurück.

      Marie rührte sich nicht auf der Ofenbank, wohin sie gesunken war.

      Sie hatte die Hände vor das Gesicht gepreßt, um nicht zu sehen, und heiße Tropfen quollen zwischen den Fingern hervor. Trotz einer wirbelnden Betäubung, die auf ihr lag, sah sie unverrückbar in der Finsternis vor sich eine häßliche, drohende Männergestalt mit langen, mageren Beinen, Armen, die bis weit über die Hüften hingen, einen unförmlichen Kopf, in dessen Gesichtsrunzeln blinzende Äuglein wie giftige Kröten krochen. Lange spärliche Haare hingen über hüglige Schläfen.

      Sie rang gegen das Bild des Lahmen, das ihre mißhandelten Nerven verzerrt vor sie hinstellten; aber hartnäckig schuf es die Phantasie von neuem, wenn es der Wille kaum unterdrückt hatte.

      Da glitt sie zu Boden auf ihre Knie und betete:

      »Ach du mei himmlischer Gott, zerschlagen liegste eim Staube; aber mei Herze trägt dich wie a linde Tüchla. Du strafst mich harte. Ich wollte Glücke und Geld und a gutes Leben; aber ich weeß wohl, durchs Elende kommt ma zur Freede. Zerbrich mich wie 'ne Schale, bloß über mei Kindla erbarm' dich.« –

      Dann rutschte sie unter den Tisch und sammelte die Muttergottesfigur und die Engel in ihre Schürze. Sie küßte jedes Stück. Darauf tastete sie sich vorsichtig zur Tür hinaus, über die Stiege, auf den Boden und vergrub sie in das Heu.

      Aber die verzerrte Männergestalt wich nicht aus der Finsternis vor ihr. Wie sie auch dagegen kämpfte, im Banne ihrer Häßlichkeit stehend, starrte ihr Geist immer darauf hin, und dieses geheimnisvolle Mark des Lebens, von dem alles ausgeht, prägte sich die Formen der Wahngestalt unter Qualen ein.

      Der würzige Duft des Heues betäubte endlich ihre Sinne, daß sie einschlief.

      13

       Inhaltsverzeichnis

      Exner ging einige Tage unter dem Einfluß, den das Erscheinen des Klagemütterchens auf ihn ausgeübt hatte, wie zerschlagen umher. Wenn er zur Arbeit schritt, so sagte er sich, es nutzt nichts, es geht alles verloren. Dann fiel ihm jede Bewegung schwer, als liege