Hermann Stehr

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen


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      Der milde, stille Mensch stand noch auf der Schwelle, als Kathe ihm das entgegenrief, ohne auf seinen Gruß zu antworten. Dann erzählte sie alles.

      »Das derf nich sein. Das wär' ee Mord of a andern, das derf nich sein«, sagte er hastig nach einem Zuhören, das durch Ausrufe und erschreckte Gebärden noch eindringlicher geworden war.

      Sie gingen auf eine Verständigung durch die Augen an das Bett der Armen und redeten mit dringenden, bittenden Worten auf sie ein.

      Allein das fahle Gesicht regte sich nicht, das Auge blieb geschlossen, der Mund zusammengepreßt, als liege da nicht ein lebendiger Mensch auf dem Lager, als sei das verwitterte Steinbild einer jener Frauen, die in tiefster Qual unter dem Kreuze stehen, von dem Postament gestiegen und schrecke nun, die Decken um seinen kalten Leib geschlagen, das Mitleid herzlicher Seelen.

      Endlich überkam Joseph der Zorn der Liebe, und er brach ihr mit dem Stiel des Löffels gewaltsam den Mund auf, während Kathe hurtig Milch eingoß.

      Röchelnd stieß sie alles aus.

      »Warum...? Seid'r mr nich gut?« so bat sie hauchend.

      Das waren ihre einzigen Worte; dann lag sie wie immer. Nur als sie das Schlürfen der leise Hinausgehenden hörte, fuhr sie mit ohnmächtiger Hast herum und packte ihre Gestalten mit gierigen Blicken. Kathe bemerkte das und drängte Joseph schnell hinaus, sorgfältig die Tür hinter sich schließend.

      Verlangendes Stöhnen folgte den beiden.

      »Du, Sesse, hast's gehört? Das is das erste seit vier Tagen, der erste Laut. Die stirbt wie dr stumme Ender aus'm Stillergrunde, aus dr Seele her, die de a Magen vergift! Ehe hat se geredt, ehe geht's rasnich bergunter. Alleene blei ich nich. Wenn du nich dableibst, ich lauf' ei der Nacht fort, und wenn ich flugs wer wees wo eim Schnee erstick'.«

      Joseph ließ sich behutsam auf der Bank nieder. »Ja'ch«, sprach er nach einem Sinnen, »es is nich gut alleene, auch für zwee nich. A drittes... aber wer kommt dahier her zum Totenborne, wie's de Leute schon heeßen, kee Mensch mag, der noch was of sei Leben hält.«

      Nachdem er geschwiegen hatte, wartete Kathe lange und sah gespannt nach ihm hin, von dem sie sicher Hilfe erwartete. Der aber schaute trübselig über seine gefalteten Hände hin, fuhr plötzlich auf und schickte die Magd fort.

      Als sie allein waren, fragte Kathe ungeduldig:

      »Was nu?«

      Joseph blickte traurig auf seine Schwester; aber einen Rat gab er ihr nicht, denn er war von dem Unglück zu sehr ergriffen.

      So saßen die zwei mit gesenktem Kopfe da. Die Dunkelheit kam, der Wind seufzte in dem seinen Geäst der kleinen Pflaumenbäume. Das Kind fing an zu schreien. Kathe gab ihm die Flasche, und gurrend beruhigte es sich. Die Nacht lag in der Stube, in der die langen, schweren Atemzüge der beiden ratlosen Menschen die einzigen Laute des Lebens waren. Nun erloschen auch die grauen Flecken der Fenster in dem Schwarzen, und Kathe war es, als sei sie in eine lichtlose Zelle von solcher Enge eingemauert, daß der Atem ihres Mundes warm von der nahen Wand in ihr Gesicht zurückschlage.

      In Angst begann sie laut zu beten. Der Mann fiel mit seiner tiefen Stimme ein. Sie sprachen Vaterunser um Vaterunser, dann alle Gebete, die sie kannten, und wieder Vaterunser, ohne zu zählen, ohne Ruhe immer, immer. Ihre Stimmen wurden trocken, heiser, versagten. Kathe holte Wasser. Sie begannen von neuem, eintönig und leise. Keines wußte mehr, was es sprach, aber sie hörten nicht auf. Sie erschöpften, betäubten sich, nur, um an den schrecklichen Tod nicht denken zu müssen, den das gefolterte Weib da drinnen über sich zwang.

      Als das erste Dämmern des Morgens in die Nacht schwamm, war der harte Wille der Todbereiten doch gebrochen, und mit der letzten Kraft schrie sie nach dem Leben.

      Die Betenden eilten mit einem Licht hinzu und sahen Marie, zu einem Knoten zusammengezogen, mit irren Bewegungen gegen ihr Dasein ringen, während der Mund unter unartikulierten Lauten schlürfende Bewegungen machte.

      »Schnell, mach Suppe warm; schnell, schnell! Mir wern's noch amal versuchen!« drängte Joseph.

      Und als er ihren Kopf gehoben und Kathe den Löffel den Lippen nahe brachte, stieß sie Rufe wie ein hungriges Tier aus und drängte nach der Nahrung hin.

      Während sie aß, weinte sie, stammelte Dankesworte und Verwünschungen, warf sich zurück und keuchte empor. Alles, weil sie einsah, daß sie dem Leben unterlegen war.

      Dann sank der Tag vom Dache.

      Joseph ging heim.

      Kathe sah ihm dankbar nach.

      Über Marie war der Schlaf gekommen und wiegte sie auf seinen tiefen, stummen Gewässern dem Leben entgegen. Sie ertrug es mit einem gramvollen Lächeln, das von ihrem Gesichte nicht wich.

      –

      Langsam genas sie. Anfangs aß sie noch oft mit Widerstreben. Bald aber rief sie mit einer marklosen, verschleierten Stimme nach Nahrung und ertrug ohne Zeichen des Schmerzes das Licht der Sonne.

      Sonst blickte sie an allem gleichgültig vorbei und fragte nach nichts Gegenwärtigem, nach nichts Vergangenem.

      Ihr Antlitz war in seiner gleichmäßigen Blässe so regelmäßig, in den tiefen Malen des überstandenen Elends so feierlich-regungslos; ihr Auge so still und klar, doch so ganz des lebendigen Schimmers bar; das pochend Heiße so vollständig aus jeder ihrer Gesten getilgt, daß es Kathe oft vorkam, sie sehe eine unbegreifliche Erscheinung auf einem einsamen Steine, fern von allen Menschen sitzen, bei denen sie einst gewohnt, mit denen sie gelebt, gelacht, gelitten und geweint hatte, der nun aber alle Erinnerung an das frühere Dasein vollkommen abhanden gekommen war; deren Augen nun anders sahen, deren Seele anderes sann, deren Herz nach anderem verlangte.

      Sie führte innen ein gar reges Leben.

      Wenn sie, im Bett sitzend, ihre Mahlzeit eingenommen hatte, verharrte sie wohl eine lange Weile in ratloser Starrheit und blickte bitter irgendwohin, wie ein Mensch zu tun pflegt, den Reue über den aussichtslosen Kampf gegen eingebürgerte Fehler erfüllt. Dann öffneten sich die Lider der leisen Augen weit, als gelte es, ein Unfaßbares zu umspannen, ein Unendliches als Speise in sich aufzunehmen.

      Dieses Fernhinschauen nahm sie zuzeiten so gefangen, daß sie auf alles andere vergaß. Dann ließ sie die gereichten Mahlzeiten kalt werden. Kehrte Kathe nach einiger Zeit wieder, um das Geschirr zu holen, so fand sie die Speise unberührt.

      »Nu, Marie!«, iß och!« mahnte sie.

      »Iß«, entgegnete die Heimgesuchte mit leiser, vibrierender Stimme, »essen, immer essen. Aus Schüsseln ißt das Unglücke, aus Gläsern trinkt das Elende. Essen, essen. – Mensch sein... wie ein dürrer Halmen zerdreht wern... essen und immer essen, mehr wißt ihr nich, ihr Menschen.«

      Und von der Höhe, zu der sie ihren Blick gewandt hatte, ließ sie ihn achtlos an Kathe vorbeisinken und sah, verstummend, wieder in jene Fernen.

      Auch Joseph, den Kathe hatte herbeirufen lassen, brachte aus dem geprüften Weibe »nichts Richtiges« heraus. Sie redete auch in sein Gesicht losgelöste, verschlagene Worte, die seine Seele nicht zu fassen vermochte.

      »Nach, was is das?« fragte ihn die Schwester, als sie wieder in das Wohnzimmer zurückgekehrt waren.

      Der stille Mensch sah bekümmert ins Leere, zuckte die Achseln und fuhr sich seufzend über die Stirn hin. Das Mädchen glaubte, er wolle damit sagen, Marie sei verrückt geworden, fragte aber der Sicherheit halber noch einmal: »Ja du meenst, se zwirnt doppelt, was?«

      »Das eigentlich grade noch nich, Kathe, das – noch nich. Aber 's kann wern. Denn wo haste du solches gelesen und ich – und auch die, die Marie? Das klingt wie der Wind, wie's fließniche Wasser, wie wenn's eim Pusche wiehlt, 's dergreift ees, aber verstehn tut's kee Mensch.«

      »Paß mr uf, Kathe«, begann er wieder nach langem Überlegen, »solche trägt dr Geist, wohl se nich sollen. Lach' nich, oder mit stillem Munde tun se, vr dem andern ei dr Seele graut. Paß mr gut uf of se.«