nach ihm. Das ganze Dorf war tief ergriffen; man suchte überall herum und ließ den Fluß ab nach seiner Leiche. Früh am dritten Tage schlenderte Tom zu ein paar alten, leeren Fässern, die hinter dem jetzt unbenutzten Schlachthause vergessen ihr Dasein fristeten; in einem derselben fand er den Flüchtling. Huck hatte da geschlafen; eben hatte er mit einigen gestohlenen Kleinigkeiten sein Frühstück gehalten und lag jetzt gemütlich da, die Pfeife im Munde. Er war ungekämmt, ungewaschen und in dieselben Ruinen von Kleidern gehüllt, die ihm in den goldenen Tagen der Freiheit und vollen Glückseligkeit ein so pittoreskes Aussehen gegeben hatten. Tom schalt ihn, erzählte ihm von der durch ihn verursachten, Bestürzung und drängte ihn, nach Haus zurückzukommen. Hucks Gesicht verlor seinen ruhig-zufriedenen Ausdruck und wurde immer melancholischer.
„Sag‘ nichts davon, Tom,“ bat er. „Hab‘s versucht, aber ‘s geht nicht, Tom! ‘s ist nichts für mich, pass‘ nicht dafür! Die Witwe ist gut und freundlich gegen mich; aber ich kann‘s nicht aushalten. Jeden Tag weckt sie mich zur selben Zeit, läßt mich waschen — sie schrubben mich noch zu Tode! läßt mich im Bett schlafen; dann soll ich diese verdammten Kleider tragen, die mich ersticken, Tom; sie scheinen gar keine Luft durchzulassen und sind so verteufelt fein, daß ich nicht drin sitzen, liegen, mich nirgends hinwerfen kann. Auf ‘ner Kellertreppe bin ich nicht mehr hinuntergerutscht seit — na, ‘s ist wohl schon Jahre her! In die Kirche gehn soll ich und schwitzen und schwitzen — wie ich diese langweiligen Predigten hasse! Nicht mal ‘ne Fliege fangen darf man, nicht rauchen; dafür soll man alle Sonntage Schuhe tragen! Wenn die Witwe ißt, läutet‘s, wenn sie zu Bett geht, läutet‘s, wenn sie aufsteht, läutet‘s — ‘s ist alles so gräßlich regelmäßig — das halt der Teufel aus!“
„Na, Huck, das muß aber doch jeder.“
„Tom, ich will ‘ne Ausnahme machen; ich bin nicht jeder, ich kann‘s nicht aushalten! ‘s ist schrecklich, so gezogen zu werden. Und ‘s Essen wird einem so bequem gemacht — so macht‘s mir gar keinen Spaß. Soll fragen, wenn ich fischen will, fragen, wenn ich baden will — Herrgott, um jedes und jedes fragen! Na, und dann nicht sprechen dürfen, wie man‘s gewohnt ist. Könnt‘ ich nicht jeden Tag auf den Heuboden und dort ‘n bißchen schwatzen in meiner Manier, ich müßt‘ krepieren, Tom! Die Alte läßt mich auch nicht rauchen und nicht ‘n bißchen brüllen, nicht gähnen — nicht mal kratzen, wenn jemand dabei ist!“ Dann mit einem Ausbruch ganz besonderen Ingrimms: „Und das weiß der Henker — beten tut sie den ganzen Tag! Nie hab‘ ich so ‘n Weib gesehen! Mußte fort, Tom, mußte! — Tom, in all das Elend wär‘ ich nicht gekommen, wär‘ nicht das Geld gewesen! Jetzt sei so gut, Tom, nimm du‘s und gib mir zuweilen zehn Cent — nicht zu oft, denn ich geb‘ nichts um ‘ne Sache, wenn sie nicht schwer zu kriegen ist; und dann — geh‘ hin, bitt‘ mich von der Witwe frei!“
„Ach, Huck, du weißt doch, daß ich das nicht tun kann! ‘s wär‘ unanständig; und dann, wenn du‘s noch ‘ne Weile versuchst, wirst du dich schon dran gewöhnen!“
„Dran gewöhnen! Könnt‘ mich auch wohl an ‘nen heißen Ofen gewöhnen, wenn ich lang‘ genug drauf sitzen müßte! Nein, Tom, ich mag nicht reich sein, und ich will nicht in dem verdammten schläfrigen Hause wohnen. Hab‘ den Wald zu lieb und den Fluß und die Berge — und zu denen will ich zurück! Verdammt! Jetzt, wo wir Geld haben und ‘ne Höhle und alles, was wir als Räuber brauchen, wirft einem so ‘ne verrückte Tollheit alles übern Haufen!“
Tom ersah seinen Vorteil. „Na, weißt du, Huck, das Reichsein hat mich gar nicht davon abgebracht, Räuber zu werden.“
„Nicht! All ihr guten Geister, sprichst du in wirklichem, todsicherem Ernst, Tom?“
„So todsicher, wie ich hier sitze! Aber, Huck, weißt du, wir können dich nicht unter uns aufnehmen, wenn du nicht gut erzogen bist.“
Hucks Freude war schon wieder zu Ende. „Könnt‘s nicht, Tom? Würd‘s nicht als Pirat gehn?“
„Ja, aber das ist ‘n Unterschied. Ein Räuber ist viel was Nobleres, als was so ‘n Pirat ist — für gewöhnlich. In den meisten Ländern sind sie furchtbar nobel! ‘s sind Herzöge dabei und so was!“
„Ach, Tom, du bist doch sonst immer so‘n guter Kamerad gewesen! Du wirst mich doch nicht ausschließen, Tom, nicht wahr? Du wirst doch das nicht tun, Tom —?“
„Huck, ich möcht‘s ja nicht tun — und ich tät‘s auch nicht, aber was würden die Leute sagen? Pah! würden sie sagen — Tom Sawyers Bande! Schön‘ lump‘ge Kerle darunter! Sie würden dabei dich meinen, Huck! Das möchtst du doch nicht, Huck, oder —?“
Huck schwieg eine Weile, in tiefes Nachdenken versunken. Schließlich sagte er:
„Na, dann will ich zur Witwe zurück — auf ‘nen Monat oder so, und sehn, ob ich durchkomm‘ — wenn ich dann eintreten kann, Tom.“
„‘s ist recht, Huck, ist recht! Komm‘ mit, alter Dummkopf, und ich will sehen, ob ich die Witwe bereden kann, dir ‘n bißchen nachzulassen, Huck.“
„Willst du, Tom? Nein, willst du?! ‘s ist wundervoll! Wenn sie mir nur die schlimmsten Sachen nachläßt, will ich heimlich rauchen und fluchen und sehen, daß ich durchkomm‘ — oder krepieren. — Wann willst du denn dran gehen und ‘ne Bande gründen?“
„O, recht bald, Huck. Meinetwegen können wir noch diese Woche die Jungen zusammentrommeln und die Einschwörung vornehmen.“
„Vornehmen — was?“
„Die Einschwörung.“
„Was ist das?“
„Na, halt schwören, zusammenhalten, nie ‘n Geheimnis zu verraten, wenn man auch drum gevierteilt werden sollte — und jeden zu töten, und seine ganze Familie, der was schwatzt.“
„Großartig, Tom — sag‘ dir‘s, einfach großartig!“
„Na, ich glaub‘, ‘s ist‘s! Und das muß natürlich um Mitternacht sein, am einsamsten, schrecklichsten Ort, den man finden kann. Ein Gespensterhaus ist das beste, aber so was gibt‘s ja kaum noch.“
„Mitternacht ist gut, Tom!“
„Ja — ‘s ist gut. Und aufs Schwert schwören mußt du und mit Blut unterzeichnen.“
„Na, das laß ich mir gefallen! ‘s ist ja tausendmal besser, als Pirat sein. Na, Tom, will mich jetzt an die Witwe halten und alles tun, bis ich verfaul‘! Und wenn ich dann mal so ‘n richtiger Räuber bin und alle Welt von mir spricht, denk‘ ich, wird sie noch stolz sein, daß sie mich aus dem Schmutz gezogen hat.“
Schluß.
So endet diese Geschichte. Da es nur die Geschichte eines Jungen sein soll, muß sie hier enden; sie könnte nicht weiter gehen, ohne die eines Mannes zu werden. Wenn jemand eine Erzählung über erwachsene Leute schreibt, weiß er genau, wo er aufzuhören hat — bei der Heirat; schreibt er aber über ein unreifes Kind, so muß er aufhören, wo er‘s für passend hält.
Die meisten der in diesem Buch vorkommenden Personen leben noch, sind glücklich und mehren sich.
Vielleicht erscheint es eines Tages als angebracht, die Geschichte der Jugend wieder aufzunehmen und zu sehen, was für Männer und Frauen aus ihnen geworden sind; darum wird‘s am besten sein, von ihrem jetzigen Leben hier nichts mehr zu verraten.