Bent Ohle

Inseldämmerung


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Und jetzt ab ins Bett. Legt euch hin, und kein Alkohol heute Abend.«

      Brockhaus blickte zu der einzelnen Flasche Bier, die auf dem Fenstersims zur Kühlung stand.

      Sie beendeten das Spiel, und Brockhaus stellte irgendeinen Film im Fernsehen an. Er musste die Lautstärke hochregeln, weil die Stimmen unter ihm nicht nachließen. Die Frau kreischte jetzt nur noch, und es polterte und rumpelte. Es klang, als würde er sie durch die Wohnung jagen.

      Er stand auf, um sich das Bier vom Fenstersims zu holen. Draußen war es kühl, aber immer noch windstill, und er fragte sich, ob das mit dem Sturm vielleicht nur Panikmache gewesen war. Unten ging die Haustür auf, und eine Frau lief schluchzend und sich das Gesicht haltend über den Hof. Dann verschwand sie im Schatten des Vorderhauses, und es war endlich still. Kein Laut war mehr zu hören. In den meisten Fenstern seiner Nachbarn standen Weihnachtslichter, Pyramiden, Sterne und Tiere. Er blickte sich ein letztes Mal um und schloss anschließend das Fenster.

      Gerade als er die Flasche öffnete und zum Trinken ansetzte, stellte sein Untermieter die Musik an. Eine nicht enden wollende Salve an Trommelstößen und Gitarrenriffs, die klangen, als würden sie mit einer Gartenkralle erzeugt werden. Die dumpfe, gutturale Stimme des Sängers erhob sich zu einem unverständlichen Brüllen, und sein Untermieter meinte, dabei »mitsingen« zu müssen.

      Brockhaus stellte energisch sein Bier ab und ging zur Wohnungstür, wo er allerdings zweifelnd stehen blieb. Es war nur diese eine Nacht, die er durchstehen musste, er konnte es sich nicht leisten, jetzt auffällig zu werden, indem er seinem Nachbarn die Meinung sagte. Er dachte kurz an die Waffe, die unter der Decke versteckt auf der Matratze lag, schüttelte dann aber den Kopf. Nein, es ging nicht, er musste es ertragen oder warten, bis ein anderer Nachbar es ihm ausredete oder gleich die Bullen rief. Andererseits …

      Die Wohnungstür vibrierte von den Bässen. Brockhaus war im Dunkeln nach unten gegangen, um nicht gesehen zu werden. Unter der Tür gegenüber sah er kein Licht, also vermutete er, dass die Bewohner nicht zu Hause waren.

      Brockhaus drückte die Klingel fünfmal. Das Licht unter der Tür wurde von zwei Schatten durchbrochen. Der Kerl musste es also gehört haben und würde gleich die Tür öffnen.

      Als das geschah und eine Welle von Grölen und Donnern den Flur flutete, als der Kerl mit einem selbstgefälligen Grinsen im Türrahmen erschien, trat Brockhaus so fest zu, wie er konnte. Er traf den glatzköpfigen Fettwanst auf Magen- und Brusthöhe und sah ihn lautlos nach hinten fliegen. In seinem schmutzigen Unterhemd und den schwarzen Sportshorts krachte er rücklings gegen die Tür zu dem einzigen Zimmer der Wohnung. Blitzschnell huschte Brockhaus hinein und schloss die Tür hinter sich. Der Kerl lag nun mit weit aufgerissenen Augen vor ihm auf der Schwelle zu seinem dunklen Zimmer. Überall hingen Bilder und Tücher mit Totenkopf- und Zombiemotiven. Er versuchte, sich aufzurappeln, griff dabei hektisch links neben die Tür und zog einen alten Baseballschläger hervor. Brockhaus schritt geradewegs auf ihn zu, der Typ hievte sich auf die Beine und machte ein paar Schritte rückwärts, um besser ausholen zu können. Kaum war Brockhaus ihm in den stinkenden, lärmenden Raum gefolgt, ging der andere mit dem Knüppel auf ihn los. Er holte weit aus und ließ das Ding auf Brockhaus niedersausen. Der amüsierte sich noch über die völlige Geräuschlosigkeit, denn die Musik übertönte einfach alles.

      Der Schläger traf ihn an der rechten Hüfte, und ein heller Schmerz durchzuckte den Knochen. Brockhaus, der sich nach links geduckt hatte, holte mit geballter Faust aus und schlug sie dem Mann mit Wucht gegen die Schläfe, woraufhin der sofort zusammensackte und ohnmächtig liegen blieb. Er richtete sich auf und stellte sich über den Kerl. Ein schneller Blick zum Fenster sagte ihm, dass die Jalousien runtergelassen waren und keiner das Schauspiel mit ansehen konnte.

      Tja, so schnell kann das gehen, dachte Brockhaus. Er verzog abschätzig den Mund, bückte sich, nahm den Baseballschläger auf und fing an, auf den Kerl einzuprügeln. Zuerst nahm er sich die Arme vor, dann die Beine, den Brustkorb. Schließlich hob er zum finalen Schlag auf den glatten, fettig glänzenden Schädel an. Das Blut spritzte, und nach Brockhaus’ Einschätzung würde der Typ, falls er den Schlag überlebt hatte, sein Leben lang kein Wort mehr sprechen können. Mit dem Ärmel wischte er seine Fingerabdrücke vom Holz und ließ das Ding fallen. Dann, endlich, konnte er diese verdammte, nervtötende Musik ausmachen. Die Stille, die nun eintrat, war so unwirklich, dass er meinte, eben erst hier im Zimmer angekommen zu sein und nichts von dem gesehen zu haben, was passiert war. Fast staunend blickte er sich um. Gleichzeitig horchte er ins Haus hinein, ob Stimmen zu vernehmen waren oder Türen, die sich öffneten, Schritte. Aber es blieb totenstill. Langsam ging er durchs Zimmer, an seinem Opfer vorbei, ohne es auch nur anzusehen, und drückte im Flur ganz sachte die Klinke der Wohnungstür nach unten. Dunkelheit im Treppenhaus und immer noch keine Geräusche.

      Brockhaus verließ die Wohnung, ging nach oben und warf sich erleichtert auf sein Bett. Jetzt konnte er endlich schlafen.

      Teil 2

      Unsre beiden Schatten sahen wie einer aus

      Dass wir so lieb uns hatten

      Das sah man gleich daraus

      Und alle Leute sollen es sehen

      Wenn wir bei der Laterne stehen

      Wie einst Lili Marleen

      Lale Andersen, »Lili Marleen«

      Hamburg-Ahrensburg, Fritz-Reuter-Straße, 24.12., 06:32 Uhr

      Die Haustür stand offen, und warmes Licht ergoss sich auf die beiden Eingangsstufen. Von drinnen hallten geschäftige Geräusche nach draußen. Martin schob sich umständlich mit zwei vollgepackten Taschen durch den Türrahmen und brachte sie zum Auto, dessen Kofferraumklappe offen stand. Das waren die letzten beiden Gepäckstücke, es fehlten nur noch ein Korb mit Lebensmitteln, ein Korb mit den Weihnachtsgeschenken und der ganze Kleinkram, der in die Lücken gestopft werden musste.

      »Pa, lass mich doch das Fahrrad mitnehmen«, hörte Martin seinen Sohn sagen und lugte um den silbernen Passat herum.

      »Joshi, hast du keine Nachrichten gesehen? Der Sturm soll hundertfünfzig Kilometer pro Stunde erreichen.«

      »Es weht kein Lüftchen«, entgegnete Joshua ungehalten.

      »Die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Es kommt kein Fahrrad aufs Dach. Wir können dir da eins mieten, wenn du willst.«

      »So ’ne olle Schlurre von der Insel.«

      »Die haben auch Mountainbikes dort. Wahrscheinlich wirst du gar nicht fahren wollen bei dem Wetter.«

      »Was soll ich da sonst machen?«

      »Lesen, Spiele spielen und so weiter.«

      »Kann ich mich ja gleich aufhängen. Warum müssen wir Weihnachten überhaupt wegfahren?«

      Martin ging, ohne eine Antwort zu geben, zum Haus zurück. Sein Sohn folgte ihm lustlos.

      »Nur weil du zu viel Schiss vor ein bisschen Wind hast …«

      »Ich hab die Verantwortung«, korrigierte sein Vater und sprang die Eingangsstufen hinauf. Im Flur standen noch zwei Tüten, und die Jacken, die mitgenommen werden sollten, lagen auf einem Haufen. Martin betrat das Wohnzimmer, wo seine Frau mit Piet auf dem Arm vor dem Fernseher stand und Nachrichten schaute.

      »Die haben den gesamten Bahnverkehr eingestellt. Flüge gehen auch nicht mehr«, informierte sie ihn.

      »Dann lass uns schnell losfahren, bevor wir keine Fähre mehr kriegen.«

      »Ist alles drin?«

      »So gut wie. Wo ist Dani?«

      »Oben, ich ruf sie.«

      Martin schnappte sich die Tüten und die Jacken. Zehn Minuten später saßen sie alle im Auto, Joshua auf dem Beifahrersitz und die beiden Frauen mit Piet hinten.

      »Na dann«, sagte Martin und zündete den Motor. Eine Bö erfasste den Wagen und schüttelte ihn. Ein Blatt klatschte auf die Windschutzscheibe. »Es geht los.«

      Hamburg-Wandsbek,