im Hof. Sofort saß er aufrecht im Bett, weil er vermutete, dass die Freundin des Kerls, den er gestern Abend erschlagen hatte, zu ihm zurückkam. Das wäre viel zu früh. In Shorts eilte er zur Tür und horchte hinaus. Schritte waren zu hören. Jemand stieg den ersten Treppenabschnitt hinauf, dann noch einen. Jetzt war die Person im ersten Stock. Wenn sie es war, musste sie stehen bleiben. Aber die Schritte hallten weiter durchs Treppenhaus. Die Person kam näher und näher, ging an seiner Wohnungstür vorbei und noch einen Stock höher. Dort wurde eine Tür aufgeschlossen. Über ihm rumste es dumpf, als der Mann oder die Frau etwas auf den Boden warf. Eine Tasche vermutlich. Das konnte bedeuten, dass er oder sie auf Reisen gewesen war und jetzt erst nach Hause kam. Dann konnte diese Person schon mal kein Zeuge sein.
Brockhaus machte sich zufrieden Frühstück und einen Kaffee. Danach wollte er eine ausgiebige heiße Dusche nehmen. Im nackten Badezimmer zog er sich aus und stellte schon mal das Wasser an. Dann blickte er in den Spiegel, der an der linken unteren Seite gesprungen war. Zweifelnd sah er sich an und drehte dabei den Kopf nach links und rechts, so als prüfte er sein Aussehen nach einer kosmetischen OP. Er entdeckte etwas, das ihn irritierte. Da war ein kleiner Punkt in seinem Gesicht. Er streckte den Kopf nach vorn und schaute genauer hin. Da waren dunkelbraune Sprenkel in seinem Gesicht, auf Wangen und Stirn. Mit dem Nagel des Zeigefingers kratzte er daran. Es ließ sich entfernen. Es war das Blut seines Nachbarn.
Hamburg-Barmbek, Deutsche-Bank-Filiale, 09:02 Uhr
Till stand in der Schlange vor dem einzigen besetzten Kundenschalter. Vor ihm war ein älterer, sportlicher Herr in Jeans und Lederblouson, hinter ihm eine Frau mit einem etwa fünfjährigen Jungen. Sie könnte die Mutter, aber auch die Oma sein, fand Till. Der Kleine lief ungeduldig mit seiner geöffneten Jacke durch den Schalterraum und packte alles an.
»Komm jetzt her, Anton, lass das. Sonst muss Oma alles bezahlen, was du kaputt machst.« Sie winkte ihn zu sich ran.
Anton ließ sich nicht beirren, er kniete vor einem Gummibaum und fischte ein Granulatkörnchen heraus, das er gegen den Wasserspender warf. Till musste lächeln und prüfte gleichzeitig, ob seine Waffe sicher in der Innentasche seiner gefütterten Jeansjacke verstaut war.
»Anton!«, zischte die Oma, und der Kleine kam mit zu sehr nach innen gestellten Füßen auf sie zugelaufen. Er stolperte und knallte mit dem Kopf gegen Tills rechte Seite, direkt gegen die Beretta. Er fing sofort an zu heulen und hielt sich den Kopf. »Das hast du nun davon, Herrgottnocheins«, fuhr sie den Jungen an und wandte sich dann an Till. »Entschuldigung, er ist so schrecklich wild.«
»Schon gut«, wehrte Till ab.
»Da war was ganz Hartes in der Jacke«, jammerte der kleine Anton und rieb sich immer noch den Kopf. »Was hast du da drin?«, fragte er Till.
»Anton!«
»Schon gut, schon gut, ist nur mein Handy«, sagte Till.
»Das war kein Handy«, beharrte der kleine Anton, der jetzt den Rotz hochzog und Till mit misstrauischem Blick fixierte.
Till lugte ins Innere seiner Jacke.
»Oh, du hast recht.« Er zog sein Handy aus der linken Innentasche. »Hier ist das Handy. Und hier …« Er griff in die andere Tasche und holte seine schwarze Beretta heraus. »… ist eine Pistole.«
Anton gingen die Augen über. Aus dem Augenwinkel bemerkte Till den verunsicherten Blick des Schalterbeamten.
»Wow!«, entfuhr es Anton.
»Ist ein Geschenk für meinen Neffen gewesen«, meinte Till zu der ebenfalls etwas erschrockenen Oma. »Aber ich muss es umtauschen. Der Bolzen ist kaputt gegangen.«
»Kann ich ma schießen?«, fragte Anton.
»Anton!«
»Das geht leider nicht. Der Bolzen ist doch kaputt«, wiederholte Till und lächelte. »Dieser China-Schrott taugt einfach nichts.«
»Das stimmt«, bestätigte die Oma energisch und nickte dazu.
»Kann ich trotzdem?«
»Nein, nachher geht noch mehr kaputt«, sagte Till und steckte die Waffe wieder ein.
Der Herr vor Till war fertig und machte den Schalter frei.
»Gute Besserung für deinen Kopf.« Till zwinkerte Anton zu und wandte sich an den wartenden Schalterbeamten. Er war Ende zwanzig mit Brille und zwanzig Kilo Übergewicht. Zu seinem hellgrauen Anzug trug er eine rot-weiß gestreifte Krawatte.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte mein Konto auflösen.«
»Oh, das ist aber schade. Darf ich nach dem Grund fragen? Sind Sie nicht mehr zufrieden mit unserem Produkt?«
»Ich hab woanders ein besseres Angebot bekommen«, sagte Till und legte beide Fäuste auf den Tresen.
»Auch wir haben ein kostengünstiges Kontenmodell mit weniger Inklusivleistungen, das Ihren Vorstellungen womöglich mehr entspricht. Kann ich Sie vielleicht noch umstimmen, indem wir ein paar Angebote für Sie erstellen?«
»Nein, einfach nur auflösen, bitte.«
»Gern.« Der junge Mann grinste höflich und holte ein Formular hervor.
Hamburg-Wandsbek, Karstadt-Filiale, 10:13 Uhr
Simon suchte an einem Jackenständer zielstrebig nach wasserdichten schwarzen Winterjacken und nahm gleich drei Stück mit. In der Rucksackabteilung fand er wasserdichte Packsäcke und lud sich sechs davon über den Arm. Die Kassiererin konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie die Artikel scannte.
»Sechs Stück? Sie haben wohl eine große Kanutour vor, was?«
»Nein, das ist die Ausrüstung für unser Schwimmteam.«
»Ach, das ist ja nett. Aber Sie haben nur drei Jacken«, erinnerte sie ihn.
»Richtig, die sind für die Trainer«, log Simon mit einem charmanten Augenaufschlag.
»Oh, verstehe, natürlich. Wir können die Artikel auch bedrucken lassen.«
»Nicht nötig, danke.«
»Na schön. Das macht dann tausendzweihundertachtundachtzig Euro und achtundneunzig Cent.«
Simon zahlte in bar, und die Dame packte alles in zwei große Tüten ein.
»Dann wünsch ich Ihnen viel Erfolg«, sagte sie.
»Vielen Dank.« Simon grinste und verließ gut gelaunt das Geschäft.
Hamburg-Wandsbek, Wandsbeker Chaussee, 10:43 Uhr
Brockhaus stand vor dem Spiegel im Badezimmer und kämmte seine noch nassen, soeben blond gefärbten Haare zu einem korrekten Seitenscheitel. Dann setzte er sich eine billige Brille auf.
»Wow«, sagte er zu seinem Spiegelbild. Er war selbst überrascht, mit wie wenig Aufwand man ein so gutes Ergebnis erzielen konnte. Er sah aus wie ein anderer Typ Mensch, vielleicht wie ein Lehrer, und wirkte dabei fast zehn Jahre jünger. Zufrieden ging er ins Wohnzimmer, wo er seine Waffe lud. Von unten waren noch immer keine Geräusche zu hören.
Kurz vor Dagebüll, Landstraße 191, 10:47 Uhr
Der Himmel war noch ungewöhnlich hell, doch der Wind hatte stetig zugenommen, je näher sie der Küste gekommen waren. Joshuas Laune hatte sich dadurch nicht gerade gebessert, weil er inzwischen wohl einsehen musste, dass es doch besser gewesen war, das Fahrrad zu Hause zu lassen. Seit geraumer Zeit fuhr Martin nur noch mit beiden Händen am Lenkrad. Schon bevor sie von der Autobahn abgefahren waren, und ebenso jetzt auf der Landstraße. Es flogen immer wieder Müll und Äste über die Fahrbahn. Manche Böen waren so heftig, dass er glaubte, sie würden den Wagen aushebeln und hochheben. Alle vier saßen angespannt auf ihren Sitzen und blickten konzentriert auf die Straße. Nur Piet bekam von alldem nichts mit, er brabbelte munter und gut gelaunt vor sich hin.
Martin