Clara Viebig

Der einsame Mann


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auf dem Sofa, hatte einen ganz roten Kopf und gläserne, nicht mehr alles klar wahrnehmende Augen. Der Mann erschrak: der hatte ja Fieber! Er zog sich einen Stuhl neben das Sofa, fasste die Hand des Kindes und behielt sie in der seinen. Das schien Hans-Helmut wohlzutun. Als die Mutter hereinkam mit einer Tasse Lindenblütentee, schlief er; doch sobald der Oberst die heisse Kinderhand loslassen wollte, haschte der Kranke danach, seine Stirn zog sich zusammen, und er liess ein klagendes Wimmern hören.

      Da blieb der Oberst sitzen. Ob es wohl eine Kinderkrankheit wurde, Masern vielleicht, oder ob es nur bei einer Erkältung blieb?

      Der Oberst und die Frau Doktor sprachen flüsternd, die Zeit verging. Wenn er jetzt nicht zum Essen ging, bekam er keinen warmen Bissen mehr; aber sowie der Oberst versuchte, seine Hand fortzuziehen, wurde der Kranke unruhig.

      Endlich kam es der Frau Doktor, zu sagen: »Herr Baron, es ist mit dem Essen zu spät für Sie geworden — wenn ich Ihnen vielleicht hier etwas anbieten dürfte?« Sie schämte sich zwar, sie hatte nur eine dünne Milchsuppe und nach der Suppe Kartoffeln mit gewiegtem Hering, aber sie war tapfer: »Sie müssen freilich sehr fürlieb nehmen.«

      Und er nahm fürlieb; es schmeckte ihm sogar ausgezeichnet. Er wusste gar nicht, dass er Hering ass, den er sonst nie gemocht hatte. Immer sah er nach dem Sofa hin, wo der fiebernde Knabe jetzt gleichmässig atmete. Schlief er? Mitunter hoben sich die Lider — ein kurzes Blinzeln — dann wieder das gleichmässig tiefe Atmen.

      Die Mutter schlich hin: Gott sei Dank, er schlief jetzt! Auch der Oberst balancierte auf den Zehen zum Sofa; das ging nicht ganz ohne Geräusch ab, der Stuhl rückte ziemlich laut trotz aller Vorsicht, die Diele knarrte und gerade, als er sich über den Schlafenden beugte, kam ihm ein Niesen, das er nicht rasch genug im Taschentuch ersticken konnte. Was, lachte der Schelm? Ein Lächeln erschien um die roten Lippen, die in der Fiebertrockenheit noch röter blühten.

      Der Mann betrachtete die weichen Wangen, auf denen die langen dunklen Augenwimpern lagen, bemerkte die feingezogenen Bögen der Brauen, die reine Stirn, das zierliche Ohr und den Mund, der wie der einer schönen Frau war. Zum Küssen.

      »Ich bin Ihnen so dankbar, Herr Baron,« flüsterte die Frau, »dass ich jetzt nicht allein hier sitze. Es ist doch wohl nur ein Schnupfenfieber, nicht wahr? Mein Mann wurde so rasch dahingerafft; ehe ich begriff, was eigentlich war, war er gestorben. Ich bin so ängstlich geworden. Sie werden meine Besorgnis gewiss übertrieben finden? Aber ich habe ja weiter nichts auf der Welt als den Jungen.«

      Nein, er fand ihre Besorgnis gar nicht übertrieben. Wenn es ihr recht war, ging er nachher gleich zum Arzt, von vier bis fünf hatte der Sprechstunde. Wenn er um diese Zeit dort war, traf er ihn sicher an und konnte ihn womöglich gleich mit herausbringen.

      Ein dankbarer Blick aus tränengefüllten Augen traf ihn. Frau Doktor wagte es, ihm über den Tisch weg die Hand zu reichen, für einen kurzen Augenblick hielt er ihre dünnen und doch so verarbeiteten Finger mit einem festen Druck. »Nur keine Angst, wir wollen unsern Jungen schon bald wieder gesund kriegen!« Unsern Jungen — er sagte das mit Herzlichkeit, und er fühlte diese auch wirklich, fühlte plötzlich, wie er schon an dem Knaben hing, der ihn eigentlich gar nichts anging, und der doch nur das war, was ihn hier festhielt.

      »Es wäre besser, ich brächte ihn zu Bett,« flüsterte die Mutter. »Aber ich möchte ihn nicht gern aufwecken.« Sie war ziemlich hilflos.

      »Das wollen wir schon machen!« Behutsam, als wäre sie zerbrechlich, nahm der Mann die leichte Last auf. In schweren hohen Reiterstiefeln und doch versuchend auf Zehen zu schweben, trug er den Knaben hinter der Mutter her. Der war halb erwacht, für ein paar Augenblicke fühlte der Mann eine heisse fiebernde Stirn sich an seine Wange schmiegen, dann sank das Köpfchen wieder auf seine Schulter zurück.

      Frau Doktor hatte die Tür zum Nebenzimmer geöffnet. Ein kleiner, recht karger Raum. Da standen noch die beiden Ehebetten, wie früher dicht nebeneinander, die Frau schlug die Decke von dem einen Bett zurück. Hier im Bett des Vaters lag jetzt des Knaben Nachtkittel.

      Während die Mutter den Schlaftrunkenen entkleidete, kehrte der Mann sich dem Fenster zu. Draussen dunkelte es bereits, die Fähre, die von drüben her über den Fluss glitt, hatte ein einsames Licht am Bug, das schwebte heran wie ein langsam sich nahender und doch zögernder Stern. Für den Junggesellen war etwas Fremdes in diesem engen ehelichen Schlafgemach, er fühlte eine gewisse Scheu, sich hier umzusehen; als weile noch der Tote hier mit seinem kalten Hauch, so wehte es ihn kühl an. Würde für den Jungen nicht besser ein eigenes freundliches Kinderzimmer taugen? Freilich, es mochte der Witwe einsam sein, sie wollte das einzige, was sie noch besass, dicht neben sich behalten, so lange das nur eben anging. Unbestimmt fühlte der Mann: so war es nicht ganz das richtige, aber er, unbeweibt und kinderlos, hatte wohl nicht das richtige Verständnis. Ihn fröstelte. Leise ging er ins Wohnzimmer zurück.

      Dann sassen sie hier noch eine lange Weile, die Tür nach dem Nebenzimmer blieb halb angelehnt. Sacht tickte der Regulator an der blauen Tapete, der Kanarienvogel im Bauer kraspelte und versuchte leise sein Lied, das wie von weither kam, wie im Traum gesungen. Hier im Wohnzimmer, wo der Schulranzen des Knaben am Boden lag, so wie er ihn abgestreift hatte, wo das aufgeschlagene Märchenbuch, die blaue Matrosenmütze, und dort auf einem Stuhl der Baukasten mit den durcheinander geworfenen Steinen, ihn so ganz herzauberten, fühlte der Oberst sich behaglicher. Bis er zum Arzt ging, lauschten sie mitsammen auf die ruhiger und ruhiger werdenden Atemzüge nebenan. Und dazwischen sprach Frau Doktor in abgerissenen Sätzen von ihrem Mann. Oh, er war so gut, so tüchtig — ihre Familie war erst sehr dagegen gewesen, sie aber hatte ihn doch geheiratet; kennengelernt hatte sie ihn, als sie mit ihrer leidenden Mutter an einem Badeort hier in der Nähe zum Kuraufenthalt gewesen war. Glückselige Zeiten — ach, wenn man damals gedacht hätte, dass so rasch, so rasch alles zu Ende sein würde! Nun war die Mutter schon lange tot und ihr Mann tot.

      Die Frau hatte mehr gesprochen in dieser einen Stunde, als je in der ganzen Zeit, in der ihr Mieter sie kannte. Ein ganz und gar nicht aussergewöhnliches, ein ganz alltägliches Frauenschicksal, aber darum nicht minder betrübendes, entrollte sich vor ihm. Er hätte nie gedacht, dass ihn solche Geschichte interessieren könnte — aber die arme Frau! Er fühlte ein grosses Mitleid. Gott sei Dank, dass sie noch den Knaben hatte — und diesen Knaben! Er sah ihn plötzlich mit den Augen der Mutter: ein schöner, begabter und lieber guter Junge.

      »Ich mache mir oft Gedanken, ob ich ihn auch richtig erziehe,« flüsterte die Frau, »ich halte ihn vielleicht etwas zu sehr von der Aussenwelt zurück. Aber seine Schulkameraden gefallen mir so wenig, sie sind so grob, so derb, und sie wissen schon so viel von der Welt. Er ist noch ganz Kind.«

      »Gott erhalte ihn so,« sprach der Oberst. Er war ein frommer Mann, es war ihm keine Redensart, wenn er das sagte. — —

      Hans-Helmut war längst gesund, es war wirklich nur ein Schnupfenfieber gewesen. Doktor Bär, der vielbeschäftigte Mann, vor dessen Tür immer irgendein Bauernwagen hielt, der ihn hinaufholen wollte in eines der Dörfer oben, war ärgerlich, dass man ihn deshalb den weiten Weg herausgejagt hatte. Der Oberst bekam das bei Gelegenheit von ihm zu hören, der Doktor nahm kein Blatt vor den Mund. Dass die Mutter gleich aus der Fassung geriet, war eher begreiflich, aber dass der Baron, ein alter Militär, so ängstlich war, das verstand er nicht. Er war eben ein Bauerndoktor.

      Im Städtchen sprach man über Frau Doktor Arndt und ihren Mieter. Im Kaffeekränzchen der Frau Apotheker wurde ganz ernstlich gewettet, ob die beiden wohl ein Paar werden würden oder nicht. Die einen sagten: er denkt gar nicht daran — andere: Alter schützt vor Torheit nicht. Eine Torheit wäre es, wenn der Baron, ein immerhin noch so stattlicher Fünfziger mit einer guten Pension und einigem Vermögen, sich diese ältliche, müde, blasse Frau an den Hals hängen würde. Es gab in der Stadt unter den Honoratioren Jungfrauen vorgerückteren Stadiums, mindestens zehn, und sogar unter den jüngeren Damen welche, die Frau Baronin zu werden nicht ausgeschlagen hätten.

      Der Oberst hatte keine Ahnung, zu welchen Gesprächen er und seine Hauswirtin Anlass gaben. Er kam jetzt auch viel seltener mit seinen Bekannten zusammen, da er nicht mehr am Mittagsstammtisch teilnahm. Er ass jetzt zu Hause. Das war nicht billiger, aber es war bequemer, und es schmeckte besser. Und vor allen Dingen bekam der Junge nun bessere