Clara Viebig

Der einsame Mann


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      Man hätte dem stillen Knaben gar nicht solchen Freudenausbruch zugetraut. Er hüpfte auf einem Bein und klatschte in die Hände: »Wir fangen Fische, wir fangen Fische, wir braten uns welche auf der Kribbe, die Maria und ich — ha, das wird fein!« Und dann nahm er im Ungestüm seiner Freude die Mutter um den Hals und fasste zugleich mit dem andern Arm den Freund um den Nacken, er hing sich an beide und brachte sie so mit den Köpfen dicht zusammen; nur sein Knabenhaupt war noch zwischen ihnen, sonst hätten sich ihre beiden Wangen berührt. Verlegen strebte die Mutter loszukommen, aber Hans-Helmut hielt fest, und seine Knabenstimme schrie durchdringend hell: »Ich hab’ euch lieb, ich hab’ euch beide so lieb!«

      Die Kinder waren gegangen. Die Mutter sah ihnen von der Haustür aus nach. Sie hatte ihnen noch dringend eingeschärft: keine nassen Füsse, und dass Maria ja Obacht gab. An der Hand des Mädchens sah sie ihren Knaben davonstolzieren, er drehte sich nicht mehr nach der Mutter um, er war eilig vor Erwartung. Die Mutter lächelte: er war doch noch ein rechtes Kind; die neuen Stulpstiefel hatte er an und den neuen Strohhut, die waren heute wirklich nicht nötig, aber er hatte es nicht anders getan. Wie glücklich er war! Das tröstete sie über die Unruhe ihres Herzens. Denn unruhig war sie noch immer, seltsam beklommen. Ach, diese schlaflose, peinigende Nacht! Sie hatte die noch nicht abgeschüttelt. Und die weiche Müdigkeit des Tages, durch die heute so matte, wie einschläfernde Luft, auch nicht. Mit einem Seufzer trat sie ins Haus zurück — da stand noch der Oberst.

      Einen Kragen hatte er noch immer nicht an, aber die Litewka hatte er zugeknöpft und hielt sich auch nicht mehr so lässig wie vorhin. Er war etwas echauffiert. »Sind sie nun fort? Er war nicht schlecht froh, unser Junge!«

      Unser Junge — unser Junge, sagte er! Wie das klang! Er hatte es wohl schon hundertmal gesagt, aber ihr war, als hörte sie es heute zum erstenmal. Verschüchtert wich sie einen Schritt zurück. Was hatte er doch für einen seltsamen Unterton in der Stimme — wollte er etwa Besonderes sagen?

      Der Oberst räusperte sich verlegen, nahm einen Ansatz zu sprechen und sagte dann doch nichts anderes, als mit besonderer Betonung: »Unser lieber Junge!«

      Sie lächelte schwach.

      Er trat ihr näher, fast war er ihr wieder so nah wie vorhin, als der Knabe ihre Köpfe zueinander beugte. Er neigte sich ganz dicht zu ihr, er holte tief Luft, er hielt ihr die Hand hin, seine breite, kräftige, gute Hand.

      O Gott, was sollte das?! Um die Frau begann es sich zu drehen; ein peinvolles »Was tun?«, eine grosse Beklemmung, eine angstvolle Schüchternheit überfielen sie, ihr Herz begann wieder sein Jagen, ihre Hand fest an sich haltend in den Falten ihres Kleides wich sie zurück. Und sie sagte leise, stiess es hastig flüsternd hervor, einer jähen Eingebung folgend — und doch tat es ihr leid, als sie die eigenen gestammelten Worte hörte: »Unser Junge — wie lieb das klingt — er hat ja keinen Vater mehr, wird auch nie mehr einen haben — ich bin Ihnen so dankbar für Ihre Güte gegen ihn, Herr Baron — ich bitte Sie, bleiben Sie sein Freund, Herr Baron!«

      Viertes Kapitel

      In der stillen Bucht zwischen den Kribben waren die Schiffer vor Anker gegangen. So grün war es ringsum, dass die Gesichter bleich waren vor grünem Licht. Grün die Weinberge im hellen Maiengrün der ersten treibenden Reben, grün der Buchenwald, der sie oben bekrönte, grün die Obstbäume in den Seitentälern des Flusses — alles Blühen rot und weiss war schon von ihnen abgefallen — grün die Rasenstücke, die, saftig wie Matten, sich zwischen Fels und Wasser einschieben, und grün die beiden Landzungen, die, durch Mauerwerk gestützt, von Weidengebüsch eingefasst, den Lauf des Stromes teilen. Wenn der Fluss auch Wellen trieb und aufgerührt war vom Sturm, zwischen den Kribben war es immer still und die Flut glatt; hier spielten die Fische ihr Liebesspiel und setzten ihre Brut ab zur Laichzeit. Hier war für beschauliches Angeln der beste Platz.

      Kaspers Hanni hatte Wasserstiefel an, in denen stieg er gleich aus dem Kahn, watete ein Stück weit ab, ins Wasser bis an den Bauch, blieb da stehen und warf seine Angel aus. Wenn das Glück gut war, fing er gleich ein paar junge Salme, die traten um diese Zeit hier in den Fluss ein. Peter, der zweite Bruder, machte es ihm nach, nur hatte er keine Wasserstiefel, er watete mit blossen Beinen, die Hosen aufgekrempt bis zum Bauch. Unbeweglich wie Steinbilder, als lebe kein Atem in ihnen, so standen die zwei, der eine links vom Nachen, der andere rechts, nur auf lautes Rufen noch zu erreichen. Auch Vater Kaspers fing an zu angeln, aber er scheute alles Nasse, das nicht durch die Gurgel floss. Er langte bald nach der Flasche, die er im Rucksack unter der Bank liegen hatte, stieg aus dem Nachen, schlenderte mit seiner Flasche vorn an die äusserste Spitze der Kribbe und streckte sich da lang ins Gras; die Weidenbüsche schlugen über ihm zusammen. Das nannte er fischen gehen.

      Der Nachen wiegte leis hin und her, schaukelte sanft die morschen Planken, unten an seinem Kiel spielten silberbeschuppte Fischchen, flitzten geschwind hin und her und schnappten lautlos mit runden Mäulern. Kleine Blasen stiegen wie silberne Perlen zur Oberfläche und zergingen da.

      Hans-Helmut vorn in der Spitze des Kahns hatte sich weit übergebeugt, das Strohhütchen sass ihm im Nacken; er hätte sie greifen mögen, die silbernen flitzenden Dinger.

      Aber Maria sagte: »Die sind ja nix wert. Weissfischcher. Nix wie Schuppen und Gräten.« Sie sass am Steuer, hatte eine Weidengerte abgerissen, tippte damit ins Wasser und liess die Tropfen rinnen. Sie langweilte sich, Hans-Helmut war ihr zu stumm; der glaubte wohl, er müsste stumm sein wie die Fische, wenn man die fangen wollte. Wenn einer anbeissen wollte, biss der auch so an. Aber schön war es hier, wunderschön wohlig, sie liebte es, im Nachen zu sitzen, sich wiegen zu lassen. Aber ein anderer müsste dabei sein, kein so dummer Jung’. »Hänschen, komm her!«

      Vorsichtig gehend, dass der Kahn nicht schwankte, und mit den ausgestreckten Armen balancierend, kam er zu ihr.

      Sie drückte ihn vor sich in die Knie. »Du bist wie’n klein Mädche, ich will dich frisieren.« Mit den Fingern scheitelte sie ihm das üppige Haar, das seidenweich lang hing und wohl gepflegt war von der Mutter. Sie wollte ihm zwei Zöpfchen flechten, aber das litt er nicht: nein, er war kein Mädchen! Aber er musste es leiden, dass sie von der mit schmalen grünen Blättchen besetzten Weidengerte ein geschicktes Gebinde wand und ihm das auf’s Haar setzte. Wunderschön, wie ein Dichterjüngling unter griechischem Lorbeer sah das Knabenhaupt aus unter dem fremdartigen Kranz. Er war ihr selber so wohlgefällig, dass sie ihn küsste. Das hatte sie noch niemals getan, ihn nur wohl einmal freundschaftlich verstohlen gepufft.

      Es durchfuhr ihn ein Schreck. Noch nie hatte ihn ein Mädchen geküsst, gar niemand, nur seine Mutter. Selbst der Oberst gab ihm keinen Kuss, der legte nur die Hand auf sein Haar oder streichelte ihm die Wange. Aber dieser Kuss, der war seltsam! Hans-Helmut spürte ihn. Verwirrt sprang er auf, dass der Kahn sich tief auf die Seite legte, ein Schwall Wasser schwuppte herein und lief auf seine Füsse. »Das sollst du nicht,« sagte er zornig, riss auch den Kranz herunter, warf ihn ins Wasser und stülpte sich seinen Strohhut auf. »Ich bin kein kleines Kind!«

      Sie lachte: »Och, du bist dumm!« Und dann fing sie an zu singen:

      »Hänschen klein, ganz allein

      ging wohl in den Wald hinein.

      Rock und Hut stand ihm gut —«

      »Lass das dumme Lied!« Er war ingrimmig und verbiss sich die Tränen. Wieviel schöner hatte er sich das heute gedacht! Er hatte geglaubt, sie würden Fische fangen, viele, viele hundert Fische, bis an den Rand war der Nachen voll von ihnen; auf die Bänke musste man klettern, die Füsse hochziehen, dass man nicht hineintrat in das Gezappel. Von einem Fischzug Petri hatte er geträumt — ‚und die Fischer fingen so viele Fische, dass ihre Netze zerrissen‘ — nun war es so ganz anders. Seine Augen glitten suchend umher. Augen eines Kindes, das einsam aufwächst in einem Haus abseits, ohne Gleichaltrige, immer zwischen älteren Leuten — Augen altklug, ohne klug zu sein.

      Maria fing an, ihre Bluse auszuziehen, ihren Kleiderrock liess sie fallen. Nun stand sie im kurzen Unterröckchen, die Arme nackt; auch ihre Schuhe streifte sie ab und die Strümpfe. »So. Jetzt bad ich. Da hinter dem Weidenbusch, da lass ich mein’ Unterrock und mein Hemd.« Sie zeigte nach einem Gebüsch, das nicht fern lag. »Du darfst