Frau Doktor in der Küche. Ja, wenn die Maria nicht wäre, dann liesse auch sie alles im Stich, sie ginge in die Mosel, da wo die am tiefsten war. Man hatte sich sein ganzes Leben geplagt und hatte nun doch nichts als Verdruss. Aber um der Maria willen musste sie ja leben bleiben, an der würde sie noch viel Freude haben.
Ja, das würde sie auch! Frau Doktor sagte das nicht nur so hin zum Trost, sie war vollkommen davon überzeugt.
Man musste Maria Kaspers waschen sehen, dann wusste man, dass sie etwas leisten konnte. Ein Holzbrettchen unter den Knien, hochgeschürzt, die Arme bis zur Schulter nackt, kniete sie am Flussrand und bearbeitete die Wäsche mit Bürste und Holzschlegel; bürstete, klopfte, schrappte, schlug zu mit so viel Kraft und Fleiss, dass sie kaum Seife brauchte, die Wäsche wurde blütenweiss. Es war oft recht kühl; vom kalten Flusswasser durchnässt bis auf die Knochen wurden die Wäscherinnen, aber wenn die anderen auch mit den Zähnen klapperten, der jungen Kaspers war es warm. Sie war gesund, und immer war sie guter Dinge.
»Meine Tochter hat’n Hümör, den is nit zu bezahle,« sagte die Alte. »Und wat die für Anträg’ hat! Von mehr als einem, der viel Geld hat!« Näheres über die Anträge erzählte sie nicht. Aber Frau Doktor glaubte es gern. Die Maria war eine hübsche Person und dabei von soviel Tüchtigkeit. Sie hatte ein grosses Wohlgefallen an Maria Kaspers. Das war ihr schon von damals geblieben, als das Mädchen Hans-Helmut aus dem Wasser gezogen hatte. »Mit eigener Lebensgefahr,« wie die alte Kaspers nie verfehlte hinzuzusetzen.
Als Hans-Helmut heute aus der Schule kam, sah er Maria Kaspers. Er hatte sie lange nicht gesehen. Die letzten Häuser des Städtchens lagen hinter ihm, das freie Ufer begann, und da auf dem Holzsteg, der schmal und luftig weit auf den Wasserspiegel hinausragte, kniete sie und spülte Wäsche. Andere Frauen waren nicht bei ihr. Aber ein junger Mann stand auf dem Steg. Die Hände in den Hosentaschen, den Hut im Genick stand er und sah auf sie nieder. Er lachte, und sie lachte auch. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, aber Hans-Helmut kannte ihr Lachen am Klang. Was sprachen die? Er horchte hin, aber er verstand nichts. Sie flüsterten.
Der Knabe schlich näher, hinter einem Baum blieb er stehen. Nun hob sie den Kopf, jetzt sah er ihr Gesicht, es lachte über und über, und plötzlich — der junge Mann beugte sich gerade zu ihr — schlug sie mit einem Stück ihrer nassen Wäsche nach ihm. Das schien ihn aber weiter nicht zu bekümmern, mit einer Hand fing er den nassen Lappen auf und hielt ihn fest, die andere legte er ihr ins Genick, bückte sich wieder zu ihr nieder und — weiter sah Hans-Helmut nichts.
Er rannte fort. Wie ein eifersüchtiger Stich war’s ihm durchs Herz gefahren. Oh, diese Dreistigkeit! Der Freche! Dass er doch ein Mann wäre und den da züchtigen könnte für seine Zudringlichkeit! Aber sah Maria es auch als Zudringlichkeit an und war böse darüber?
Die Mutter sah heute unter der Sekundanermütze ein blasses Gesicht. Und essen mochte der Junge heute auch nicht. Am Abend ging er früh schlafen. Ja, er war müde, das war keine Lüge, und die Müdigkeit kam von seiner Traurigkeit. Als er jetzt am Fenster stand und sich hinabbeugte in den dunklen kleinen Garten, aus dem der Duft der Geissblattlaube stark, fast beklemmend stark aufstieg, ballte er die Fäuste. Oh, die Maria! Überhaupt die Mädchen! Sie waren alle nichts wert. Vom ersten besten liessen sie sich abküssen. Die Schulkameraden prahlten damit, wie viele Mädchen sie schon geküsst hätten, und sie hatten auch noch mehr erzählt, aber er hatte nie darauf hingehört, er hatte ihnen ja nicht geglaubt. Aber nun musste er’s doch wohl glauben. Oh, es ging eigentlich gar nicht schön zu in der Welt!
Nicht schön —?! Wie ein Lachen ging es plötzlich durch die Nacht. Oh, doch schön! Eine starke Duftwelle stieg zu Hans-Helmut auf, schwere Luft umfing ihn heiss, sein Kopf glühte; er befühlte sich die Stirn, sie schmerzte. Schön wohl, aber nicht rein. Gar nicht rein. Und es müsste alles doch eigentlich rein sein im Leben, so rein wie in diesem kleinen Haus, in diesen Stuben, in denen seine Mutter still aus und ein ging und mit sachten Händen räumte, dass alles immer wohlgeordnet war. Man musste eine Scheu haben, in dieses Haus, in diese Stuben etwas hineinzutragen, das nicht wohlgeordnet, das nicht sauber war. Seine liebe Mutter! Manchmal war es ihm, als müsste er sich auf ihre Hand beugen und die küssen wie in heiliger Scheu. Nein, er wollte ihr auch niemals Kummer machen, nie etwas tun, das nicht hineinpasste in ihre Stuben. Der Oberst dachte gewiss genau so wie er, wenn der mit der Mutter sprach, dann dämpfte er immer die Stimme, sprach ganz mild, nicht so knarrig wie gewöhnlich. Alles Hässliche blieb draussen. Und so würde es immer sein, musste so immer sein und bleiben! Der Knabe sprach es zu sich selber wie mit einem Schwur. Seine arme Mutter! Der Mann, den sie so lieb gehabt hatte, der war ihr so bald genommen worden, aber der Sohn, der durfte ihr nicht genommen werden, durch nichts — nein, durch nichts!
Abwehrend scheuchte Hans-Helmut mit der Hand hinein in die schwersüsse Luft des duftgeschwängerten Gartens. Fort mit den Gedanken, die sich nicht gehörten! Er wollte rein sein und rein bleiben; er musste es bleiben. Aber war es nicht schwer? Ja, so schwer! Mit einem Seufzer rang der Knabe die Hände ineinander, und dann begann er im Zimmer auf und ab zu wandern, getrieben von etwas, das ihn nicht rasten und ruhen liess.
Eine Unke rief am Berg, die sass da unter einem Stein und liess ihre Glöckchenstimme erklingen. Hans-Helmut zählte den Unkenruf; immer »Unk« und wieder »Unk«, aber auch diese Eintönigkeit stillte nicht seine Erregung. Die Stunden vergingen. Es mochte nach Mitternacht sein.
Da öffnete sich leise die Tür des Zimmers, der Oberst streckte vorsichtig seinen Kopf herein. Er hatte etwas gehört, etwas Unbestimmtes, das ihn aufgeschreckt hatte aus erstem Schlaf. Er hatte sich aufgesetzt und gelauscht: horch, immer Tappen, verstohlene Tritte!
»Wer da?« Seine erhobene Hand hielt eine Pistole. Mit einem Laut der Verwunderung und einem Lachen liess er sie jetzt sinken: »Junge, du?«
Wie ein ertappter Verbrecher stand der Knabe. Mit bleichem Gesicht, die Augen weit aufgerissen, starrte er den Eintretenden an.
Der Oberst zog leise die Tür hinter sich ins Schloss. »Was hast du, mein Junge?«
Hans-Helmut stand noch immer erschrocken. Was sollte er sagen, damit er das nicht verriet, das, was er nicht aussprechen konnte, was ihm selber unerklärlich war und was doch da war, flatternd wie eine Fledermaus aus dunklen Ecken. »Ich konnte nicht schlafen,« stiess er tonlos heraus. Er stand da, angezogen noch wie am Tag, nichts aufgeknöpft, nichts von sich getan, das Bett wohl aufgeschlagen, aber das Kissen ganz glatt, man sah es, er hatte noch nicht darin gelegen. Er fühlte, das Auge des Mannes ruhte forschend auf ihm. Er versuchte ein Stottern. Da legte sich eine Hand fest auf seine Schulter.
»Lass nur, mein Sohn, lass!« Es war dem Oberst plötzlich, als sähen seine eben noch verschlafenen Augen ganz hell, als würde vor ihnen ein Vorhang weggezogen; sie sahen jetzt, was sie bisher noch nicht gesehen hatten: der da wurde jetzt gross. Jetzt kamen die Stunden, die jeder durchmachen muss, wenn die Kinderschuhe zu eng geworden sind, wenn das Blut sich regt, wenn im jungen Baum der Saft anfängt zu steigen. Ihm lag jene Zeit schon so weit, aber er erinnerte sich ihrer heute, jetzt, auf einmal. Er wusste wieder, wie so einem Jungen zumut ist, der noch nicht weiss: wohin, weswegen?!
»Du kannst nicht schlafen,« sagte er — seine Stimme knarrte nicht, sie war mild — »ich auch nicht. Komm, Hans-Hänschen« — er klopfte dem verwirrt Dastehenden auf die Schulter — »wir sitzen noch ein bisschen zusammen. Ich erzähle dir von mir was, du erzählst mir von dir was. Das bringt uns dann beide zur Ruh.« Den Widerstrebenden und doch gern Folgenden zog er neben sich.
Da sassen sie nun beide auf dem Bettrand, der Alte und der Junge. Und der Oberst redete von Gott weiss was, von eigentlich ganz belanglosen Dingen: von Ausroden im Garten, von der Rosenhecke, die sich zu breit machte, von der Geissblattlaube, die gestutzt werden musste, und dass überhaupt mal mit der Schere ordentlich dreingefahren werden musste. »Es kann doch nicht alles so aus Rand und Band geraten im Garten — — und man kann auch sich zuviel Gedanken machen,« sagte er dann plötzlich ohne jeden Zusammenhang. Ach, dass er so ungeschickt war! Er hätte jetzt so vieles sagen, dieser jungen aufgeschreckten Seele so manches leichter machen können, die Stunde war gekommen; aber das Sprechen war nicht seine Sache. In einer gewissen verlegenen Hast wiederholte er nur immer wieder: »Ja nicht zuviel denken, nicht zuviel denken, das Grübeln ist für gar nichts, für gar nichts. Ich habe