Clara Viebig

Der einsame Mann


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nicht ein, hinzusehen. Der Knabe blickte verwundert.

      »Ach ihr!« Sie tunkte den Fuss über dem Kahnrand ins Wasser und schleuderte ihm mit der Fussspitze einen ganzen Sprühregen ins Gesicht. »Euch ist ja nit zu trauen, euch Jungens!« Sie lachte wieder. Und dann war sie mit einem gewandten Sprung aus dem Nachen und dann hinter dem Weidenbusch.

      Unwillkürlich folgten ihr seine Blicke, ihr Lachen zog ihn. Jetzt streckte sich ein nackter Arm über den Weidenbusch, ein Hemd flatterte daran wie eine Flagge: »Hänschen klein, ganz allein!« Und dann winkte der Arm mit der Flagge, winkte, winkte. Gleich darauf ein Gelächter und Platschen ins Wasser. Ah, jetzt war sie hineingesprungen!

      Ob sie nun wohl schwamm wie die Nixe im Wasser? Es zwang ihn förmlich vom Sitz auf, er reckte den Hals: konnte er sie so sehen? Oh, er sollte ja nicht hinsehen, sollte nicht — aber sie hatte doch gewinkt — hatte sie ihm denn nicht gewinkt?

      Langsam setzte sich Hans-Helmut nieder, widerwillig, er fühlte eine seltsame Neugier. So gern, ach, so gern hätte er einmal hinter den Busch gesehen, nur einen Augenblick! Aber zugleich war eine Scheu in ihm, die ihn zwang, sein errötendes Gesicht wegzuwenden ganz nach der andern Richtung, dahin, wo der Hanni mit seinen Wasserstiefeln unbeweglich bis an den Bauch im Fluss stand. Er starrte nach jenem und rührte sich nicht, starrte, aber ohne den Hanni zu sehen. Er sah eigentlich gar nichts. Seine starre Pupille bewegte sich nicht, bis das Auge das nicht länger ertrug und sich mit Tränen füllte. Alles, der Himmel, das Wasser, Ufer und Berge, alles Grün, verschwamm in einem grauen wolkigen Nebel. Er war wie blind geworden, er sah nur innerlich. Und innerlich sah er die Nixe.

      Ein Plätschern schreckte ihn auf, er fuhr zusammen. Zwei Hände fassten plötzlich über den Kahnrand. Er stiess einen Schrei des Entsetzens aus — jetzt, jetzt sah er sie wirklich! Ihr Haar schwamm lang hinter ihr drein, ihr feuchtes Gesicht lachte ihn an, ihre weissen Schultern hoben sich höher aus dem Wasser empor, er sah ihre Brust, ihre Arme langten neckend nach ihm — da verlor er das Gleichgewicht. Vornüber, über die Schwimmende weg, stürzte er in das Wasser.

      Wie eine sich schaukelnde Blume trieb sein Strohhütchen langsam dahin; von Hans-Helmut selber war nichts zu sehen.

      Konnte der dumme Junge denn nicht schwimmen? Wie ein Fisch, blitzschnell, tauchte Maria unter — nichts. Sie tauchte wieder, tiefer, sehr tief — da hatte sie ihn.

      Noch war er nicht ohne Besinnung, aber er rührte sich nicht, um sich selber zu helfen. Mit Kraft hob sie ihn empor, sie schob ihn über den Kahnrand.

      Da lag er nun auf dem Boden des Nachens, leichenblass, die Augen weit aufgerissen. Sie kniete bei ihm: »Hans-Helmut! Hänschen!« Sie rüttelte ihn.

      Das Wasser — die Nixe — das nackte Mädchen — er stiess einen tiefen Seufzer aus — das war zuviel. Ohnmächtig schloss er die Augen.

      * * *

      Wenn Maria ihn damals nicht gerettet hätte, wäre er sicher ertrunken. Ein Gefühl unauslöschlicher Dankbarkeit lebte seither in der Mutter.

      Der Oberst konnte nicht recht begreifen: warum war der Junge denn nicht geschwommen? Er konnte doch schwimmen, er brauchte doch nicht gleich unterzugehen wie eine bleierne Ente. Wenn man in Gefahr ist, regt man seine Kräfte. Hans-Helmut hatte sie nicht geregt. Es war das erstemal, dass er den Knaben anfuhr: »Warum hast du denn nicht gleich zu schwimmen angefangen, warum nicht?«

      Keine Antwort.

      »Dass man ins Wasser fällt, das kann einem schon mal passieren, man taucht aber wieder auf, und man macht ganz von selber die Schwimmbewegungen. Zudem war es ja dicht beim Kahn, du brauchtest nur die Hand auszustrecken. Dummer Junge, warum tatest du das denn nicht?«

      »Ich weiss nicht.« Das war alles, was der Knabe erwiderte.

      »Er muss einen Krampf bekommen haben, oder er war gleich ohnmächtig,« schluchzte die Mutter.

      Die Kaspers hatten ihn ihr, blass wie eine Leiche, nach Haus gebracht. In den tropfnassen Kleidern schlotterte er neben dem Alten her. Die Söhne waren nicht mitgekommen, die liessen sich nicht beim Fischen stören, aber Maria war voraufgelaufen. Das Hütchen des Knaben hatten sie auch aufgefischt, das schlenkerte sie nun hin und her beim Laufen, damit es trocknen sollte, und winkte mit ihm schon von weitem. Wie eine Ahnung kommenden Unheils hatte es Frau Doktor ergriffen: die Maria schon wieder da?! Um Gottes willen, sie waren ja erst eine Stunde fort, warum kam die gerannt?!

      Das atemlose Mädchen stotterte und stockte, dazwischen schluckte es wohl einmal auf, dass es halb wie Weinen, halb wie Lachen klang. Zu Atem gekommen, erzählte sie dann flüssig: über Bord war er gefallen, als er nach den Fischen unten im Wasser geguckt, sich zu tief übergebeugt hatte, der Kahn war kipplich. Gleich war sie ihm nachgesprungen, bei den Haaren hatte sie ihn zu fassen gekriegt, aber er hatte schon ordentlich Wasser geschluckt, die neuen Schaftstiefel waren schuld, die waren gleich voll von Wasser, die hatten ihn niedergezogen. Nein, sie war nicht schuld, sie hatte getan, was sie konnte.

      Ja, das hatte sie auch, oh, wie sollte sie es ihr je genug danken! Mit Tränen fiel die Mutter Maria Kaspers um den Hals und küsste sie.

      Man hatte Hans-Helmut zu Bett gebracht. An seinem Bett sassen dann die Mutter und der Oberst, sie sprachen liebreich zu ihm und beruhigend, aber er hörte sie nicht. Er sah sie auch nicht. Den bleichen Kopf hin und her drehend, die Augen übergross offen, sah er nur die Nixe. Er sah sie im Sonnenlicht, er sah sie im Mondlicht, er sah sie auch hier, hier in der Stube — da, da war sie! Er hatte einen Schrei ausgestossen, dass die beiden an seinem Bett zusammenfuhren.

      Nun waren viele Monate seitdem vergangen. Der Sommer war gewesen und der Winter auch. Jetzt war es wiederum Sommer. In den Nächten, in denen die Mutter fest schlief, einen Schlaf der Erschöpfung, denn die Hausarbeit wurde ihr jetzt oft so seltsam schwer, stand der Knabe auf. In dem Nachtkittel, der ihm zu kurz geworden war — was ihm voriges Jahr noch bis an die Knöchel gereicht hatte, reichte ihm jetzt nur bis ans Knie — schlich er nebenan ins Wohnzimmer. Hier, hier war er allein. Er stand mit nackten Füssen auf den Dielen, die waren nicht kalt, und doch fühlte er sie kühl an den Sohlen, und das tat ihm wohl. Seltsame Schauer durchrannen ihn. Er starrte auf die Lichter, die der Mond mit bleichen Fingern durch das Fenster legte, auf die Dielen, auf den Teppich vorm Sofa, auf die Tischdecke, und die das Fensterkreuz abmalten, dass es wie hingeworfen mitten in der Stube lag. War nicht ein Plätschern in der Nacht, ein geheimnisvolles Rauschen?

      Er schlich ans Fenster: da war der Fluss. Wenn er doch einem Menschen erzählen könnte, was er dazumal gesehen hatte! Oh, das würde so gut tun. Sollte er’s der Mutter erzählen? Nein. Dem Baron? Auch nein. Die waren ja beide so alt, die verstanden das gar nicht. Er schämte sich auch zu sehr. Früher, als er noch so klein war, dass ihm dieser Nachtkittel schleppte, schämte er sich nie. Aber jetzt! Ein Zittern überfiel ihn, er kroch erschauernd in sich zusammen. Wenn er es ihnen erzählen würde, dann liessen sie sicher die Maria nicht mehr ins Haus kommen — nein, und das wollte er nicht. Und die hatte ihm doch auch das Leben gerettet. Und wenn er einmal mit der Maria selber darüber spräche? Sehr verständig wäre sie und klug, sagte die Mutter. Nein, mit der nicht, gerade mit der nicht. Sie sprach ja auch mit ihm niemals darüber; die hatte es ganz vergessen, dachte gar nicht mehr daran. Ja, er musste das, was er fühlte, ganz in sich selber verschliessen, keiner durfte es ahnen. Es war eine Schande, dass er die Nixe nicht vergessen konnte, und dass er sie immer noch sah, nackt aus dem Wasser steigen und mit Händen nach ihm langen, dass es ihn so überkam, dass er stürzte, ihr, nur ihr entgegen. Sollte, konnte, durfte er das jemandem sagen? Er presste die Lippen zusammen, wie damals, als man ihm gesagt hatte: »Erzähle, wie es kam!« Nein, er erzählte nichts, er würde es nie erzählen, immer schweigen davon. Aber er war ein schlechter Junge, dass er Gedanken nicht loswerden konnte, die sich daran knüpften. Sie waren alle hässlich. Waren sie denn wirklich hässlich? Waren sie nicht wie die Rosen draussen an der Hecke, die einem die Hände zerrissen mit ihren vielen Dornen, und die doch so schön waren und dufteten? Er stampfte mit den nackten Füssen auf: fort mit den Gedanken! Er wollte sie nicht haben. Oh, wieviel glücklicher war er früher gewesen! Wenn dann die Mutter sich im Bett umdrehte und die Kissen raschelten, dann hatte er sich immer so geborgen gefühlt, ihm war behaglich wie dem jungen Vogel im Nest; jetzt störte ihn selbst ihr Atmen.