er sich plötzlich auf die Knie, mitten hinein in das Mondlicht, das wie eine weisse Lache am Fussboden schwamm, und streckte die Arme empor und fing an zu beten. Alle Abend betete die Mutter mit ihm, sie hatte es getan von seinem ersten Lallen an, und sie tat es noch immer. Wie kindisch hatte er’s doch gesprochen, wie ohne Gedanken: »Führe uns nicht in Versuchung und erlöse uns von dem Übel!« In der Schule der Religionslehrer sagte: »Von dem Bösen —« nein, von dem »Übel«, das war richtiger, »erlöse uns von dem Übel«. Es war eine Krankheit, eine schwere Krankheit, vererbt durch Jahrtausende, von allem Anbeginn an, als nur erst Adam und Eva da waren und sonst niemand.
»Erlöse mich von dem Übel!« Hans-Helmuts Knabenhaupt war zurückgeworfen, sein Leib bäumte sich in einer Qual, deren Schrecknisse so gross waren, dass sie fast Beseligungen wurden. Und doch waren sie schrecklich. Er stöhnte laut.
»Hans-Helmut!«
Im Nebenzimmer rührte sich’s. Das war die Stimme der Mutter: »Wo bist du?« Es klang ängstlich. Die Frau war erwacht. Aufgeschreckt durch Unbestimmtes, tastete sie nach dem Bett neben sich: leer. War dem Knaben nicht wohl? Sie rief laut seinen Namen.
Das brachte ihn zu sich. Zitternd wie ein feiger Verbrecher stand er für Augenblicke. Dann stürzte er ins Schlafzimmer zurück, zog sich die Decke bis an die Stirn und wühlte sich, von Frost geschüttelt, tief ein in die Kissen. Er log etwas, was die Mutter beruhigte. Er hatte nicht schlafen können, es war so drückend eng in dem kleinen Zimmer, nebenan hatte er das Fenster geöffnet, die Nacht war schön, vom Fluss kam Kühlung — ah, Luft, Luft! Die hatte ihm wohlgetan.
Hans-Helmut hatte recht, es war auch zu eng in dem kleinen Zimmer. Frau Doktor kam nicht der Gedanke, dass es nur für Mutter und Sohn zu eng war; sie hatte vergessen, dass es für sie und ihren Mann nicht eng gewesen war. Nun sollte Hans-Helmut sein eigenes Zimmer bekommen. Der Oberst unterstützte sie darin. Er hatte es längst nicht richtig gefunden, dass sie den Knaben noch bei sich behielt wie ein kleines Kind. Nun wollte er gern sein Wohnzimmer hergeben, oder es war vielleicht ebenso gut, er selber richtete sich dort das Schlafzimmer ein, und Hans-Helmut bezog sein Stübchen nach dem Garten. Das Haus war klein, man musste sich einschachteln. Von der Mansarde oben, an die Hans-Helmut mit einem gewissen Verlangen dachte, denn dort war man so ganz allein, so schön weit weg, riet er ab. Wie lange noch, und man musste eine ständige Dienerin ins Haus nehmen? Der Oberst sah es, wie schwer Frau Doktor die Arbeit fiel, sie würde die nicht lange mehr ohne Hilfe leisten können.
Es war ein seltsamer Abend für die Frau, als sie zum erstenmal ganz allein schlief. Seit ihrem Hochzeitsabend hatte sie das nicht mehr getan. Erst ihr lebender Gatte, dann ihr toter Gatte — bis sie ihn in den Sarg legten, war er neben ihr geblieben — dann das Kind. Unwillkürlich tastete ihre Hand nach dem anderen Bett, fort war es, leer der Platz, wo es gestanden hatte ganz leer. So gross das Zimmer, viel zu gross für einen einzelnen Menschen. Keine geliebten Atemzüge mehr, so sehr sie auch lauschte. Alles totenstill. Einsam war sie, ganz schreckensvoll einsam. Ihr wurde weh ums Herz. Nun fühlte sie noch einmal den Verlust ihres Mannes, glaubte den fast stärker noch als damals zu fühlen, nun, da sie den Knaben hatte hergeben müssen, ihr liebes, ihr kleines Kind. Sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen.
Als sie Hans-Helmut am Morgen wieder sah, kam er ihr viel grösser vor, viel erwachsener, sie mass ihn mit ganz erstaunten Augen. Hatte sie denn gar nicht bemerkt, wie aufgeschossen er war? Seine mageren Arme streckten sich lang aus den Ärmeln, der Hals war auch lang, sehnig und hager hob er sich aus dem Blusenausschnitt.
Der Baron fing ihren musternden Blick auf. »Ja, ja,« sagte er gutmütig, »aus Kindern werden Leute. Er wird nicht mehr lange im Matrosenanzug gehen können. Der steht den jungen Leuten dann auf einmal nicht mehr.«
Wie recht er hatte! Ach ja, er hatte eigentlich immer recht. Wenn sie schon eher auf ihn gehört, sich in Gedanken darauf vorbereitet hätte, wäre ihr vielleicht dieser Abschied — denn ein Abschied war es — jetzt nicht so schwer aufs Herz gefallen. Ob sie unter ihres Mannes Kleidern vielleicht etwas herausfand, das sie für Hans-Helmut zurechtmachen lassen konnte? Er konnte wirklich nicht mehr in dem kurzhosigen blauen Matrosenanzug gehen, in dem er früher so hübsch ausgesehen hatte mit seinem weissen weichen Nacken und den drallen Kinderbeinen. Langsam stieg Frau Doktor hinauf in die Mansarde, wo sie in einer grossen Truhe die Kleidungsstücke ihres verstorbenen Mannes aufbewahrte. Einmal in jedem Frühjahr wurde an die gerührt, die Kleider wurden geklopft, gebürstet, mit neuem Mottenpulver bestreut; nun musste sie ausser der Zeit darin stöbern.
Stück für Stück nahm sie heraus und hängte es über Stühle. Fast schüchtern fasste sie die Sachen an, mit schonenden, sorgsamen Fingern. Dass nur ja nichts daran kam! Unmöglich konnte sie hier an seinem guten Anzug, den er Sonntags getragen hatte und immer, wenn er mit ihr ausging, etwas schneiden und ändern lassen! Der Anzug war dunkelgrau mit einem stricknadeldünnen kleinen weissen Streifen — nein, an den wurde noch nicht gerührt. Später konnte ihn Hans-Helmut unverändert tragen, genau wie er war. Diese kurze grünliche Joppe hier, die war vielleicht für den Knaben möglich. Auch die Hose dazu. Oh, wieviel glückliche Stunden hatte ihr Mann in diesem Anzug verlebt! Viele, viele Stunden war er in dem neben ihr hergewandert, durch die Berge, durch die Wälder, durch die ganze schöne Gegend ringsum, durch die Natur, die er so liebte. Damals konnte sie ja noch gut wandern; er hatte immer gesagt: »Meine Frau ist gar nicht müde zu kriegen.« Ja, damals, damals! Sie stiess einen Seufzer aus. Und dann atmete sie gierig, sie spürte ihn förmlich, den Geruch der Glückseligkeit, der von diesem Anzug aufstieg. Den Kampherduft roch sie nicht mehr, nur freie Luft des höchsten Berges, auf den sie damals gestiegen waren, auf dessen Gipfel sie sassen, dicht nebeneinander im grünen Gras, Ausblick hielten über weite Höhen, auf deren Scheitel Dörfer sich sonnten mit bunten Feldern rundum. Sahen hinab in Täler voll Buchen und Tannen, ein Wildbach durch schlängelte sie mit weissblinkendem Band, sahen weiter hinaus, ganz weit in selige blaue Fernen, wo am Fluss das Heim ihnen stand, wo sie ihr Glück gegründet hatten so felsenfest. Und diese Joppe sollte Hans-Helmut nun tragen?! Nur um weniges wohl brauchte sie enger gemacht zu werden, ihrem Mann war sie knapp gewesen und er war nicht gross gewesen und noch jünglingsschlank. Mit beiden Händen fasste die Witwe die Joppe, hielt sie sich vors Gesicht und weinte hinein.
Dann kramte sie weiter; da war noch allerlei. Sein schwarzer Anzug, der feierliche, den er angehabt hatte zur Trauung, der war nicht dabei, in dem war er getragen worden zur letzten Feier. Doch da war ja noch das Samtjacket! Sie hatte es ihm geschenkt zur letzten Weihnacht, er fand es so schön, ein Samtjacket in der Sprechstunde; er hatte es kaum mehr getragen. Ob sie das wohl dem Baron anbieten durfte? Er trug immer dieselbe alte verschlissene Litewka. Für sich selber mochte er nicht gern etwas ausgeben. Wenn sie vorwurfsvoll sagte: »Aber Herr Baron, Ihre Hemden, Ihre Strümpfe! Sie müssten wohl bald daran denken, einiges zu erneuern,« pflegte er etwas unwirsch zu werden: »Sind für mich lange gut.« Sie ahnte, dass er sparte — sparte für Hans-Helmut. Hatte er doch erst neulich gesagt: »Das wird viel Geld kosten, wenn der Junge zur Universität kommt. Aber wir werden’s bis dahin schon beisammen haben — nicht wahr, Hans-Hänschen?« Er pflegte immer Hans-Hänschen zu sagen, wenn er guter Laune war. Er hatte dabei dem Knaben den Arm um die Schultern gelegt und ihn an sich gezogen. O Gott, wie gut war dieser Mann! Und Hilde Arndt weinte wieder in einer seltsamen Erschütterung, von der sie nicht wusste, ob sie dem Toten galt oder dem Lebenden. — — —
Als Hans-Helmut zum erstenmal in seines Vaters Anzug ging, kam er sich plötzlich um vieles älter vor. Dass es den kleinen Jungen auf der Strasse Spass machte, den Kreisel zu schlagen, solch ein kindisches Spiel! Aber als ihm so ein Kreisel, ein buntes Ding mit einem blanken Messingnagel darin, vor den Füssen tanzte, dann umfiel, und ein kleiner Knirps sich mit ungeschickten Peitschenhieben bemühte, ihn zu neuem Tanzen anzutreiben, hätte er am liebsten dem Kind die Peitsche aus der Hand genommen und gezeigt: so macht man’s. —
»Jesses, wat wächst der Jung!« sagte die Kaspers. Sie kam noch immer ins Haus, aber sie war unlustig zur Arbeit. Ihr Gesicht, das einstmals recht hübsch gewesen sein mochte, war auseinandergelaufen wie ein mit zuviel Hefe gebackener Kuchenfladen. Das Doppelkinn hing ihr auf die Brust und die Brust auf den Bauch. Nachbarinnen, die ihr nicht wohlgesinnt waren, behaupteten, sie leiste ihrem Mann im Trinken Gesellschaft. Der war öfter betrunken als nüchtern. Hanni und Peter machten auch nicht viel Freude,