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Zeitstrukturen


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Schlaf entzieht und dadurch den eigenen zirkadianen Rhythmus stört oder indem man seine eigenen zeitlichen Grenzen durch fortwährende Beschleunigung der Arbeitsabläufe oder durch zu hohe Lebensgeschwindigkeit missachtet. Über seine innere leiblich festgelegte Zeit kann man nicht grenzenlos verfügen, denn niemand hat sie sich selbst gegeben, vielmehr wird sie einem gewährt. Selbst wenn jemand Suizid verübt, tut er dies in der Zeit, die er sich, wenn er seinem Leben ein Ende gesetzt hat, nicht wieder zurückgeben kann. Die Eigenzeit, die jemandem gegeben ist, ist zugleich jene Zeit, die ihn er selbst sein lässt. Denn ohne sie könnte niemand weder sich noch sein Leben vollziehen, weil dieses keinen Entfaltungshorizont vorfände. Das bedeutet, dass individuelle Zeit je eigenes und unverwechselbares Dasein erst ermöglicht.17 Die eigene Zeit bleibt also nicht bloß in ihrer leiblichen Struktur unverfügbar, sondern auch in dem Sinn, dass sie sich als jene Zeit, die einem zu leben erlaubt, dem Zugriff auf sie und der Verfügungsmacht über sie entzieht. Zugleich und nicht in Widerspruch dazu ist sie einem aber auch aufgegeben, was bedeutet, dass jeder Mensch sein Leben und seine Zeit zu gestalten hat, die ihm für dieses sein Leben zur Verfügung steht. Wenn zu leben heißt, sich zu zeitigen – sowohl im passiven Sinn des Älterwerdens als auch im aktiven Sinn der Lebensführung –, dann ist nicht nur das eigene Leben zu gestalten, sondern auch die eigene Zeit zu strukturieren.

      Bei den Entscheidungen darüber, wie man die eigene Biografie formen möchte, ist man zwar selbst in gewissem Sinn sein eigenes Gegenüber, weil man über sich und das Kommende reflektiert und urteilt. Aber es ist nicht zu übersehen, dass man dabei nicht so zu sich in Distanz steht, wie wenn man die Zeit eines oder einer anderen gestaltete. Vielmehr ist jede Person so sehr an den eigenen Leib als das Ausdrucksmedium ihrer selbst gebunden, dass sie dann, wenn sie ihre Lebenszeit gestaltet, auch sich selbst formt. Die Zeit, die einem zu strukturieren vorgegeben ist, ist also jene Zeit, in der man sein Leben und in der Folge sich selbst gestaltet. In der Strukturierung von Zeit geht es offenkundig nicht bloß um die Ordnung externer Lebensbereiche, sondern auch um die Formung von einem selbst. Mir ist gegeben, daran mitzubestimmen, wer ich einmal sein werde und zugleich gewesen sein werde. Meiner Zeit Struktur zu geben bedeutet also, mir selbst Struktur zu geben.

      In der Zeit zu leben meint in zwischenmenschlichen Belangen nicht nur – wie anfangs beschrieben –, quantifizierbare Zeit so in Dienst zu nehmen, dass man mit der Hilfe von Uhren das Zusammenleben funktional gestalten kann. Zusammenleben heißt dann, wenn man die jeweilige Eigenzeit ernst nimmt, auch, diese zu teilen. Hat jemand für einen anderen Menschen Zeit, ist er für diesen da und stellt sich ihm zur Verfügung. Jemandem Zeit zu schenken bedeutet also, sich selbst zu schenken. Sofern diese Zeit zwar meine ist, ich sie aber teile, gebe ich anderen an meinem Leben Anteil und lasse sie über mich selbst verfügen. Insofern ich mich in der Zeit, die ich zur Verfügung stelle, selbst zeitige bzw. zugleich von anderen gezeitigt werde, verschränken sich personale Zeiten. Ich nehme auch an der Zeit des oder der anderen Anteil. Umgekehrt gewährt er oder sie mir nicht nur gemeinsame Zeit, sondern lässt mich auch an seinem oder ihrem Leben teilnehmen. Im Unterschied zur Verallgemeinerung von Zeit durch Metrisierung und Normierung steht in der Begegnung folglich personale Zeit im Mittelpunkt. Es sind Menschen namentlich involviert, die dadurch, dass sie Zeit gemeinsam verbringen, diese in ihrer personalen, individuellen und Qualitäten einschließenden Form in Anspruch nehmen und dadurch ihrer Lebenszeit sowie ihren Biografien Gestalt und Struktur geben.

      Alister Cox sieht sich am Ende von Ransmayrs Roman durch den chinesischen Kaiser gezwungen, eine Uhr für die Ewigkeit zu bauen. Er gerät mit diesem Auftrag aber in eine Aporie: Der Kaiser hat ihm zwar diesen Auftrag erteilt, würde es aber nicht tolerieren können, wenn das geforderte perpetuum mobile die Zeit über seinen eigenen Tod hinaus messen könnte, weil er sich selbst nicht nur als Herrscher über Himmel und Erde versteht, sondern auch über die Zeit regieren möchte. Es treffen chronometrische und personale Zeit aufeinander. Uhrzeit erweist sich zwar als scheinbar grenzenlos, des Menschen Zeit erschöpft sich aber nicht in der bloßen Dauer. Es scheint so, als sei Cox genötigt, Ewigkeit zu strukturieren. Doch wie soll dieses Unterfangen gelingen?

      Der Autor: Reinhold Esterbauer, geb. 1963, Dr. phil., Dr. theol., Prof. für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz. Publikationen zum Thema: Reinhold Esterbauer / Andrea Paletta / Philipp Schmidt / David Duncan (Hg.), Bodytime. Leib und Zeit bei Burnout und in anderen Grenzerfahrungen, Freiburg i. Br. 2016; Reinhold Esterbauer / Andrea Paletta / Julia Meer (Hg.), Der Leib und seine Zeit. Temporale Prozesse des Körpers und deren Dysregulationen im Burnout und bei anderen Leiberfahrungen, Freiburg i. Br. 2019. GDN: 1065525885; ORCID: https://orcid.org/0000-0003-2743-3626.

      Weiterführende Literatur:

      – Walther Ch. Zimmerli / Mike Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie (WBG-Bibliothek), Darmstadt 2016. Der Band enthält philosophische Beiträge zur Philosophie der Zeit, vornehmlich aus dem 20. Jahrhundert. Er gewährt einen guten ersten Überblick über unterschiedliche, zum Teil kontroversielle Ansätze.

      – Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Mit den Texten aus der Erstausgabe und dem Nachlaß. Mit einer Einleitung hg. von Rudolf Bernet (Philosophische Bibliothek 649), Hamburg 2013. Der Basistext aus dem Jahr 1928 ist ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der phänomenologischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Zeit. In dieser Ausgabe findet man darüber hinaus Ergänzungen, Beilagen und weitere Überlegungen von Husserl über die Zeit.

      – Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg i. Br. 2014. Schmitz, der als Begründer der „Neuen Phänomenologie“ gilt, stellt in diesem Buch seinen eigenen Ansatz vor, kommt aber auch auf Aporien der Zeitphilosophie zu sprechen und interpretiert einige klassische Ansätze.

      1 Vgl. Christoph Ransmayr, Cox oder Der Lauf der Zeit. Roman (Fischer TB 19663), Frankfurt a. M. 2016, 83 f.

      2 Europäische Kommission, Lage der Union 2018: Fragen und Antworten zum Vorschlag der Kommission, die jahreszeitlich bedingten Zeitumstellungen abzuschaffen (12.09.2018), online: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/MEMO_18_5641 [Abruf: 01.09.2020].

      3 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917) (Husserliana X), Den Haag 1966, 29–31.

      4 Vgl. ebd., 29: „Der Ton setzt ein, und stetig setzt ,er‘ sich fort. Das Ton-Jetzt wandelt sich in Ton-Gewesen, das impressionale Bewußtsein geht ständig fließend über in immer neues retentionales Bewußtsein. Dem Fluß entlang oder mit ihm gehend, haben wir eine stetige zum Einsatzpunkt gehörige Reihe von Retentionen. Überdies jedoch schattet sich jeder frühere Punkt dieser Reihe als ein Jetzt wiederum ab im Sinne der Retention.“ (Hervorh. im Orig.)

      5 Vgl. ebd., 35: „Jeweils ist immer ein Ton (bzw. eine Tonphase) im Jetztpunkt. Die vorangegangenen sind aber nicht aus dem Bewußtsein ausgelöscht. Mit der Auffassung des jetzt erscheinenden, gleichsam jetzt gehörten Tones verschmilzt die primäre Erinnerung an die soeben gleichsam gehörten Töne und die Erwartung (Protention) der ausstehenden.“

      6 Z. B. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hg. u. eingel. v. Stephan Strasser (Husserliana I), Den Haag 21963, 112. Der Leib ist deshalb nach Husserl „in grundwesentlich anderer Weise nach gegenständlichem Sinn charakterisiert und phänomenologisch konstituiert, [sic] wie andere Dinge“. (Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926. Hg. v. Margot Fleischer [Husserliana XI], Den Haag 1966, 299).

      7 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus d. Franz. übers. u. eingeführt